Wild Hot Racing

  • Semir hatte sein Wohnzimmer fertig gestrichen und auch schon wieder eingeräumt. Während er sich auf die Couch geschmissen und ein Bier aufgemacht hatte, räumte Andrea noch die letzten Sachen in die Regale. Plötzlich musste er an Ben denken. Wie es dem wohl ging? Obwohl ja eigentlich anzunehmen war, dass der sein freies Wochenende genoss und vermutlich jetzt am Samstagabend mit den Haug-Brüdern zusammen saß und spanische Spezialitäten mit dem einen oder anderen Glas Wein genoss, hatte Semir bei den Typen immer noch kein gutes Gefühl. Dann schalt er sich allerdings einen Narren-er immer mit seinen Gefühlen! Ben war schließlich auch Polizist mit einiger Erfahrung-vielleicht war er diesmal völlig auf dem falschen Dampfer-war da vielleicht sogar ein wenig Neid dabei, dass sein Freund ein neues Hobby hatte und es sich auch leisten konnte dem nach zu gehen? Für seine Kasse wäre es völlig unmöglich die noch zusätzlich zu belasten. Seine Finanzen waren so eingeteilt, dass mit Müh und Not einmal jährlich ein Familienurlaub rausschaute, aber sonst war sein finanzieller Spielraum knapp bemessen. Andrea arbeitete Teilzeit und die Raten fürs Haus waren nicht gering-wenn er, Semir, ein Autorennen würde fahren wollen, konnte er höchstens eine Carrerabahn dazu hernehmen, alles andere wäre utopisch! Nun war allerdings auch Andrea endlich fertig, sie bestellten noch eine Pizza und nach einer Dusche klang der Abend vor dem Fernseher aus.


    Ben schlotterte inzwischen am ganzen Körper. So heiß es ihm den ganzen Tag in seinem Rennanzug gewesen war, desto kälter war ihm jetzt. Dabei verursachte ihm sogar das Muskelzittern große Schmerzen-eigentlich war es für ihn nur erträglich, wenn er völlig ruhig lag, aber sein Körper machte das mit dem Zittern völlig selbstständig, er konnte das überhaupt nicht verhindern. Seine Hände waren eiskalt und die feuchte Unterwäsche klebte klamm an seinem Körper. Was wohl Sarah und Tim gerade machten? Die schliefen sicher friedlich in einem Bett und freuten sich auf das Wiedersehen mit ihm heute Abend, ohne zu wissen, dass das nie mehr geschehen würde. Der Mond stand hell und eindrucksvoll am Himmel, gelegentlich hörte Ben ein leises Rascheln-da waren sicher irgendwelche Tiere unterwegs, die nur darauf warteten, dass es mit ihm vorbei war und sie sich an ihm gütlich tun konnten. Eigentlich konnte er nur hoffen, dass die wenigstens so lange warteten, bis er ganz tot war und ihn nicht bei lebendigem Leibe auffraßen! Wie sehr wünschte er sich, endlich in die Bewusstlosigkeit abzutauchen und kein Leid mehr zu spüren!
    Wenn seine Lage nicht so völlig aussichtslos gewesen wäre, wäre die Stimmung in der Sahara einfach grandios gewesen. Die Sterne funkelten zum Greifen nah am klaren Himmel. In Deutschland war immer irgendwo in der Nähe eine Lichtquelle, eine Stadt oder sonst irgendwas, aber hier herrschte einfach völlige Schwärze, nur erhellt vom Mondlicht. Wieder glitten Ben´s Gedanken erst in die Vergangenheit zurück und versuchten dann in die Zukunft zu blicken. Wie würde das wohl werden im Jenseits? Waren da seine verflossenen Freundinnen wie Saskia und warteten auf ihn? Wie war das da mit den Gefühlen? Er hatte die alle sehr geliebt und war vor Kummer fast eingegangen, als die ermordet worden waren, aber mit der Zeit war der Schmerz leichter geworden und er hatte sich wieder neu verlieben können. Und jetzt seine Liebe zu Sarah, die die Krönung in einem gemeinsamen Kind gefunden hatte-würde die Sehnsucht immer bleiben? Würde er irgendwie Kontakt halten können, in ihren Träumen erscheinen und auf wundersame Weise vielleicht beobachten können, wie aus dem kleinen Tim ein stattlicher Mann heranwuchs? Voller Kummer, dass er durch seine Blödheit auch seinem Kind praktisch den Vater genommen hatte, fiel er wieder in eine leichte Bewusstlosigkeit zurück und spürte momentan keine Angst und keine Schmerzen mehr.


