Am Anwesen
Unterdessen trafen Alex und Semir an der Bushaltestelle Forsthaus ein und Alex verlangsamte die Fahrt. „Hier muss Ayda entlang gegangen sein“, meinte Semir und fügte angesichts der unbeleuchteten Landstraße, der beiderseitigen Gräben und dem dahinter liegendem Wald ein „Ich mag gar nicht daran denken“ hinzu.
Alex ließ den Mercedes langsamer rollen, und beide Männer schauten angestrengt aus den Seitenfenstern. „Da!“, rief Semir plötzlich und wies auf ein Haus, das am Waldrand stand, „da ist das Haus mit dem Turm. Stell den Wagen hier oben ab, wir gehen zu Fuß weiter.“ Alex parkte seinen Dienstwagen, stieg aus und ging zum Kofferraum. Er reichte Semir, der sich zu ihm gesellt hatte, eine der schutzsicheren Westen, die sie sich jetzt beide unter den Jacken anzogen. Das war zwar etwas eng, aber die leuchtende Aufschrift „Polizei“ auf dem Rücken könnte sich bei dieser Aktion als kontraproduktiv erweisen.
Semir blickte zu dem Haus mit dem runden Anbau, und jetzt erkannte auch er, warum der Turm Ayda an einen Leuchtturm erinnert hatte. Er war etwa 15m hoch und hatte einen auffallenden weißen Streifen auf dem ansonsten braun-grauen Betonputz. Kleine LED-Lämpchen erhellten den Turm etwas, so dass die Farbe auch nachts zu sehen war. Alex und Semir machten sich auf den Weg in den Wald. Wie bereits auf dem Foto im Internet zu erkennen gewesen war, war der Waldweg mit einer Schranke gesichert, die aus einem Baumstamm, etwa 20cm im Durchmesser, bestand, welcher auf der einen Seite fest in einer Halterung befestigt war und auf der anderen Seite lose auflag, hier aber mit einem Vorhängeschloss gegen unberechtigte Zufahrten zum Wald gesichert war.
Etwa 1,5 km von der Straße entfernt, erkannten sie ein niedriges Steinhäuschen, welches sich beim Näherkommen als zwei Häuser herausstellte. Denn der linke Teil entpuppte sich als eigenständiges Haus, nicht als Anbau, für den Semir es zunächst hielt. Alex und Semir umrundeten das Anwesen innerhalb der Deckung durch Büsche und Bäume. Dann riss Alex, der zwei Schritte hinter seinem Partner lief, Semir plötzlich auf den Waldboden. „Runter!“, zischte er, „da ist jemand!“
Im Gebüsch versteckt beobachteten die beiden Polizisten, was auf dem Anwesen vor sich ging. Eine Wache schlenderte über die Waldlichtung und näherte sich dem größeren der beiden Gebäude, das gerade von einem anderen Mann verlassen wurde, der ein Tablett in den Händen hielt, auf dem sich drei Becher, eine Kanne, sowie mehrere Kunststoffdosen befanden. „Frühstück“, flüsterte Alex. Semir nickte zustimmend. Die Männer unterhielten sich leise, dann ging der mit dem Tablett weiter in Richtung des kleinen Gebäudes und der andere setzte seinen Rundgang fort.
„Spätestens gleich werden sie wissen, dass Ayda nicht mehr da hier ist und schlagen Alarm. Wir müssen eingreifen“, meinte Semir. Alex nickte. „Ich könnte die eine Wache ausschalten“, meinte er, „und du holst Andrea und Lilly aus der anderen Hütte. Es muss lautlos geschehen, und gleichzeitig, sie dürfen sich nicht gegenseitig warnen.“
Alex wartete nicht erst die Antwort von Semir ab, sondern erhob sich und lief in gebückter Haltung auf die Lichtung, um hinter einem Stapel Feuerholz Deckung zu suchen. Mit dem Rücken an die Holzscheite gepresst, ging er einige Schritte zur Seite und lugte um die Ecke. Sein Gegner war nur etwa vier Schritte von ihm entfernt.
Semir legte noch einige Meter in den Büschen zurück, bis er den kürzesten Weg zu der Hütte hatte, in der sie Andrea und Lilly vermuteten. Er lehnte sich an die Hüttenwand und atmete tief ein. Ein Blick nach oben zeigte ihm den Spalt, den Ayda angesprochen hatte. Die Mauer schloss nicht auf voller Länge mit dem Dach ab, sondern wies einen Abstand von dreißig Zentimetern auf. Das Dach ruhte lediglich auf einigen Holzbalken dieser Stärke. Als Semir um die Hausecke blickte, sah er, wie Alex sich dem Wachmann blitzschnell von hinten näherte, der Mann mit dem Tablett hatte die Hütte fast erreicht.
Semir machte sich bereit zum Angriff.