Semir starrte immer noch verdutzt auf den Mann in der bekannten Oberbekleidung. Dann sagte er aufgeregt zu Khaled: „Frag ihn, wo er die Jacke her hat!“ und Khaled wandte sich an den Verwalter und überschüttete ihn mit einem Schwall arabischer Worte. Der schüttelte den Kopf, gab etwas zur Antwort und Khaled dolmetschte nun: „Er sagt, die habe er sich im Souk letztes Jahr gekauft!“ und nun war Semir mit einem Satz bei dem Mann, packte ihn vorne an der Jacke und drückte ihn mit dem Rücken an den Schneepflug. „Freundchen, erzähl uns mal keinen Scheiß!“ zischte er und schüttelte den dadurch verängstigten Verwalter ein wenig. Khaled sah seinen Freund überrascht an. Es war nicht notwendig Semir´s Worte zu übersetzen, die Szene war sozusagen selbsterklärend. Semir, dessen Züge vor Zorn verzerrt waren, strahlte eine dermaßen starke Aggression aus, dass dem Verwalter sonnenklar war, dass er jetzt etwas Falsches gesagt hatte. Semir ließ den Mann nun los, blieb aber immer noch drohend vor ihm stehen. Er wandte den Kopf zu Khaled und befahl: „Sag ihm, dass diese Jacke unverkennbar die meines Freundes ist, mit der ich ihn am Freitag zum Flughafen gefahren habe. Die hat einen Fleck am Ärmel, der dort erst hingekommen ist, als wir kurz vor der Abfertigungshalle standen und Ben dort ein wenig Cola verschüttet hat. Er hat sich noch deswegen geärgert und ich habe ihm gesagt, den würde Sarah schon wieder rausbringen und er fällt auch nicht sonderlich auf. Der Typ soll jetzt mal ganz schnell sagen wo Ben ist, sonst mache ich Hackfleisch aus ihm!“ erklärte er und Khaled nickte und übersetzte dem Mann Semir´s Worte.
Dann sagte der Verwalter etwas und nun versteinerte Khaled´s Miene und er wusste im ersten Augenblick nicht, wie er das seinem Jugendfreund beibringen sollte. „Semir-er sagt, dass Ben am Samstag beim Rennen verunglückt ist und er deshalb die Jacke hat!“ übersetzte er leise und nun starrte Semir die beiden anderen Männer voller Entsetzen an. „Frag ihn, in welchem Krankenhaus er liegt!“ forderte er rasch und nachdem Khaled wieder gedolmetscht hatte, schüttelte er langsam den Kopf. „Semir-er war so schwer verletzt, er ist nicht ins Krankenhaus gekommen!“ sagte er und nun veränderte sich Semir´s Körperhaltung.
Gerade hatte er sich noch drohend vor dem Verwalter aufgebaut, aber jetzt sank er regelrecht in sich zusammen. Das durfte-nein das konnte nicht wahr sein! Sollte ihn sein Bauchgefühl so getrogen haben? Er hatte immer diese Gewissheit in sich getragen, dass Ben noch lebte, aber jetzt erfuhr er sozusagen dessen Todesnachricht. Das konnte und durfte einfach nicht real sein! Ben war sein bester Freund, er hatte eine Familie, die sich darauf verließ, dass er ihnen den Partner und Vater wieder zurück brachte und jetzt sollte er sich an den Gedanken gewöhnen, dass der vielleicht nie mehr nach Hause kam? Allerdings hielt die Schwäche, die sich seiner Knie bemächtigt hatte, nur einen Augenblick an. Dann sagte er in einem ruhigeren aber deshalb nicht weniger gefährlichen Ton zu Khaled: „Bevor ich Ben´s Leiche nicht gesehen habe, glaube ich gar nichts! Der Typ soll uns erzählen, was am Samstag geschehen ist, sonst werden auch seine Kinder ohne Vater aufwachsen!“ sagte er mit einem Klang in der Stimme, der Khaled beinahe das Blut in den Adern gefrieren ließ. Auch der Verwalter hatte sichtlich Angst vor der Entschlossenheit, die Semir ausstrahlte und als nun die Übersetzung dazu kam, begann er beinahe zu weinen. Er lamentierte und mit einem Schwall arabischer Worte, von denen Semir nur den Namen Said Brami verstand, schilderte er Khaled, was am Samstag geschehen war.