    Der alte Hassan hatte vor Tau und Tag sein Lieblingskamel gesattelt. Er würde in die Wüste reiten und wie in alten Zeiten nach Brennholz suchen. Auch wenn man immer dachte, das sei unmöglich, wusste der alte Beduine, wo etwas zu finden war. Früher war das hier eine fruchtbare Gegend gewesen, bis die Sahara sich Kilometer um Kilometer Richtung Meer gefressen hatte. So mancher Brunnen war versiegt, aber das Altholz war teilweise immer noch zu finden, auch weil die Sandstürme immer wieder andere Ecken freilegten. Klar hatten sie in ihrer Wohnsiedlung, die in ein Felsmassiv gebaut war, inzwischen ein Stromaggregat, das mit Diesel befeuert wurde. Hassan allerdings kannte noch die Zeiten, als sie mit Kameldung geheizt und gekocht hatten, aber die waren lange vorbei. Seine Söhne fuhren Geländewagen, zu jeder Siedlung führte eine Piste und man kaufte ganz normal in Sousse ein und brachte die Waren nach Hause und legte sie dort in den Gaskühlschrank. Ihr Geld verdienten sie, indem sie Touristen beherbergten und unterhielten, die einmal sehen wollten, wie ein Einheimischer so lebte. Das hatte zwar heute für die Jungen nichts mehr mit der Realität zu tun, aber er trug seine traditionelle Kleidung noch voller Stolz, während die Jungen die anlegten wie ein Kostüm, wenn die Touristen kamen, aber sonst in Jeans und T-Shirt herumliefen.
    Die Touristen die aus aller Herren Länder bei ihnen einfielen, wurden mit heißem Pfefferminztee und traditionellem Essen bekocht, dafür brauchte man auch das offene Feuer und Holz war teuer auf dem Markt-es selber zu suchen war wesentlich zufriedenstellender. Außerdem ritt man mit den Touristen dann immer eine Runde durch die Wüste, damit sie auch einmal das Feeling hatten, das seine Vorfahren in Jahrtausenden gepflegt hatten. Dazu mussten die Kamele allerdings brav sein, denn wenn da einmal ein Unfall passierte, weil ein Dromedar buckelnd davonraste und seine Reiter abwarf, dann war das vorbei mit diesem Einkommenszweig. Seine Söhne allerdings hatten da null Lust dazu die Tiere zu bewegen, was Hassan sehr verurteilte.
    Jetzt war gerade keine Saison, die überwiegend westlichen Urlauber bereiteten sich auf ihr christliches Weihnachtsfest vor, die hatten anderes im Kopf, als einen Tunesienurlaub! Die Kamele waren da unterfordert und stellten nur Blödsinn an, wenn er sie nicht regelmäßig reiten würde. So stimmte er einen leichten Singsang an, wie er es häufig machte, wenn er durch die Wüste ritt und sich mit traumwandlerischer Sicherheit orientierte und genoss das beruhigende Schaukeln seines Reittiers, das motiviert die Nase hochhielt. Er forderte es sogar zu einem kleinen Galopp auf, was zwar unheimlich schnell war, aber er war sein Leben lang geritten und als Kinder hatten sie sogar noch Rennkamele gehabt und trainiert, die dann von den Vätern teuer an die Scheichs verkauft worden waren.
    Nun veränderte sich allerdings gerade die Stimmung in der Wüste und sein Dromedar hob witternd den Kopf. Im Verlauf der nächsten Stunden würde ein Sandsturm kommen-er erkannte es an den Anzeichen und auch sein Reittier gab beunruhigte Laute von sich. Er würde das mit dem Brennholz für heute sein lassen und zusehen, dass er in seine Siedlung zurück kam, denn so ein Sandsturm war unheimlich gefährlich! Gerade wollte er abwenden, da sah er etwas in einiger Entfernung am Boden liegen.

  • Hassan ritt weiter. Was war das? Sein Kamel grunzte unwillig-merkte sein Herr nicht, dass ein Sandsturm kam-sie mussten dringend nach Hause! Als der Beduine näher kam, sah er, dass da ein Mensch im Rennanzug mit einem Helm auf dem Kopf im Sand lag. Das linke Bein und der Arm waren unnatürlich verkrümmt-vermutlich war der tot! Hassan befahl aber trotzdem seinem Kamel sich niederzulegen und stieg ab. Wenn der Sandsturm kam, würde man von einer Leiche keine Spur mehr finden, aber er wollte jetzt doch nachsehen, wer das war und an was er wohl gestorben war.
    Er konnte sich schon denken, dass der irgendeine Verbindung zu der Rennstrecke von Brami, einem der einflussreichsten Großindustriellen Tunesiens, aufwies. Man sah auch Quad-Spuren, aber kein Fahrzeug war weit und breit, also war der groß gewachsene Mann vermutlich ermordet und hier abgeladen worden. Hassan würde allerdings darüber Stillschweigen bewahren, denn sie konnten keinen Ärger gebrauchen. Wenn man sich gegen Brami stellte, würden bei Nacht und Nebel ein paar vermummte Männer in ihrer Wohnsiedlung auftauchen und zur Abschreckung den einen oder anderen umbringen, denen war es auch egal, ob das Frauen oder Kinder waren-diese Männer waren völlig skrupellos und kannten keine Gnade. Ihr Ruf eilte ihnen voraus und ausgebildet wurden sie in Terrorcamps, wo sie den Umgang mit Schusswaffen lernten und wie man auch ohne Waffen tötete, da war so ein Einsatz eine willkommene Übung. Die Bevölkerung hatte Angst und nachdem der Polizeiapparat sowieso korrupt war, machte es auch keinen Sinn, das zu melden, denn eventuell drohte einem dann sogar noch von staatlicher Seite Gefahr und man verschwand für eine lange Zeit im Gefängnis, was in Nordafrika kaum jemand ohne gesundheitliche Spätfolgen überstand. Also kümmerte man sich besser nicht um Dinge, die einen nichts angingen und Hassan würde nur kurz nachsehen und dann nach Hause reiten und vergessen, was er entdeckt hatte.


