Playa del Inglés - 03:00 Uhr
Die beiden Männer waren nicht euphorisch, es war eine seltsame Stimmung als sie gemeinsam am Flughafen Palma de Mallorca auf den letzten Flieger zurück auf die Insel Gran Canaria warteten und später im Flugzeug saßen, wo sie ein spätes Abendessen einnahmen. Sie sprachen nicht viel miteinander, sie spürten aber in sich eine tiefe Erleichterung, und doch auch eine gewisse Weise der Ernüchterung. Sie hatten ihr Ziel erreicht... André war sich sicher, dass seine Zukunft aufgrund der manipulierten Bilder nicht mehr gefährdet war, allerdings kämpfte er nach wie vor mit seiner Vergangenheit. Diese konnte durch nichts ausgelöscht werden, er musste versuchen damit zu leben, diese 14 Jahre vergessen, verdrängen. Er war Frank einerseits dankbar für seine Hilfe, andererseits erkaufte er sich seine Fotos in Verbindung mit einem Mord von Frank an Charlie. Hin und wieder blickte der große Mann zu seinem Sitznachbarn im Flugzeug, als gerade die Schlafbeleuchtung eingeschaltet wurde, und auch wenn sich die beiden 14 Jahre lang nicht gesehen hatten... André konnte den Blick von Semir immer noch gut deuten. Vollends zufrieden war der kleine Polizist auch nicht, und André wusste auch genau warum.
Semir war Polizist mit Leib und Seele. Hätte er gekonnt, hätte er versucht Charlie festzunehmen, oder nach Franks Mord zumindest ihn... auch wenn er ihnen geholfen hatte. Der Kommissar kam schwer damit klar, einen Mörder einfach laufen zu lassen, auch wenn er sich immer wieder ins Gedächtnis rief, dass er hier kein Polizist sei. Er hatte sich selbst dazu entschieden, seinem Freund zu vertrauen, seinem Freund zu helfen... und das hatten sie geschafft.
Er war erleichtert, dass André ihm die Wahrheit gesagt hatte. Er wurde tatsächlich gezwungen, er wäre erschossen worden, wenn er selbst nicht abgedrückt hätte. So glaube er seinem Ex-Partner auch, dass das Opfer kein unschuldiger Mensch war, denn er schätzte André so ein, dass er dann zumindest sich nicht kampflos in dieses Schicksal gefügt hätte. Semir war selbst in dieser Situation, als seine Töchter und seine Frau Andrea gekidnappt wurden, und der Kidnapper verlangte, Ben zu erschiessen. Er konnte es damals nicht, in einer verzweifelten Situation richtete er die Waffe sogar gegen sich selbst. Aber der Polizist würde niemals überzeugend abstreiten, dass er in solch einer verzweifelten Situation, wenn es um seine, oder die Gesundheit von seiner Familie oder seiner Freunde ging, einen Vergewaltiger zu töten. Darüber dachte er nach, während das Flugzeug langsam in den Sinkflug, die Lichter verschiedener Ortschaften zu sehen waren, die am Meer lagen und auch die Landebahn bereits zu sehen, und einige Minuten später auch zu spüren war. "Du denkst über Frank nach, nicht wahr? Dass du ihn hast laufen lassen." André konnte die Gedanken seines Freundes mühelos erraten. Semir nickte, bevor das Flugzeug anhielt. "Ich bin Polizist, André. Ich bekomm die Gedanken nicht aus dem Kopf. Aber das wichtigste ist, dass du mir die Wahrheit gesagt hast, und du jetzt nichts mehr zu befürchten hast." André lächelte dankbar mit müden Augen.
