Autobahn - 10:30 Uhr
Es war wie eine Art Strafe, auch wenn sie unausgesprochen blieb... aber beide Polizisten fassten den Blick der Chefin, als sie dem rollenden Bett mit der verletzten Jenny folgte, gleichermaßen auf, ohne sich abzusprechen. Kümmern sie sich um ihren verdammten Job, ich kümmere mich um Jenny. Wortlos mit versteinerten Mienen verließen Kevin und Ben das Krankenhaus. Der Polizist mit dem Wuschelkopf, der seinen Puls und sein Adrenalin wieder unter Kontrolle hatte, hatte plötzlich ein unheimlich schlechtes Gewissen seinem Partner gegenüber, für die Art und Weise was er gerade eben gesagt hat... nein, ihm an den Kopf geworfen hat. Sorge um Jenny, eigene Angst, Schlafmangel... das alles vermischte sich zu einem explosiven Cocktail zusammen, der eben ausgebrochen war. Kevin dagegen war mehr erschüttert darüber, dass Ben eine Grenze überschritten hatte... Konfrontation mit seiner Vergangenheit. Er hätte es sich nicht träumen lassen, dass ein Freund in einem Streit auf derart unfaire Mittel zurückgreifen würde, wenn es darum ging, ihn zu provozieren. Dass die Chefin die "Drogendealer"-Bemerkung mitbekommen hat, war nur das Tüpfelchen auf dem I. Der junge Polizist konnte nur hoffen, dass sie der Bemerkung keinerlei Ernsthaftigkeit zumaß, und sie recht schnell wieder vergessen würde.
Die Atmosphäre im Mercedes, in den die beiden Kommissare stiegen, hätte keine Heizung dieser Welt aufwärmen können, obwohl es draussen immer schwüler und stickiger wurde. Kevin sah aus dem Seitenfenster, und würdigte seinem Nebenmann keines Blickes, der selbst sich allerdings nicht dazu aufraffen konnte, sich zu entschuldigen... zu frisch war die Wunde, die er Kevin zugefügt hatte, das wusste der Polizist selbst.
Ein Klingeln im Radio kündigte einen Anruf über die Freisprecheinrichtung an, als sie eine Zeitlang unterwegs waren. Ben war in gewisserweise dankbar für die Unterbrechung der unangenehmen Stille und nahm das Gespräch über eine Einrichtung am Lenkrad an. Am Display im Radio konnte er die Handynummer der Chefin erkennen. "Ja?", fragte Ben hastig, als er abnahm, weil er aufgeregt war ob Anna Engelhard gute oder schlechte Nachrichten über Jenny hatte. Die Stimme klang jedenfalls positiv. "Gute Nachrichten, meine Herren. Frau Dorn hatte riesiges Glück. Offenbar wurde die Kugel von einem Teil der Weste noch absorbiert und hat deswegen nur oberflächlichen Schaden an der Bauchdecke angerichtet. Es sind keine Organe verletzt, sie hat aber recht viel Blut verloren. Die Kugel hat man operativ entfernt." Das Aufatmen im Fahrzeug war sofort spürbar. "Was meinen sie damit, dass ein Teil der Weste die Kugel absorbiert hat?", fragte Ben dann genauer nach. "Der Arzt meinte, dass die Kugel eventuell die Kante erwischt hat, gebremst, aber nicht komplett gestoppt wurde. Nehmen sie die Weste und fahren sie zu Hartmut." Und nach einer kurzen Pause setzte sie, ebenfalls sehr erleichtert hinzu: "Wir haben verdammtes Glück gehabt. Aber das sollten wir nicht noch einmal herausfordern." Ein nachdrücklicher Fingerzeig an ihre beiden Beamten, den Kerl endlich zu fassen.
Die Chefin würde bei Jenny bleiben, bis diese aus der Narkose erwacht, damit sie nicht alleine war. Ben bedankte sich und beendete das Gespräch. "Puh... Gott sei Dank.", meinte er danach und schaute herüber zu Kevin, der sich während des Gespräches nicht einmal umgedreht hatte. Nur einmal bewegten sich die Augen in Richtung der Stimme aus dem Radio, und doch hatte er ganz genau zu gehört... ihm fiel ein Stein vom Herzen.
Dienststelle - 11:15 Uhr
Es war ein Zufall, dass das rothaarige Genie aus der KTU gerade bei seinen Freunden vorbeischauen wollte. Jedenfalls stand Hartmut gerade am Tisch von Hotte und Bonrath, und alle drei machten sorgenvolle Gesichter, als die beiden Polizisten eintraten. "Was ist mit Jenny?", fragte Hartmut sofort. Er hatte vor zwei Jahren einen kurzen, aber heftigen Flirt mit der jungen Streifenbeamtin gehabt, noch bevor sie zur Autobahnpolizei ging, und war dementsprechend persönlich betroffen. Ben wusste davon und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. "Es ist nicht so schlimm. Nur eine oberflächliche Verletzung, keine beschädigten Organe." Hartmut, aber auch die beiden Kollegen Hotte und Bonrath, sowie das ganze Revier, das die Nachricht mitbekommen hatte, atmete auf. "Gott sei Dank...", entfuhr es Herzberger, der mit seinem Partner gerade nicht in der Dienststelle war, als der Anschlag passierte.