    Als er nun seine Hand ausstreckte und den Mann berührte, um zu fühlen, ob der schon kalt war, merkte er, dass der noch warm war. Das komplizierte jetzt die Sache! Plötzlich schlug Ben die Augen auf und sah den alten Beduinen mit von Schmerz gezeichnetem Blick an. Der gab vor Schreck einen gutturalen Laut von sich und Ben versuchte nun ein paar Worte zu formulieren: „Helfen sie mir!“ krächzte er hervor. Hassan überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Er musterte den Horizont. Der Sandsturm würde nicht lange auf sich warten lassen. Mit Sicherheit blieb keine Zeit mehr Hilfe zu holen und außerdem war die nächste Piste ein ganzes Stück entfernt. Auch wenn er ein Handy mitgenommen hätte, wie ihm seine Söhne immer versuchten einzubläuen, würde der Sturm schneller da sein als sein Sohn mit dem Wagen und sie würden sich alle miteinander in Lebensgefahr bringen. Einen kurzen Moment dachte er darüber nach, einfach wegzureiten und den schwer verletzten Mann seinem Schicksal zu überlassen, aber das brachte er nicht fertig. Dann würde er sich auf eine Stufe mit Brami´s Männern begeben und Allah hatte sicher gewusst, warum er die Schritte seines Kamels gerade heute an diesen Ort geführt hatte.
    Hassan machte sich nun daran, den Helm zu öffnen und ihn dem Verletzten auszuziehen. Der war völlig ausgetrocknet und brauchte dringend Wasser-allerdings nicht zu viel, denn sonst würde das sein Organismus nicht aufnehmen können. Als der Helm entfernt war, konnte man auch sehen, warum das Gesicht des Mannes voller getrocknetem Blut war-eine Platzwunde an der Stirn hatte heftig geblutet, war aber weiter nicht schlimm. Hassan tastete nun den Mann mit kundigen Händen von oben bis unten ab, während er beruhigende Worte in seinem Heimatdialekt murmelte. Er wusste, der Mann konnte ihn nicht verstehen, der kam irgendwo aus Mitteleuropa, aber trotzdem verfehlte der beruhigende Singsang seine Wirkung nicht. Ben schloss die Augen und ließ den Beduinen machen, er wusste, das war seine einzige Chance zu überleben!


    Allerdings stöhnte er auf, als die Hände sein gebrochenes Bein und den Arm berührten und noch viel mehr als der Beduine seinen Brustkorb auf der linken Seite anfasste und die gebrochenen Rippen betastete, da entwich ihm sogar ein kleiner Schmerzenslaut. Hassan hatte sich einen groben Überblick verschafft. Der Mann war schwer verletzt, jede Bewegung würde ihm unsägliche Schmerzen bereiten, aber trotzdem musste er ihn von hier weg schaffen, denn sonst war er dem sicheren Tod geweiht. Am Horizont begann der Himmel sich schon zu verfärben, sie mussten in Kürze los, sonst würden sie vielleicht beide in der Wüste sterben! Hassan überlegte fieberhaft, aber dann gab er Ben erst einmal ein wenig Wasser zu trinken. Früher als er Kind gewesen war, hatten sie das Wasser noch in Schläuchen transportiert, aber jetzt hatte er eine kleine Wasserflasche aus Kunststoff bei sich, wie sie auf der ganzen Welt verbreitet war. Er hielt sie an Ben´s Lippen und der trank gierig ein paar Schlucke und hätte am liebsten die ganze Flasche geleert, so unendlich war sein Durst, aber der alte Mann nahm sie ihm wieder weg. Wenig später bemerkte Ben auch, dass das eine gute Entscheidung gewesen war, denn nun wurde ihm furchtbar schlecht und wenn er mehr getrunken hätte, hätte er das wohl wieder von sich gegeben!
    Der Beduine ließ suchend seine Blicke schweifen und tatsächlich konnte er nicht weit von Ben ein paar Äste entdecken-die Überreste aus Zeiten, bevor die Wüste hier das Regiment übernommen hatte. Hassan riss aus dem Tuch mit dem er seinen Kopf schützte und das er in traditioneller Manier um sich geschlungen hatte und mit einem schmalen Stirnband an Ort und Stelle hielt, ein paar Streifen. Vielleicht würde der Mann, falls er überlebte, das einmal ersetzen, aber sonst würde er das als eine Gabe an Allah sehen. Hassan nahm nun nacheinander Ben´s Oberarm, Unterarm, Oberschenkel und Unterschenkel und richtete die Frakturen ein. Ben schrie, wie er in seinem Leben noch nie geschrien hatte. Er meinte den Schmerz nicht ertragen zu können, aber der alte Mann drückte kundig die Knochen in die grobe Form, wie sie hingehörten und schiente sie danach mit den Ästen und den Tuchfetzen. Ben lag schwer atmend im Sand und betete darum, endlich ohnmächtig werden zu dürfen, aber sein Körper hatte nun so viel Adrenalin ausgeschüttet, dass das einfach nicht möglich war.
    Nun schlug der Beduine das große Tuch, das er mitgenommen hatte, um darin Holz zu transportieren, auseinander und zog Ben der wieder laut vor Schmerzen schrie, hinein. Irgendwann hatte er ihn quer vor dem einen Höcker seines Dromedars gelegt, Hassan setzte sich dahinter und nahm die Zügel seines Reittiers, das die ganze Zeit artig neben ihnen im Sand gelegen und beobachtet hatte, was sein Reiter so machte. Auf ein kurzes Wortkommando hin erhob sich das Trampeltier und setzte sich in langsamem Passgang in Bewegung.