Auf leisen Sohlen schlich Semir zu seinem Hotelzimmer. Draussen konnte er das leise Rauschen des Gartenwasserfalls hören, als er die Schlüsselkarte in den Schlitz steckte, und die Tür knarrend öffnete. Sofort ging das Licht im Zimmer an, und er beruhigte seine Frau sofort, bevor sie erschrak. "Ich bins, Schatz.", sagte er schnell, zog die Tür zu und kam zu seiner Frau ans Bett, die mit verschlafenen Augen aufrecht im Bett saß. "Wie siehst du schon wieder aus?", sagte sie ein wenig vorwurfsvoll, als sie Semirs Schrammen im Gesicht sah, was sie allerdings wenig überraschte. Trotzdem schlang sie sofort die Arme um ihren Mann, gab ihm einen Kuss und freute sich, dass er wieder da war... gesund und munter. Und anhand seines Gesichtsausdrucks konnte sie erkennen, dass die Reise offenbar nicht unerfolgreich verlief. "Wie ist es gelaufen?", fragte sie, während Semir, müde wie er war, begann seine Klamotten auszuziehen. Er wog den Kopf hin und her... normalerweise hatte er keinerlei Geheimnisse vor seiner Frau, aber er erinnerte sich gerade an diesen Gänsehaut-Moment am Strand. "Unser Geheimnis" hatten sie beide gesagt und eingeschlagen, bevor sie die Fotos verbrannt hatten. "Es stimmte... André wurde bedroht.", sagte er ein wenig knapp. "Hast du die Originalbilder gesehen?" Semir nickte: "Ja. Und André hat nichts mehr zu befürchten." Der kleine Polizist lächelte seine Frau an, die dieses Lächeln erwiederte, als er nur im Shirt und Shorts unter die dünne Bettdecke schlüpfte und sich dicht an seine Frau kuschelte. Dabei strich sie über die Kratzer an seinen Händen... "Und was habt ihr so erlebt?" "Ach, Schatz...", seufzte er dabei und grinste: "Das, was ich immer erlebe, wenn ich mal wieder jemanden retten muss." Es klang lustig und gleichzeitig ironisch, es steckte die Wahrheit dahinter, die Andrea verstand, und war doch eine Lüge weil André ihn letztendlich retten musste. Es dauerte nicht lange, bis Semir in den Armen seiner Frau erschöpft einschlief.
Ben's Wohnung - gleiche Zeit
Ben hatte die Bettdecke auf den Boden geworfen. Er hatte das Gefühl, dass dünne Tuch sei bleischwer auf seinem Körper, es brachte ihn zum Schwitzen obwohl sich die Luft durch das Unwetter abgekühlt hatte. Zuviele Eindrücke lagen auf diesem Tag, zuviele Bilder schwirrten durch seinen Kopf. Er lag im Bett, die Augen weit geöffnet, er drehte sich, wälzte sich und konnte einfach kein Auge zu tun. Jedesmal kamen ihm Bilder von einem kaputten Auto in den Sinn, von Metall und Blech, das sich um seinen Körper legte und ihm die Luft zum Atmen nahm.
Dann dachte er über Walter Trauscher nach... Über die beiden unglaublich ähnlichen Schicksalsschläge, die den Mann in solch eine Wahnsinnstat getrieben hatten. Sie hatten ihn noch weiter verhört, und beinahe unter Tränen hatte auch er erzählt, was sein Bruder bereits gesagt hatte. Später gestatteten sie Gregor Trauscher seinem älteren Bruder beizustehen, während dieser gestand. Der Unfall seines Sohnes hatte in seinem Kopf einen Schalter umgelegt, ein psychischen Druck zum Entladen gebracht, der sich über die Jahre aufgebaut hatte. Seine Eigenschaft als sehr guter Schütze und guter Autofahrer kamen ihm dabei entgegen. Er wollte als Rächer auftreten, als Rächer aller Autofahrer, die durch unvorsichtige Fußgänger psychischen oder physischen Schaden genommen hatten. Die Opfer waren zusammenhangslos, es hätte jeden an den Raststätten treffen können. Sein, scheinbar zufälliges, Treffen mit Kevin erklärte er mit der Provokation durch die Medien. Später würde ihn ein Psychologe sicherlich untersuchen, und entscheiden ob Trauscher ins Gefängnis muss, oder doch in eine Psychatrie. Jedenfalls hatte das ziellose Morden ein Motiv... und letztlich doch ein Rachemotiv, was die beiden Polizisten auf der Pressekonferenz noch ausgeschlossen hatten. Und Kevin konnte sich ein wenig in den Mann hinein versetzen.