Jennys Weste lag auf ihrem Schreibtisch, um den sich jetzt die drei Männer versammelten. Kevin wirkte abwesend und war noch stiller als sonst, und man konnte spüren, dass zwischen den beiden Partnern etwas nicht stimmte. Der dicke Polizist, der die Szenerie von seinem eigenen Schreibtisch beobachtete, hatte ein feines Gespür für solche zwischenmenschlichen Spannungen. "Lebenserfahrung", nannte er sowas immer schmunzelnd. "Schau dir mal die Weste an.", sagte Ben und reichte sie dem Leiter der KTU, der diese sorgfältig betrachtete. "Nicht schlecht...", sagte er anerkennend, und strich durch die halbrunde Beschädigung an der Sicherheitsweste. "Weit genug weg, dass die Kugel durchgekommen ist, aber weit genug drin, dass sie wenig Schaden angerichtet hat. Wenn das so geplant war..." Hartmuts Augen wanderten nach oben, von der Weste weg zu Ben hin. "Du meinst, das war so geplant?" Der Kommissar zuckte mit den Schultern. "Wer in einem fahrenden Auto mit drei Schüssen drei hauchdünne Gummimanschetten zerschiesst... es wäre ein irrer Zufall, wenn dieser Schuss nicht genauso geplant wäre." "Es wäre auch ein irrer Zufall, wenn er nicht so geplant gewesen wäre." entgegnete Hartmut ein wenig schnippisch. "Aus so einer Entfernung... mit einer normalen Pistole, einfach mal vermutet, bis wohin die Weste reicht..." Der rothaarige Mann wog den Kopf skeptisch hin und her. "Wenn er Jenny hätte töten wollen, hätte er ihr in den Kopf geschossen." gab Ben wiederrum zu bedenken. "Es war eine Warnung." Kevin äusserte sich zum ersten Mal nach über einer Stunde. "Das war kein Zufall..."
"Ben, Kevin, Hartmut... schaut mal hier.", rief Herzberger plötzlich und winkte die drei Männer heran. Er saß konzentriert an seinem Dienstrechner und blickte mit seiner kleinen Lesebrille auf den Monitor, als sich der Rest hinter ihm versammelte, auch Bonrath gesellte sich hinzu. Der dickliche Polizist hatte die Homepage der Tageszeitung Express geöffnet, auf der eine Eilmeldung über den Anschlag bei der Autobahnpolizei erschienen war. Ein findiger Fotograf hatte es sogar geschafft, einen Schnappschuss des Blutfleckes zu machen, der auf dem Asphalt vor dem Eingang gut zu sehen war. "Ja und? Das ist doch heute ganz normal, dass so schnell...", sagte Hartmut, und wollte gerade einen Vortrag über die Geschwindigkeit von News im Internet beginnen, als er von Hotte unterbrochen wurde. "Das meine ich doch gar nicht. Seht mal hier unten." Er scrollte unter den Artikel, wo Nutzer die Möglichkeit hatten, Kommentare zu dein jeweiligen Artikel abzugeben. Der zweite Kommentar war es, auf den Hotte hindeutete: "Da hatte die junge Frau aber Glück, dass die Kugel noch den Rand der Schutzweste getroffen hatte... :-)" Ben wurde es mulmig, Hartmut zog die Stirn in Falten und konnte erstmal nichts Besonderes an dem Kommentar feststellen. "Die Schutzweste wird im Artikel überhaupt nicht erwähnt.", sagte Kevin nachdenklich und blickte Hartmut an, bei dem der Groschen sofort fiel. "Zumindest kann nur der Killer davon ausgehen, dass es so war, wenn er auf die Kante spekuliert und gezielt hat... unabhängig davon, ob er nun recht hat oder nicht.", vollendete Ben. Auch Herzberger nickte. "Ich habe mir auch gleich gedacht... das ist der Typ. Er fordert uns damit heraus."
Ben blickte auf zu Hartmut. "Wir müssen wissen, wer das geschrieben hat." "Über die IP-Adresse des Absenders bekommt man das sicherlich raus.", sagte Hartmut sofort. "Wo wird die gespeichert?" Kevin war wieder aufgetaut, und wollte keine Zeit verlieren. "Beim Betreiber der Website... also in dem Fall wohl beim Express selbst." Sofort kam Bewegung in die beiden Männer, die sich zielstrebig und schnellen Schrittes zum Ausgang aus dem Büro bewegten. "Hey wartet!", rief Hartmut den beiden hinterher. "Dafür braucht ihr einen richterlichen Beschluss. Das kann sich Tage dauern, bis ihr dann die Info herauskriegt!" Wie angewurzelt blieben die beiden stehen, Ben sah Kevin an, der sofort den gleichen Gedanken hatte. Der junge Polizist ging mit ernstem Gesicht auf Hartmut zu, der erst ein wenig erschrak... er kannte den Mann ja noch nicht besonders gut, und besonders nett blickte der momentan auch nicht drein. Er packte das rothaarige Genie am Arm und zog ihn mit sich mit. "Scheiss auf den Beschluss.", raunte er ihm zu, als er ihn an Ben vorbeizog, der Hartmut auf die Schulter klopfte. "Komm schon, Einstein. Du kannst uns vielleicht helfen."