  • Ben hätte die ganze Zeit schreien mögen vor Schmerzen, erst versuchte er auch sich fest zu machen, damit er sich möglichst wenig bewegte und sich die Bruchenden nicht gegeneinander verschoben, aber irgendwann konnte er nicht mehr, ließ sich einfach fallen und schwang mit den gleichmäßigen Schaukelbewegungen mit-und siehe da, es wurde ein klein wenig leichter! Hassan warf einen besorgten Blick zum Horizont. Wie eine gelbe Wand war der Sandsturm schon in der Ferne zu erkennen, der Himmel hatte sich verfinstert und man konnte nicht sagen, ob die Sonne schien oder nicht, denn der gelbe Saharasand, den es manchmal bis nach Mitteleuropa blies, erfüllte den Orbit. Wenn sie in diesem Tempo weiterritten, würden sie nicht vor dem Sturm an seiner Wohnstatt ankommen und so leid es ihm für seinen Mitreiter tat, der im Schritt schon fürchterliche Schmerzen auszuhalten hatte-aber jetzt ging es ums Überleben und so spornte er sein Reittier in eine schnellere Gangart an. War der langsame Pass eher ein gemächliches Schaukeln, so setzte sich der starke Kamelbulle, der etwa 800 kg auf die Waage brachte, nun im flotten Rennpass in Fahrt. Er konnte die Geschwindigkeit so steigern, dass er mit nach oben gereckter Nase beinahe über den Sand flog. Auch der Galopp war da manchmal nicht schneller und der Beduine vertraute dem Leittier seiner Herde blind-der würde sie heil nach Hause bringen! Der Kamelbulle gab ein tiefes Grunzen von sich und steigerte selbsttätig die Geschwindigkeit nochmals. Freilich würde ihm am wenigsten passieren, wenn sie es nicht mehr bis nach Hause schafften und dem Sandsturm in der Wüste trotzen mussten, denn die Kamele legten sich dann einfach hin, schlossen die Augen und konnten ihre Nüstern mit einem speziellen Mechanismus auch so verschließen, dass sie nicht am Sand erstickten, aber die Menschen würden das vielleicht nicht überleben. Das Trampeltier zog es aber auch zu seiner Herde-die wollte von ihm beschützt werden und er würde seinen Herrn mitsamt dem Ballast dorthin bringen.
    So flogen sie über den Sand, während die ersten Böen aufkamen und den Sand hoch in die Luft wirbelten. Der Beduine hielt die Zügel in einer Hand und mit der anderen hielt er die Enden seines Turbans vor den Mund. Der war natürlich durch die Verwendung für die Schienenverbände nun wesentlich kürzer als die 4,5m die so ein Beduinentuch normalerweise hatte und für seinen Patienten hatte er deshalb auch keine Möglichkeit die Atemwege zu schützen. So drang der feine Sand in Ben´s Mund und Nase ein und brachte ihn zum Husten, was ihm in seinem Brustkorb zusätzlich fürchterliche Schmerzen bereitete.


    Man hörte nun ein dumpfes Brausen und auf einmal-die Wohnhöhlen waren schon in Sichtweite-brach das Inferno über sie herein. Wenn der Kamelbulle, der schon den heimatlichen Stall witterte, sie nicht zielsicher dorthin gebracht hätte-für einen Menschen wäre es fast unmöglich gewesen, sich zu orientieren- hätte es übel ausgesehen. Ben meinte zum zweiten Mal innerhalb eines Tages, sein letztes Stündlein hätte geschlagen, da hielt das imposante Reittier plötzlich an und legte sich auf ein gutturales Kommando seines Herrn nieder. Man verstand zwar durch das Tosen sein eigenes Wort nicht, aber dennoch sprangen wie aus dem Nichts plötzlich zwei junge Männer auf sie zu. Sie hatten westliche Kleidung an, aber den Kopf hatten sie dennoch mit einem traditionellen Turban verhüllt, der wie ein Mundschutz straff über den Mund und die Nase gewunden war-die einzige Möglichkeit halbwegs frei zu atmen. Der Ältere der beiden, der etwa 30 sein dürfte, sagte etwas in vorwurfsvollem Ton zu seinem Vater, aber der gab scharf eine Antwort und während Hassan schon abstieg, entdeckte Ismael nun den Grund für die beinahe lebensgefährliche Verspätung seines Erzeugers. Nachdem man nun keine Zeit für irgendwelche Diskussionen hatte, öffnete er die traditionellen Knoten mit denen das große Tuch am Höcker des Dromedars und am Sattel befestigt war. Sein Vater hatte derweil den Bauchgurt des Reitsattels gelöst und seinen Söhnen in kurzen Worten erklärt, dass sein Passagier schwer verletzt war. Man brachte den wertvollen Sattel in einen Verschlag neben dem Stall, erlaubte dem Kamel sich zu erheben und zu seiner Herde zu gehen und schloss dann die Stalltür.
    Nun nahmen die beiden jungen Männer das Tuch, in dem Ben transportiert worden war, wie ein Rettungstuch und schleppten gemeinsam den Gast ihres Vaters in die recht dichte Wohnhöhle. Vorne waren zwei Teppichvorhänge wie eine Art Schleuse hintereinander und zusätzlich noch eine selbst gezimmerte Tür. So verhinderte man das Eindringen von Sand in den Wohnbereich und wenig später legten die beiden jungen Männer den keuchenden Ben vorsichtig am Boden auf einem dicht gewebten traditionellen Teppich ab.

