Semir hatte sein Wohnzimmer fertig gestrichen und auch schon wieder eingeräumt. Während er sich auf die Couch geschmissen und ein Bier aufgemacht hatte, räumte Andrea noch die letzten Sachen in die Regale. Plötzlich musste er an Ben denken. Wie es dem wohl ging? Obwohl ja eigentlich anzunehmen war, dass der sein freies Wochenende genoss und vermutlich jetzt am Samstagabend mit den Haug-Brüdern zusammen saß und spanische Spezialitäten mit dem einen oder anderen Glas Wein genoss, hatte Semir bei den Typen immer noch kein gutes Gefühl. Dann schalt er sich allerdings einen Narren-er immer mit seinen Gefühlen! Ben war schließlich auch Polizist mit einiger Erfahrung-vielleicht war er diesmal völlig auf dem falschen Dampfer-war da vielleicht sogar ein wenig Neid dabei, dass sein Freund ein neues Hobby hatte und es sich auch leisten konnte dem nach zu gehen? Für seine Kasse wäre es völlig unmöglich die noch zusätzlich zu belasten. Seine Finanzen waren so eingeteilt, dass mit Müh und Not einmal jährlich ein Familienurlaub rausschaute, aber sonst war sein finanzieller Spielraum knapp bemessen. Andrea arbeitete Teilzeit und die Raten fürs Haus waren nicht gering-wenn er, Semir, ein Autorennen würde fahren wollen, konnte er höchstens eine Carrerabahn dazu hernehmen, alles andere wäre utopisch! Nun war allerdings auch Andrea endlich fertig, sie bestellten noch eine Pizza und nach einer Dusche klang der Abend vor dem Fernseher aus.
Ben schlotterte inzwischen am ganzen Körper. So heiß es ihm den ganzen Tag in seinem Rennanzug gewesen war, desto kälter war ihm jetzt. Dabei verursachte ihm sogar das Muskelzittern große Schmerzen-eigentlich war es für ihn nur erträglich, wenn er völlig ruhig lag, aber sein Körper machte das mit dem Zittern völlig selbstständig, er konnte das überhaupt nicht verhindern. Seine Hände waren eiskalt und die feuchte Unterwäsche klebte klamm an seinem Körper. Was wohl Sarah und Tim gerade machten? Die schliefen sicher friedlich in einem Bett und freuten sich auf das Wiedersehen mit ihm heute Abend, ohne zu wissen, dass das nie mehr geschehen würde. Der Mond stand hell und eindrucksvoll am Himmel, gelegentlich hörte Ben ein leises Rascheln-da waren sicher irgendwelche Tiere unterwegs, die nur darauf warteten, dass es mit ihm vorbei war und sie sich an ihm gütlich tun konnten. Eigentlich konnte er nur hoffen, dass die wenigstens so lange warteten, bis er ganz tot war und ihn nicht bei lebendigem Leibe auffraßen! Wie sehr wünschte er sich, endlich in die Bewusstlosigkeit abzutauchen und kein Leid mehr zu spüren!
Wenn seine Lage nicht so völlig aussichtslos gewesen wäre, wäre die Stimmung in der Sahara einfach grandios gewesen. Die Sterne funkelten zum Greifen nah am klaren Himmel. In Deutschland war immer irgendwo in der Nähe eine Lichtquelle, eine Stadt oder sonst irgendwas, aber hier herrschte einfach völlige Schwärze, nur erhellt vom Mondlicht. Wieder glitten Ben´s Gedanken erst in die Vergangenheit zurück und versuchten dann in die Zukunft zu blicken. Wie würde das wohl werden im Jenseits? Waren da seine verflossenen Freundinnen wie Saskia und warteten auf ihn? Wie war das da mit den Gefühlen? Er hatte die alle sehr geliebt und war vor Kummer fast eingegangen, als die ermordet worden waren, aber mit der Zeit war der Schmerz leichter geworden und er hatte sich wieder neu verlieben können. Und jetzt seine Liebe zu Sarah, die die Krönung in einem gemeinsamen Kind gefunden hatte-würde die Sehnsucht immer bleiben? Würde er irgendwie Kontakt halten können, in ihren Träumen erscheinen und auf wundersame Weise vielleicht beobachten können, wie aus dem kleinen Tim ein stattlicher Mann heranwuchs? Voller Kummer, dass er durch seine Blödheit auch seinem Kind praktisch den Vater genommen hatte, fiel er wieder in eine leichte Bewusstlosigkeit zurück und spürte momentan keine Angst und keine Schmerzen mehr.
