Sarah hatte nach dem Anruf des Notarztes neue Energie. Ihre Schwägerin hatte mit Sarah´s Bruder, dem sie die Lage kurz geschildert hatte abgeklärt, dass sie die nächsten Tage noch in Köln bleiben und auf Tim aufpassen würde, wenn Sarah Wichtigeres zu tun hatte. Der kleine Mann war sowieso begeistert bei der Sache mit dem Löffel zu essen und er nahm auch zwischendrin problemlos ein Fläschchen, so dass dieser Stressor für Sarah schon wegfiel, immer als Milchbar zur Verfügung zu stehen. Nachdem sie Frau Krüger vom Anruf des Notarztes informiert hatte, die ihrerseits erleichtert aufatmete und versprach, um 16.00 Uhr ebenfalls am Flughafen zu sein, koordinierte Sarah mit der Rettungsleitstelle den Einsatz der zwei geforderten Helikopter.
Für Yasser erging die Voranmeldung an das Kinderkrankenhaus in der Amsterdamer Straße und bei Ben war sowieso klar gewesen, dass er in die Uniklinik gebracht werden würde-dort war er schließlich schon bekannt und außerdem war das immer noch Sarah´s Arbeitgeber, auch wenn sie gerade in Elternzeit war. Während die größere Maschine, die natürlich auch schneller fliegen konnte, sich dem Kölner Flughafen näherte, war auch Brami´s Learjet auf dem Weg dahin und beinahe zeitgleich erbaten die beiden Flugzeuge vom Tower eine Landeerlaubnis. Der Ambulanzflieger wurde natürlich vorgezogen und während Brami´s Learjet noch eine Weile in der Luft kreiste, brachte der Pilot des ersten Flugzeugs die Maschine weich und ohne Erschütterungen herunter. Die beiden Helikopter, die ein wenig abseits auf ihren Einsatz gewartet hatten, flogen näher, kaum dass das Flugzeug zum Stehen gekommen war. Während die Spezialgangway ausgefahren wurde, kamen auch Frau Krüger, Sarah-die nur durch deren Polizeiausweis Zutritt zum Flugfeld erhalten hatte-und mehrere Beamte der Bundespolizei näher. Sie würden die Passagiere kontrollieren und dann entscheiden, was zu tun war. Allerdings war ihnen von ihrem Vorgesetzten eingeschärft worden, höchste Diskretion und Korrektheit an den Tag zu legen, da die Information, dass hier tunesische Staatsbürger, vermutlich ohne Papiere, ankommen würden, von oberster Stelle gekommen war.
Semir hatte während des ganzen restlichen Fluges seinen Platz an Ben´s Seite nicht mehr verlassen und besorgt dessen Blässe und den schnellen Herzschlag auf dem Monitor betrachtet. Kaum war die nächste Infusion durch gewesen, hatte der Notarzt erneut eine angehängt, ohne dass das eine merkliche Veränderung seines Zustands hervorrief. Ben schlief nicht wirklich, aber durch das Opiat, das man immer wieder nachspritzte und die Erschöpfung hatte er kaum Kraft zu sprechen und so hielt Semir seine Hand und hoffte inständig, dass sie bald in der Uniklinik wären. Andrea hatte er auch kurz verständigt, dass sie bald zuhause wären und die hatte erleichtert aufgeatmet. Auch Yasser´s Mutter hatte auf dem Sitz neben der anderen Intensiveinheit Platz genommen und hielt tränenüberströmt die Hand ihres schwer verletzten Sohnes und man ließ sie gerne gewähren, auch wenn Yasser tief sediert war. Trotzdem war für kranke Kinder die Anwesenheit der Mutter unheimlich wichtig. Der Notarzt hatte die Information erhalten, dass Yasser in die Amsterdamer Straße gebracht werden würde und Dr. Amami versprach, sie dorthin zu begleiten-ein Dolmetscher an ihrer Seite war unheimlich wichtig und außerdem hatte er Yasser ja mit operiert, er konnte also den behandelnden Kinderchirurgen dort am besten Auskunft geben.