  • Semir und Andrea hatten ausschlafen wollen. Bei Andrea gelang das auch problemlos, aber Semir erwachte mehrmals in der Nacht. Er hatte einen dermaßenen Muskelkater von der ungewohnten Streicharbeit, dass er jedes Umdrehen schmerzhaft spürte. Gegen Morgen ging gar nichts mehr. Aus irgendwelchen Gründen musste er die ganze Zeit an Ben denken-dabei hatte der nun wahrlich keine Schlafprobleme-normalerweise eher das Gegenteil! Semir stand leise auf und ging unter die Dusche. Während er das heiße Wasser auf seinen schmerzenden Körper prasseln ließ, wurde der Muskelkater leichter und auch seine Gedanken wandten sich wieder seiner Familie zu. Als er wenig später zu Andrea ins Bett schlüpfte und sie zärtlich weckte-man musste das ausnutzen, wenn die Kinder mal nicht da waren-vergaß er seine vorhergehenden trüben Gedanken und freute sich auf einen erholsamen Sonntag im frisch renovierten Wohnzimmer.


    Sarah hatte auch nicht besonders gut geschlafen. Tim war unruhig, hatte hoch rote Bäckchen und sabberte. Immer wieder trank er ein paar Schluck an der Brust, um dann wieder zu weinen. Am Morgen stand sie wie gerädert auf und als ihre Schwägerin sich den kleinen Mann ansah, sagte sie verständnisvoll: „Ah-den kleinen Tim plagen seine Zähne!“ Nun starrte Sarah sie fassungslos an: „Aber dazu ist er doch noch viel zu klein-die meisten Kinder kriegen ihre Zähne doch wenn sie so ein halbes Jahr bis zu einem Jahr sind!“ stammelte sie, aber die erfahrene Mutter von drei Kindern schüttelte den Kopf. „Das stimmt nicht immer-manche Babys werden schon mit einem oder zwei Zähnen geboren. Angelegt sind die Zähne schon lange im Kiefer, nur wann sie durchbrechen, ist bei jedem Kind verschieden. Das heisst jetzt auch nicht, dass in Kürze der erste Zahn schon rausspitzelt, aber wenn die durch den Knochen brechen, plagt das manche Kinder ziemlich. Da können schon noch ein paar Wochen vergehen, bis man etwas sieht, aber ich kann dir ein schmerzlinderndes Gel empfehlen-das gibt’s in der Apotheke, damit reibt man das Mündchen innen ein und erleichtert so das Zahnen. Auch kühlende Beissringe helfen manchmal. Mach dir nur keine Sorgen-auch wenn er Fieber kriegt-das ist vollkommen normal und so ein quengeliges Baby braucht eben besonders viel Zuwendung. Spann ruhig Ben auch ein wenig ein-der kann ebenfalls mit seinem Sohn bei Nacht durch die Wohnung wandern, damit du genügend Schlaf abkriegst und die Milch nicht versiegt!“ empfahl sie, aber Sarah gab ihr schon Bescheid. „Nur weil Ben jetzt dieses Wochenende was anderes vorhatte, heisst doch nicht, dass der sich nicht um seinen Sohn kümmert! Normalerweise lässt sich Tim von ihm sogar besser beruhigen als von mir. Sein Papa macht dann Quatsch mit ihm und schon lacht er wieder! Beim nächsten Mal hat er mir auch versprochen, dass er mit nach Norderney kommt, aber er musste ja Donnerstag und Freitag noch arbeiten!“ verteidigte sie ihren Ben wie eine Löwin und ihre Schwägerin musste lächeln. „Na schon gut Sarah-so war das doch gar nicht gemeint-ich habe da nur an deinen Bruder gedacht-wenn ich den nicht ab und zu aus dem Bett gescheucht hätte, damit er mich nachts entlastet, hätte der nichts gehört und selig durchgeschlafen, während ich mir alleine die Nächte um die Ohren geschlagen hätte. Ich freue mich ja für dich, dass du so ein besonderes Exemplar Mann erwischt hast, der sich liebevoll um sein Kind kümmert und auch für dich noch Zeit übrig hat!“ beruhigte sie ihre Verwandte und dann machte sie sich daran das Frühstück für alle herzurichten, während eine übernächtigte Sarah den Tisch deckte.


    Ben kam langsam wieder zu Atem. Die Luft in der Wohnhöhle war nicht vom Sand geschwängert. Während draußen der Sturm tobte, roch es hier drinnen angenehm nach Patchouli. Das Licht war gedämpft, denn die Löcher, die man vermutlich vor Jahrhunderten in den Fels geschlagen hatte und als Fenster und Lüftung verwendete, waren genauso dicht verhängt wie die Eingangstür. Als Lichtquelle diente eine Gaslampe, die auf einem niedrigen Tisch in der Mitte stand. Um den herum lagen flache Sitzkissen auf dem Boden und auch die Wände waren mit Teppichen behängt. Gut-Hassan war nicht reich-früher hätten höchstens Scheichs so vornehm mit so vielen Teppichen gewohnt, aber seine Höhlenwohnung wurde regelmäßig den Touristen gezeigt, damit die Einblick in das frühere Leben der Beduinen bekamen, deren Heimat die Wüste war in ihrer ganzen Härte und Schönheit! So verdienten sie ihr Geld und nur wenige Teppiche hier waren echt und handgewebt-die meisten waren gut nachgemachte Fabrikware, die man im Souk bei jedem Straßenhändler kaufen konnte. Aber sie sahen nett aus, waren bequem und Hassan hatte schon lange aufgehört den alten Zeiten hinterher zu trauern. Er lebte zwar bescheiden, aber nicht schlecht und er und seine Frau waren stolz auf ihre vier Söhne und die drei Töchter, die alle schon verheiratet waren. Allerdings jeder nur mit einer Frau, obwohl ihr Glaube auch eine Zweitfrau oder mehr erlaubt hätte, aber die musste man als gläubiger Muslim auch erst einmal unterhalten können! Sie beherbergten die Touristen sozusagen als Familienbetrieb, kochten für sie und zeigten traditionelle Techniken und die Lebensweise der Beduinen, wie sie früher gewesen war, inklusive Kamelreiten. Auch ein Wohnzelt besaßen sie noch, aber gerade bei Sandsturm war es hier drinnen wesentlich komfortabler. Allerdings wurde das von ihren Übernachtungsgästen gerne ausprobiert.
    So kam nun Fatima, Hassans langjährige Ehefrau, deren Gesicht verschrumpelt war wie ein ledriger Apfel, die ihm aber immer noch schön wie am ersten Tag erschien-näher und musterte den jungen Europäer, der da stöhnend in ihrem Wohnzimmer lag. Mit kundigen Händen berührte sie seine Stirn, während Ismael als der älteste Sohn begann, mit seinem Vater einen erregten Wortwechsel auf Arabisch zu führen, bei dem Ben nur ein einziges Wort, oder vielmehr einen Namen verstand, der von beiden mehrfach gebraucht wurde: Said Brami.