Der alte Hassan hatte vor Tau und Tag sein Lieblingskamel gesattelt. Er würde in die Wüste reiten und wie in alten Zeiten nach Brennholz suchen. Auch wenn man immer dachte, das sei unmöglich, wusste der alte Beduine, wo etwas zu finden war. Früher war das hier eine fruchtbare Gegend gewesen, bis die Sahara sich Kilometer um Kilometer Richtung Meer gefressen hatte. So mancher Brunnen war versiegt, aber das Altholz war teilweise immer noch zu finden, auch weil die Sandstürme immer wieder andere Ecken freilegten. Klar hatten sie in ihrer Wohnsiedlung, die in ein Felsmassiv gebaut war, inzwischen ein Stromaggregat, das mit Diesel befeuert wurde. Hassan allerdings kannte noch die Zeiten, als sie mit Kameldung geheizt und gekocht hatten, aber die waren lange vorbei. Seine Söhne fuhren Geländewagen, zu jeder Siedlung führte eine Piste und man kaufte ganz normal in Sousse ein und brachte die Waren nach Hause und legte sie dort in den Gaskühlschrank. Ihr Geld verdienten sie, indem sie Touristen beherbergten und unterhielten, die einmal sehen wollten, wie ein Einheimischer so lebte. Das hatte zwar heute für die Jungen nichts mehr mit der Realität zu tun, aber er trug seine traditionelle Kleidung noch voller Stolz, während die Jungen die anlegten wie ein Kostüm, wenn die Touristen kamen, aber sonst in Jeans und T-Shirt herumliefen.
Die Touristen die aus aller Herren Länder bei ihnen einfielen, wurden mit heißem Pfefferminztee und traditionellem Essen bekocht, dafür brauchte man auch das offene Feuer und Holz war teuer auf dem Markt-es selber zu suchen war wesentlich zufriedenstellender. Außerdem ritt man mit den Touristen dann immer eine Runde durch die Wüste, damit sie auch einmal das Feeling hatten, das seine Vorfahren in Jahrtausenden gepflegt hatten. Dazu mussten die Kamele allerdings brav sein, denn wenn da einmal ein Unfall passierte, weil ein Dromedar buckelnd davonraste und seine Reiter abwarf, dann war das vorbei mit diesem Einkommenszweig. Seine Söhne allerdings hatten da null Lust dazu die Tiere zu bewegen, was Hassan sehr verurteilte.
Jetzt war gerade keine Saison, die überwiegend westlichen Urlauber bereiteten sich auf ihr christliches Weihnachtsfest vor, die hatten anderes im Kopf, als einen Tunesienurlaub! Die Kamele waren da unterfordert und stellten nur Blödsinn an, wenn er sie nicht regelmäßig reiten würde. So stimmte er einen leichten Singsang an, wie er es häufig machte, wenn er durch die Wüste ritt und sich mit traumwandlerischer Sicherheit orientierte und genoss das beruhigende Schaukeln seines Reittiers, das motiviert die Nase hochhielt. Er forderte es sogar zu einem kleinen Galopp auf, was zwar unheimlich schnell war, aber er war sein Leben lang geritten und als Kinder hatten sie sogar noch Rennkamele gehabt und trainiert, die dann von den Vätern teuer an die Scheichs verkauft worden waren.
Nun veränderte sich allerdings gerade die Stimmung in der Wüste und sein Dromedar hob witternd den Kopf. Im Verlauf der nächsten Stunden würde ein Sandsturm kommen-er erkannte es an den Anzeichen und auch sein Reittier gab beunruhigte Laute von sich. Er würde das mit dem Brennholz für heute sein lassen und zusehen, dass er in seine Siedlung zurück kam, denn so ein Sandsturm war unheimlich gefährlich! Gerade wollte er abwenden, da sah er etwas in einiger Entfernung am Boden liegen.