All diese Gedanken hielten Ben wach... das Erlebnis in seinem völlig zerstörten Mercedes war dabei prägend in seinem Kopf. Morgen würde ein schwerer Tag vor ihm liegen... er wollte sich unbedingt mit Kevin aussprechen, und einen, für ihn, wichtigen Anruf tätigen.
Krankenhaus - 6:30 Uhr
Als die Neonbeleuchtung in Jennys Krankenzimmer aufblitzte, als die erste Krankenschwester zur ersten Visite des Tages hineinkam, staunte diese nicht schlecht. Auch Jenny, die langsam schlaftrunken die Augen öffnete konnte sich zwischen einem kurzen Schrecken und leiser Freude nicht so recht entscheiden, als die beiden Frauen auf drei zusammengeschobenen Stühlen den schlafenden Körper eines Mannes vorfanden. Kevin hatte den Kopf angelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine ausgestreckt über zwei weitere Stühle und überkreuzt. Es sah nicht nach einem erholsamen Schlaf aus, denn der Mann gerade hatte, und dass er so schon seit 4 Stunden da lag. Er hatte um halb drei, nachdem sie das Büro verließen und er noch alleine drei Stunden in einer Bar verbrachte ohne wirklich viel zu trinken, sich ins Krankenhaus aufgemacht um Jenny sofort heute morgen davon zu erzählen, dass sie den Killer geschnappt hatten. Dabei hatte er die beiden Beamten, die vor Jennys Tür postiert waren, nach Hause geschickt.
Jenny lächelte und war gerührt darüber, dass Kevin lieber die Nacht auf unbequemen Stühlen verbrachte als zu Hause in seinem Bett. Sie stand, noch etwas wackelig, auf und tapste barfuss zu den Stühlen, während die Krankenschwester sich, ebenfalls lächelnd, verzog. Sanft rüttelte das Mädchen an Kevins Schultern, der daraufhin ebenfalls erwachte, und Jenny anblickte. "Bist du schon wieder umgezogen?", fragte sie belustigt und behielt ihre Hand, rein zufällig, auf seiner Schulter, als sich der Mann langsam aufsetzte. "Ich hatte nach gestern einfach keine Lust, alleine zu schlafen.", meinte er mit einem recht müden Lächeln und machte Jenny Platz, damit sie sich auch setzen konnte. Sie wünschten sich einen guten Morgen, und dann erzählte der Polizist alles, was sich gestern nach seinem Besuch zugetragen hatte. Dabei ließ er den Streit zwischen Ben und ihm immer noch weg, genauso wie er es vermied seine Rolle bei Bens Betreuung heraus zu stellen.
Jenny war erstaunt über das Motiv des Mannes, und dass er Jennys Verletzung einfach so in Kauf genommen hatte um auf die Provokationen zu antworten. "Er wollte mich nicht töten?", fragte sie ungläubig. "Und was, wenn ich mich gerade in dem Moment wieder hingesetzt hätte?" Kevin zuckte mit den Schultern. "Rache macht krank, Jenny. Ich glaube nicht, dass der Mann in seinen Gedanken noch sehr rational gehandelt hat, auch wenn es von aussen den Eindruck machte." Was sich wie eine perfekte Ausbildung in Psychologie anhörte war in Wirklichkeit eigene Erfahrung von Seiten Kevin... und Jenny spürte das, als sie die Stimmlage hörte, mit der Kevin sprach und dabei in seine hellblauen Augen blickte. "Ja...", sagte sie nachdenklich und lehnte ihren Kopf an seine Schulter, als wäre es das Normalste von der Welt. Sie fühlte sich geborgen, wo sie hier doch so oft und viel alleine war, und sie war froh, dass diese potentielle Gefahr nun hinter Gitter war. "Und jetzt?", fragte sie wieder etwas vergnügter, und hoffnungsvoll setzte sie hinzu: "Bleibst du bei uns?" Kevin lächelte, aber es war ein eher bitteres Lächeln, denn er wusste was ihm wohl heute noch bevorstand: "Ich weiß es nicht..."