  • Ismael wollte von Hassan wissen, wo er den Europäer denn gefunden habe und wie er sich das vorstelle, den einfach mitzubringen. Dass da irgendwelche Verbindungen zur Rennstrecke Brami´s waren, war ja abzusehen und sie wollten beileibe keinen Ärger mit dem einflussreichen Mann. Der würde schon seine Gründe gehabt haben, den Europäer in die Wüste zu bringen und sich wegen einem Ungläubigen selbst in Lebensgefahr zu bringen, war eine fürchterliche Dummheit. Hassan wollte dann von seinem Sohn wissen, was er denn getan hätte, wenn er den Verletzten gefunden hätte und Ismael sagte grob: „Ich hätte ihn liegen lassen-es wäre bald vorbei gewesen!“ und warf Ben einen bösen Blick zu. Der zweite Sohn schwieg still, er achtete den Vater und hoffte irgendwie, dass der Mann, der sichtlich Schmerzen hatte, ihre Sprache nicht verstand. Nun richtete sich Hassan auch zu voller Größe auf und sagte mit Autorität in der Stimme: „Dieser Mann ist mein Gast-und ich begebe mich nicht auf eine Stufe mit Brami´s Schergen. Wir versuchen ihn so gut als möglich zu versorgen und sobald der Sturm vorbei ist, werden wir sehen, was wir mit ihm machen!“ und nun fügte sich auch Ismael. Er war zwar immer noch zornig, aber das Wort des Vaters galt noch in der arabischen Welt und der Status eines Gastes war sehr hoch.


    Fatima hatte inzwischen-wie vorher ihr Mann- mit kundigen Händen Ben von Kopf bis Fuß betastet. Sie hatte die verschiedenen Pulse gefühlt und ihm auf der unverletzten Seite seinen Rennstiefel ausgezogen. Wenn man in der Wüste lebte, musste man viele Krankheiten selber behandeln können, oder zumindest den Kranken so lange stabilisieren, bis man ihn ins Krankenhaus bringen konnte. Jeder Nomade lernte von seinen Eltern die Grundlagen der traditionellen Heilkunst, die schon sehr alt war, auf griechische und phönizische Wurzeln zurückging und sich über die Jahrhunderte erhalten hatte. Ähnlich wie in der ayurvedischen Lehre, die dieselben Wurzeln hatte, bediente man sich heilender Kräuter, versuchte mit Massagen und Berührungen Körper und Geist zu harmonisieren und hatte damit auch oft Erfolge, die die moderne Medizin in den Schatten stellte. Allerdings gab es eben Verletzungen, die musste ein Arzt behandeln und Fatima war klar, dass hier eine Grenze war. Die gebrochenen Knochen würden zwar heilen, aber ob die mit ihren bescheidenen Möglichkeiten der Behandlung gerade zusammenwachsen würden, war eher unwahrscheinlich. Aber sie hatten ja auch nicht vor den jungen Mann die nächsten Monate hier zu betreuen. Sobald der Sturm nachließ und man ohne Gefahr auf die Piste konnte, würden sie ihn nach Sousse ins nächste Krankenhaus bringen und ihn dann vergessen-wenn er das überhaupt überlebte.


    Nun holte Fatima einige Heilkräuter aus der Küche, wo die in dunklen Gefäßen auf ihre Anwendung warteten. Sie gab Ben immer wieder kleine Schlucke Wasser zu trinken und braute derweil auf einem Gaskocher einen Trank, der ihm die Schmerzen ein wenig nehmen würde. Ein Hauptbestandteil dieser Mixtur war aus dem Saft des Schlafmohns gewonnen, aber auch andere Kräuter, die ihn ruhiger machen würden, waren enthalten, denn Ben hatte zusätzlich zu den starken Schmerzen sichtlich auch Angst, wie sie intuitiv erfasste, obwohl sie sich mit ihm nicht über die Sprache austauschen konnte. Obwohl Ben immer noch starke Schmerzen hatte, fasste er Vertrauen zu der alten Frau und er hatte auch den Sinn des Gesprächs zwischen Vater und Sohn erfasst. Der junge Mann würde ihn am liebsten zum Mond schießen, oder vielmehr zurück in die Wüste bringen, das ging aus seiner Körpersprache, seinen Blicken und Gesten hervor. Hassan allerdings hatte zwar zuerst diskutiert, aber dann anscheinend ein Machtwort gesprochen, denn nun schwieg der junge Mann still. Nach kurzer Zeit erhob der sich dann und sah kurz auf sein Handy, aber im Sandsturm war man von der Außenwelt abgeschnitten, da funktionierte auch kein Handyempfang. Ismael schlang sich das Beduinentuch, das er im Haus abgenommen hatte, wieder fest um den Kopf und verschwand durch die Höhlentür in den Sandsturm, um die paar Meter zu seiner eigenen Behausung zu gehen, wo seine Frau mit den beiden Kindern auf ihn wartete.