Der hörte intensiv zu und übersetzte dann: „Der Mann sagt, dass Ben am Samstag mit einigen anderen hier ein Rennen gefahren ist, dabei kam es zu einem Unfall. Wie genau kann oder will er uns nicht schildern, auf jeden Fall hat er dann von seinem Chef-Said Brami- den Auftrag erhalten deinen Freund mit dem Quad in die Wüste zu bringen und alle Spuren zu beseitigen.“ erklärte er und nun stellte Semir die bange Frage, die ihm die ganze Zeit auf den Nägeln brannte: „War Ben da noch am Leben?“ fragte er leise und der Verwalter, der nun Angst hatte wegen Mordes angeklagt zu werden, denn Khaled hatte beiläufig erwähnt, dass Semir Polizist mit internationalen Verbindungen sei, gab zur Antwort: „Er war zwar schwer verletzt, aber ja-er hat noch gelebt, als ich ihn weggebracht habe!“ und nun richtete sich Semir zu voller Größe auf. „Dann soll er uns sofort zu der Stelle begleiten, wo er ihn hingebracht hat!“ befahl er und so kam es, dass wenig später Semir und Khaled und der Verwalter auf zwei Quads auf dem Weg in die Wüste waren. Der Verwalter fuhr voraus und Khaled auf dem Sozius klammerte sich an Semir fest, der das zweite Quad über den Sand lenkte.
Wenig später waren sie an dem Ort mitten in der Sahara, wo der Verwalter Ben abgelegt hatte. Zu sehen war dort allerdings nichts. Semir stieg ab und auch der Verwalter stellte sein Fahrzeug ab. „Semir, er sagt ab Sonntagmorgen hat hier ein schrecklicher Sandsturm geherrscht-Ben hatte keine Chance den zu überleben!“ übersetzte Khaled leise und Semir nickte zwar gedankenverloren, hatte aber dann mit einem raschen Griff in den Sand etwas gefunden: Ben´s Helm! Das Visier war von innen mit getrocknetem Blut verschmiert, aber als Semir ihn hochhob konnte man sehen, dass der Verschluss ordnungsgemäß geöffnet worden war. Semir begann nun voller Angst im Sand zu graben und die beiden anderen halfen ihm so gut sie konnten, aber zu Semir´s Erleichterung fanden sie nichts. Wieder hörte er in sich hinein-einen Augenblick hatte er gezweifelt, aber dann war er sich wieder ganz sicher: Ben lebte und brauchte dringend seine Hilfe! Er drehte sich zu seinem tunesischen Freund um. „Khaled-lass deine Kontakte spielen-wir brauchen Suchhunde hier-Ben muss irgendwo sein!“ und schon zückte Khaled sein Handy, um seinen Bruder anzurufen, der da sicher etwas organisieren konnte. Wenig später hatte er seinen Neffen am Apparat, der ihm nun die Nummer eines Bekannten gab, der hier in der Nähe lebte und tatsächlich Hunde hatte. Sein Name war Ismael.
Der Arzt im Krankenhaus hatte sich inzwischen widerwillig bequemt einen kurzen Blick auf Ben´s blau verfärbte Extremitäten zu werfen: „Gut-der Gips ist zu eng-bitte aufschneiden und umwickeln!“ befahl er und wandte sich sofort wieder zum Gehen. Eigentlich war es aber auch egal, der Mann vor ihm war dem Tode geweiht und würde sowieso nicht mehr lange genug leben, als dass ein zu enger Gips noch eine Rolle spielte. Aber er würde dem Ärger mit dem Pfleger so einfach aus dem Weg gehen. Weil er heute seinen sozialen Tag hatte, ordnete er dann noch an: „Und unsere Praktikantin soll ihm eine Infusion legen!“ denn an einem Ungläubigen konnte die junge Frau durchaus üben.