Ben und Andrea
Ben saß mit Andrea und ihren Kindern bei Konrad am Frühstückstisch. Andrea machte sich Sorgen. Robert wurde irgendwo festgehalten. Will Wilckens verhindern, dass Robert ihn verrät? Kann sie eigentlich noch länger mit diesem Mann zusammenleben, dessen ganzer Wohlstand aus einem Verbrechen stammt? Und muss Robert dafür womöglich ins Gefängnis? Möchte Sie ihre Kinder mit diesem Mann, der vielleicht einmal ihr Stiefvater hätte werden sollen, aufwachsen sehen? Und Semir, den sie wegen Robert verlassen hatte, tat jetzt alles, um Robert da rauszuholen, obwohl er den Mann hasste, was sie auch gut verstehen konnte. Er war Polizist durch und durch und würde auch Schwerverbrecher aus einer Geiselhaft befreien. Sie dachte zurück an den Freitag, als er mit Alex sie und Lilly früh morgens aus dieser Hütte befreite und dabei von zwei Kugeln getroffen wurde, die mit Sicherheit tödlich gewesen wären, hätte er keine kugelsichere Weste getragen. Wenn sie ihn nicht ständig mit seinem Job hätte teilen müssen, der in der Gunst um sie stets gewann, sie wäre bei ihm geblieben. Bei Gott, sie liebte ihn doch! Aber liebte sie auch Robert noch? Konnte sie einen Mann lieben, der auf diese Art straffällig geworden war? Ihm noch vertrauen? Ihm Semirs Kinder anvertrauen? Sie würde sich bald entscheiden müssen.
Konrad scherzte mit Ayda und Lilly, die Bens Vater schon in ihre kleinen Herzen geschlossen hatten. Und Ben kannte seinen Vater kaum wieder. War er doch so ein Familienmensch? Er versprach den Kindern, heute mit ihnen zu einem nahen Waldspielplatz zu gehen und die Kinder machten ihrer Freude darüber lautstark Luft. So war die eine Hälfte des Frühstückstisches von Nachdenklichkeit und Trübsal geprägt, die andere dagegen von Fröhlichkeit.
Dann klingelte Bens Handy. „Alex“, stand auf dem Display und Ben klickte auf den grünen Hörer. „Jäger“ – „Ben? Ich bin’s, Alex.“ Etwas lag in Alex Stimme, das Ben bewog, sich vom Tisch zu erheben und ins Nebenzimmer zu gehen, gefolgt von Andrea, die spürte, dass auch sie dieser Anruf betraf. „Ja, Alex. Habt ihr Robert gefunden“ – „Er ist tot, Ben.“ – „Was? Wer? Robert? Von wem redest du?“ Alex Stimme bebte, als er kurz schilderte, was sich zugetragen hatte. „Er hat es nicht geschafft, Ben. Das Haus ist gesprengt worden und er ist noch drin.“ – „Alex, wer?“ Ben traute sich kaum, den Namen auszusprechen. „Semir?“ Jetzt machte auch Andrea große Augen. „Ja. Semir ist verschüttet. Es gibt wohl keine Chance. Er hat Robert befreien können.“ – „Alex, das kann nicht sein. Ich spüre, dass er noch lebt. Läuft die Suchaktion bereits?“ – „Ja, Ben, THW, Feuerwehr, alles hier, die Bergung läuft.“ – „Sag nicht Bergung, Alex, sag Rettung!“ – „Sag mir, was los ist, Ben“, forderte nun Andrea, die heftig zu zittern begonnen hatte. Ben legte einen Arm um Andreas Schultern. „Alex! Gib mir die Adresse, wir sind unterwegs.“
Er sah versteinert auf Andrea. „Semir hat Robert befreien können, ist aber selbst im Haus geblieben, als dieses gesprengt wurde, er ist verschüttet und sie gehen davon aus, dass er nicht mehr am Leben -“ Seine Stimme brach, und Andrea und er fielen sich in die Arme. „Wir fahren hin, Andrea, ich will jetzt da sein.“ Andrea antwortete nicht. Hatte Ben eben noch ihr bebendes Schluchzen wahrgenommen, wurde sie jetzt plötzlich schwer in seinen Armen. „Andrea?“, fragte er leise. Sie war ohnmächtig geworden, und Ben hatte Mühe, sie zu dem Sofa an der gegenüber liegenden Wand zu bugsieren. Er ließ sie auf den Polstern nieder und legte auch ihre Beine hoch. Ben konnte die Nachricht von Alex noch immer nicht begreifen, das würde er erst, wenn er es mit seinen eigenen Augen gesehen hatte. Semir und er hatten ein Gespür füreinander, wussten, wenn einer von ihnen in Gefahr schwebte. Dieses Gefühl hatte Ben heute nicht. Sollte es sich etwa in der Zeit abgebaut haben, die sie nicht mehr zusammen arbeiteten? Er verwarf zunächst diesen Gedanken. Er musste sich um Andrea kümmern. Ben schluckte den sich bildenden Kloß im Hals runter, wischte sich die ersten Tränen aus den Augen und ging zur Esszimmertür. Sofort hatte er die Blicke seines Vaters auf seinem Gesicht, der ihn fragend ansah.
„Kannst du mal ein Glas Wasser für Andrea holen, Papa?“ – „Ja, natürlich, warum?“ Konrad war schon aufgestanden und ging in Richtung Küche. „Was ist mit Mama?“, kam Aydas Frage aus der Zimmerecke, in der sie mit Lilly spielte. „Alles gut, ihr ist nur etwas schwindelig geworden. Spiel ruhig weiter, Ayda.“ Das sensible Mädchen schüttelte ihren Kopf, spielte jedoch weiter mit ihrer kleinen Schwester, sie war jedoch nur noch halbherzig und unkonzentriert bei der Sache. Irgendwie klang Ben nicht wie sonst. Und Mama ging es nicht gut? Sie hielt es nur noch wenige Minuten aus, dann stand sie auf und ging zum Durchgang zum Nebenzimmer, wo Andrea jetzt zwar völlig aufgelöst aber zumindest aufrecht auf dem Sofa saß und an dem von Konrad gereichten Wasserglas nippte. „Ben, ist es ganz sicher, dass er tot ist?“
Ayda hatten sie noch nicht entdeckt, daher fuhren sie entsetzt herum, als eine Mädchenstimme von der Tür her fragte: „Wer ist tot, Mama?“