Als sich die Gangway komplett nach unten gesenkt hatte, kam als Erster Khaled aus der Maschine spaziert. Sofort traten die Beamten der Bundespolizei zu ihm, um seine Papiere zu kontrollieren: „Freunde-das wäre nicht notwendig gewesen, dass ihr mir einen so großen Empfang bereitet!“ witzelte er und kramte seine Ausweispapiere hervor. Nun erschien auch schon Semir: „Mann-habt ihr nichts Wichtigeres zu tun, als meine Freunde zu drangsalieren!“ rief er ärgerlich, während er seinen Polizeiausweis hochhielt und die Chefin hob warnend die Hand: „Semir, die machen auch nur ihre Arbeit!“ sagte sie warnend und dann machten sie alle Platz für die Hubschraubernotärzte und eine Sarah, die nun nicht mehr zu halten war, die nun in die Maschine kletterten, um sich ihre neuen Patienten anzusehen. Im Gegenzug stiegen nun der Vater und die Kinder, sowie der verletzte Chauffeur aus. „Wir brauchen hier einen Rollstuhl!“ sagte die Chefin scharf, als sie sah, wie wacklig der ausgemergelte Mann auf den Beinen war. Nun holte einer der Beamten der Bundespolizei tatsächlich so ein Fahrzeug und während Khaled dolmetschte, stellten sie einige Fragen an den kranken Tunesier. Der Chauffeur hatte seinen Pass dabei, das war kein Problem, auch Dr. Amami konnte sich ausweisen und so wurden einfach und unbürokratisch die restlichen Mitglieder von Yasser´s Familie fotografiert, man schrieb den jeweiligen Namen unter das Foto und Kim Krüger versprach die Verantwortung für sie, während des Kölnaufenthalts zu übernehmen. „Das ist ein humanitärer Einsatz-diese Menschen sind keine Wirtschaftsflüchtlinge!“ beteuerte sie und hatte binnen Kurzem eine Schutzwohnung am Niehler Hafen, unweit des Kinderkrankenhauses als vorübergehendes Domizil für die Familie klar gemacht. Man organisierte ein Großraumtaxi und wenig später waren die Tunesier gemeinsam mit Khaled, aber ohne die Mutter schon unterwegs in die Wohnung, die von Dieter und Jenni inzwischen vorbereitet wurde.
Sarah war in das Flugzeug gestürzt und mit Tränen in den Augen zu Ben geeilt. Der hatte blass und erschöpft seine Augen geöffnet und ein erleichtertes Lächeln war über seine Züge geflogen, als er seine Sarah auf sich zukommen sah. Die musterte zwar kurz den Monitor, den Stiffneck, die Vakuummatratze und die Thoraxsaugung, aber dann beugte sie sich völlig unprofessionell, dafür aber unglaublich zärtlich über Ben und küsste ihn sanft. „Ich bin so froh, dass du da bist-jetzt wird alles gut werden!“ sagte sie und nun begannen auch Ben die Tränen der Rührung in die Augen zu schießen. Kaum bemerkten die beiden, wie der begleitende Notarzt dem Hubschrauberarzt Übergabe machte und mit ihm das Protokoll, das er während des Flugs angefertigt hatte durchging, zu sehr waren sie emotional miteinander verbunden. „Sarah wo ist Tim-und wie geht´s ihm?“ fragte Ben bang, denn die letzten Monate war sein Sohn entweder bei Sarah oder bei ihm gewesen. „Dem geht´s gut, meine Schwägerin passt auf ihn auf und er hat jetzt Gefallen an nem Fläschchen gefunden!“ erklärte Sarah und nun musste Ben ihr dringend mitteilen, was ihn die ganze Zeit schrecklich beschäftigte: „Sarah-ich spüre meine Beine nicht mehr und ich kann gut verstehen, wenn du keinen Krüppel wie mich mehr haben willst!“ flüsterte er, aber Sarah schimpfte nun mit ihm, während sich seine Trage schon in Bewegung setzte: „Ich liebe dich, ob gehend oder im Rollstuhl-wir kriegen das Schatz!“ beschwor sie ihn und musste dann kurz zur Seite treten, um die Umlagerung mitsamt Vakuummatratze auf die Hubschraubertrage, die auf dem Rollfeld vorgenommen wurde, nicht zu stören.
Während der zweite Hubschraubernotarzt nun in der Maschine seine Übergabe Yasser´s erhielt, ließ Semir zufällig seine Blicke schweifen und erstarrte in derselben Sekunde. War das nicht gerade Brami gewesen, der da um die Ecke gebogen war? Aber dann entspannte er sich wieder-das war doch fast nicht möglich-er hatte wegen der Überreizung sicher schon Halluzinationen, aber trotzdem würde er der Sache auf den Grund gehen!