    Ahmed, der zweite Sohn half nun seiner Mutter. Gemeinsam flößten sie Ben den bitteren Trank ein. Ben befürchtete zunächst, dass das irgendein Gift wäre und wollte ihn erst nicht einnehmen, aber der beruhigende Singsang in den Worten der alten Heilerin brachte ihn dann doch dazu, hinunterzuschlucken. Es hob ihn zwar ein wenig, aber er bekam danach gleich einige süße Schlucke einer weißen, lauwarmen Flüssigkeit. Ben wusste erst nicht was das war, aber dann tippte er auf Kamelmilch und damit lag er nicht falsch. Wenn die Beduinen früher in der Wüste dem Sandsturm getrotzt hatten und ihr Lager und die Wohnzelte nicht hatten verlassen können, hatte man mit einem scharfen Messerchen die Kamele an einer Halsvene geritzt und das austretende Blut aufgefangen. Vermischt mit der nährstoffreichen Kamelmilch konnte man damit für lange Zeit überleben. Gut-hier in ihrer Behausung war das nicht notwendig, denn sie hatten genügend Vorräte und konnten auch während dem Sturm kochen, aber die Beduinen würden auch ohne die Segnungen der Neuzeit zu überleben wissen.


    Während auch Hassan sein Frühstück, bestehend aus warmer, mit Honig gesüßter Kamelmilch mit einem Fladenbrot zu sich nahm, wurde es Ben ein wenig komisch. Ihm war schwindlig und seine Wahrnehmung veränderte sich durch die Drogen. Allerdings ließ nun auch der infernalische Schmerz mehr und mehr nach und er bekam kaum mit, wie nach einer Weile Ahmed und seine Mutter begannen, die Schienen abzuwickeln.
    Ben erschrak, als er im Halbdämmer plötzlich Ahmed vor sich knien sah und der ein Messer in der Hand hielt, dessen Klinge im Licht der Gaslampe aufblitzte. Jetzt würde er sein Ende finden-der junge Mann würde ihn vermutlich abstechen und dann würden sie seinen Körper wieder in die Wüste zurückbringen! Sein letzter Gedanke galt Tim, aber dann stellte er verwundert fest, dass der junge Beduine nur damit begann, seinen Rennanzug aufzuschneiden. Ben atmete erleichtert aus und Ahmed sagte nun Wörter in verschiedenen europäischen Sprachen, um herauszufinden, welcher Nationalität der Gast seines Vaters wohl angehörte. Die Gäste in ihrer Wohnsiedlung kamen aus aller Herren Länder und er konnte ein paar Brocken von jeder gängigen Sprache. Irgendwann versuchte er es auf Deutsch und nun sah Ben ihn überrascht an. War es möglich, dass sie sich sogar verständigen konnten? Er antwortete und nun teilte Ahmed seinen Eltern mit, dass ihr Gast ein Deutscher wäre, was denen allerdings prinzipiell egal war. Sie lebten in ihrer eigenen Welt und interessierten sich nicht für Politik und Nationalitäten. Ben war inzwischen fast ganz ausgezogen und Fatima wandte sich nun gehorsam ab, als ihr Sohn nun Ben ganz nackt machte, aber dann sofort einen hinten aufgeschnittenen Kaftan über ihn legte. Eigentlich war das so ähnlich wie ein Krankenhaushemd und nun betastete Fatima wieder gründlich seinen ganzen Körper, ohne den störenden Rennanzug. Außerdem hatte Ben nun durch die Droge deutlich weniger Schmerzen und ließ es ohne dagegen zu spannen, geschehen. Wieder wurden Arm und Bein geschient, aber als die heilkundige Berberin nun seinen Brustkorb betastete und mit dem Ohr darauf hörte, wurde ihr Blick ernst. Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung und sie war sich plötzlich nicht mehr so sicher, dass sie ihn retten konnte!

  • Das war eine Komplikation-dagegen konnte nur ein Chirurg etwas machen. Sie würde ihn gut pflegen und versuchen, seine Schmerzen zu lindern, aber man konnte jetzt nur hoffen, dass der Sandsturm bald aufhörte, damit man ihren Gast in ein Krankenhaus bringen konnte. War das nicht der Fall, würde er sterben, aber damit würde eben Allah sein Werk vollenden, das er in der Wüste begonnen hatte. Sie würden dann den toten Körper wieder an den Ort zurückbringen, wo Hassan ihn gefunden hatte und weiterleben wie bisher. Fatima bat Ahmed ein paar Sitzkissen zusammenzuschieben. Mit Hassan´s Hilfe trugen sie Ben in die Ecke der Wohnhöhle und legten ihn weich und bequem mit erhöhtem Oberkörper darauf ab, was Ben momentan schon ziemlich weh tat und ihn zum Jammern brachte. Als er aber ruhig lag, man ihn mit einer warmen handgewebten Kamelhaarwolldecke zudeckte und ihn eine Weile in Ruhe ließ, waren die Schmerzen wieder erträglich und nachdem er nochmals etwas zu trinken bekommen hatte-diesmal starken, gesüßten Pfefferminztee-schloss er die Augen und dämmerte ein.


