Verbaut
Prolog: Das leere Haus (Vor einigen Wochen)
Seine Schritte hallten laut wider in den leeren Räumen, auch wenn er sich bemühte, leise aufzutreten. Er schlich von Raum zu Raum, leere Wände, auf denen sich noch nicht einmal die Umrisse der einst an ihnen stehenden Möbel abzeichneten. Zu kurz hatten sie hier gelebt, hatten ihre Stimmen und ihr Lachen die Räume mit Leben gefüllt. Am Fenster zum Garten blieb er stehen und blickte auf das Grundstück runter, das sich unter ihm ausbreitete, auf den Schwimmteich, den sie im letzten Sommer das letzte Mal genutzt hatten. Schloss er seine Augen, meinte er, seine Mädels in Badeanzügen plantschen und schwimmen zu sehen, aufmerksam beaufsichtigt von ihrer Mutter, seiner Frau. Er glaubte sogar, ihre Stimmen zu hören, wenn er sich konzentrierte. Dann öffnete er seine Augen wieder. Der Garten war leer. Wie hinter einem Schleier sah er verschwommen eine Ente auf dem Teich ihre Bahn ziehen.
Schon bald werden andere Kinder, andere Eltern den Garten und das Haus füllen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Es war vorbei. Das Haus war verkauft, seine Frau mit den Töchtern schon vor längerer Zeit ausgezogen. Und nun war der Tag gekommen, an dem auch er der Vergangenheit den Rücken kehren würde. Es fiel ihm schwer, sich loszureißen. Aber eine Stimme, die Stimme der Vernunft, versuchte, auf ihn einzureden. Ja, und sie hatte Recht. Das Haus war für ihn alleine viel zu groß und außerdem finanziell nicht tragbar. Und es erinnerte ihn in jeder Ecke an die glücklichen Zeiten, die sie hier verlebt hatten und die jetzt ein für alle Mal vorbei waren. Nein, es war besser, an einen Neuanfang auch für ihn zu denken. Von ihm unbemerkt, löste sich eine Träne und rann ihm über das Gesicht, bis er ihren salzigen Geschmack auf seinen Lippen schmeckte. Er regte sich nicht vom Fenster weg, auch als er die Haustür unten ins Schloss fallen hörte. Erst als er eine Stimme hinter sich wahrnahm, wurde er wieder in die Gegenwart geholt. „Semir?“
Ben Jäger war gekommen, um seinem Freund beim Umzug zu helfen. Er hatte einen geliehenen Transporter rückwärts auf die Auffahrt gestellt, die Türen geöffnet und das Haus betreten. Als er Semir im Erdgeschoss nicht antreffen konnte, war er ins Obergeschoss gestiegen und fand ihn in Aydas ehemaligen Kinderzimmer am Fenster stehen, ganz in Gedanken versunken. „Semir“, wiederholte er seine Ansprache von vorhin und trat hinter seinen ehemaligen Partner. Er merkte, dass dieser gerade Zuwendung brauchte. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Hey komm. Lass es nicht zu, dass es dich zu sehr quält, blick nach vorn. Der Umzug wird dir gut tun. Ich werde dir heute Abend die Vorzüge einer Innenstadtwohnung zeigen. Sind hier oben noch Sachen, die mit müssen?“ – „Nein. Alles unten.“ Semir rührte sich allerdings noch nicht von seinem Platz. „Dann können wir ja gleich starten, was ist das Schwerste?“ Ben war voller Tatendrang und hoffte, Semir mit seiner Stimmung anzustecken. Während er noch sprach, ging er schon voraus die Treppe runter. Semir gab sich einen Ruck und ging hinterher. „Die Waschmaschine!“ – „Dann fangen wir damit an“, beschloss Ben, „je eher wir hier fertig sind, desto eher sitzen wir beim Bier.“
In den nächsten drei Stunden füllte sich der Transporter mit Möbeln und Kartons, und sie waren bereit zur Abfahrt. Nach einem letzten Kontrollgang, ob er auch nichts vergessen hatte, schloss Semir ein letztes Mal seine Haustür zu und steckte den Schlüssel ein. „Wann ist die Übergabe?“, fragte Ben. „Nächsten Mittwoch, 15:00 Uhr“, antwortete Semir. „Ich werde da sein“, sagte Ben ihm zu, denn das wird wieder kein leichter Tag für Semir werden.
Semir hatte sich in der Kölner Altstadt, nicht weit von Rhein und Fußgängerzone eine 3-Zimmer-Wohnung gemietet, unterm Dach mit einer kleinen Dachterrasse. Ben war sichtlich angetan von der Raumaufteilung. Es gab ein großes helles Wohnzimmer mit Zugang zu eben dieser Terrasse und zwei kleinere Zimmer mit schrägen Wänden. „Wie willst du dich einrichten? Sofa dort, Fernseher dort?“ – „Egal, so wie es gerade passt.“ – „Und welches wird das Kinderzimmer?“ – „Das größere von den beiden, ich selbst brauche nicht soviel Platz“, antwortete Semir gleichgültig. Er konnte die Begeisterung seines Freundes noch nicht recht teilen. „Hey, das Bad ist ja riesig, hier passt ja sogar die Waschmaschine rein! In welchem Stock waren wir noch mal?“
Ja, die Waschmaschine war der krönende Abschluss ihrer Schlepperei, aber dann war alles an Ort und Stelle. „So, fang du schon mal an mit dem Aufbau deiner Möbel, ich fahre den Transporter weg und dann helfe ich dir. Und heute Abend erkunden wir die Gegend, ich will doch mal sehen, wo du hingezogen bist.“ Semir zuckte nur mit den Schultern, hatte aber auch schon den Akkuschrauber in der Hand. „Nun guck nicht so, Semir. Wir kriegen das hin. Ich bin doch da, und wenn es hier erst einmal eingerichtet ist, geht es dir schon viel besser. Denk daran: Nächstes Wochenende kommen Ayda und Lilly, und die erwarten ein schick eingerichtetes Kinderzimmer. Also ran an die Arbeit. Das lenkt dich auch ab.“ Er gab Semir einen aufmunternden Klaps auf die Schulter und wandte sich zum Gehen. „Ich bin in einer Stunde zurück, und wenn sich hier dann nichts getan hat, zahlst du nachher die Rechnung!“ Damit war Ben im Treppenhaus verschwunden.