    Sarah ging mit den anderen noch ein letztes Mal zum Strand und Tim war eigentlich recht munter, was sie von sich nicht behaupten konnte. Danach räumten sie ihr Wochenenddomizil, ihr Bruder sperrte die Haustür ab und brachte den Schlüssel zur Nachbarin, wo der immer bereit lag. Danach gingen sie alle miteinander Mittag essen und machten sich dann getrennt voneinander auf den Heimweg. Sarah musste mehrmals anhalten und ums Auto laufen, weil sie so müde war nach dieser Nacht, während Tim die ganze Fahrt durchpennte. Oh Mann-das würde wieder eine Nacht werden-sie todmüde und der kleine Kerl ausgeschlafen, aber dann fiel Sarah ein, dass ja Ben ihn dann übernehmen konnte-der hatte ja morgen auch noch frei und hatte sich jetzt sicher gut erholt. Wie ihre Schwägerin gesagt hatte-man durfte die Männer nicht verwöhnen und außer stillen-und das wäre in wenigen Monaten auch vorbei-konnte Ben ja wirklich alles machen, was ein Säugling so einforderte.
    Sarah begann sich auf ihren gewohnten Familienalltag, der sich gut eingespielt hatte, zu freuen. Bald würde Weihnachten vor der Tür stehen und sie war schon gespannt auf Tim´s Gesicht, wenn er den festlich geschmückten, kunterbunten Weihnachtsbaum mit den brennenden Kerzen und dem ganzen Glitzer darauf sehen würde. Im Vorjahr hatten Ben und sie zum ersten Mal gemeinsam in der Wohnung Weihnachten gefeiert. Ben besaß bis zu diesem Zeitpunkt keine einzige Weihnachtsdeko, aber sie hatte das Wohnzimmer in eine heimelige Höhle verwandelt, in der es nach Zimt und Orangen duftete und ihr Weihnachtsbaum war kunterbunt und fast jede Kugel oder sonstiges Dekostück hatte eine Geschichte-es war nämlich eines ihrer Hobbys auf Weihnachtsmärkte zu gehen und dort gnadenlos zuzuschlagen. Bei ihnen zuhause war Weihnachten immer ein Fest der Familie gewesen mit gerösteten Esskastanien, der traditionellen Weihnachtsgans, selbst gesungenen Liedern und dem gemeinsamen Besuch der Kindermette am Nachmittag-und genau so sollte Tim es auch erleben!
    Ben hingegen hatte zwar auch immer einen wunderschönen Weihnachtsbaum im Haus seines Vaters gehabt, auch die Geschenke hatten nie zu wünschen übrig gelassen, aber nach dem Tod seiner Mutter hatte den durchgestylten Baum eine Gärtnerei geliefert, aufgestellt und dekoriert und es fehlten jegliche Traditionen. Wie traurig war das, aber sie würde da ihre beiden Männer schon einnorden und für Tim würde Weihnachten ebenfalls eines der schönsten Feste des Jahres werden-dafür würde sie schon sorgen! Je näher sie Köln kam, desto mehr freute sie sich auf Zuhause und vor allem auf die Liebe ihres Lebens-Ben!


    Semir und Andrea hatten einen wundervollen faulen Sonntag erlebt. Zum Mittagessen waren sie in ein schönes Lokal in der Nähe gegangen, denn mit Kindern war das immer nur halb so entspannend essen zu gehen-da kochte man meist lieber zuhause oder ließ mal ne Pizza kommen-aber so genossen die beiden ein gepflegtes Menü und machten sich danach in aller Ruhe auf, Ayda und Lilly von Oma und Opa abzuholen. Dort wurde noch eine Weile erzählt und gelacht, Semir und Andrea wurden noch genötigt ein Stück Schokoladenkuchen, das Margot gemeinsam mit ihren Enkelkindern gebacken hatte, zu probieren und Ayda erzählte empört: „Wir haben die Rührbesen ablecken dürfen, aber stellt euch vor, Lilly hat ihren einfach wieder in den Teig getaucht, als sie fertig war!“ und nun mussten die Erwachsenen lachen. "Na ja-der Kuchen bleibt ja unter uns-das ist nicht so schlimm!“ beruhigte Andrea ihre große Tochter, der so etwas natürlich nie eingefallen wäre. Nun packte Margot aber die Reste, was noch gut die Hälfte war, für ihre Enkelinnen ein und Ayda bestimmte: „Ben muss da auch ein Stück davon probieren-er liebt doch Schokikuchen!“ und Semir versprach, dass sie da morgen zwei Stückchen vorbeibringen würden, eins für Sarah, eins für Ben. „Au ja-wir wollen auch mal wieder mit Tim spielen!“ rief Lilly und so freuten sie sich gemeinsam auf den morgigen Besuch, während sie den Tag ausklingen ließen.

  • Ben hatte mehrere Stunden vor sich hingedämmert. Die Schmerzen waren so einigermaßen erträglich, solange er sich nicht bewegte. Allerdings fiel ihm zunehmend das Atmen schwerer und er hatte auch das Gefühl, er hätte sich erkältet. Kein Wunder, so wie er vergangene Nacht gefroren hatte! Draußen tobte der Sandsturm in unverminderter Stärke, aber Ben dämmerte immer wieder weg. Von Zeit zu Zeit war die alte Beduinenfrau über ihm und flößte ihm wieder ein paar Schlucke zu trinken ein. Eigentlich hatte er schon immer noch Durst, aber er bemerkte auch, dass sein Magen einfach nicht viel auf einmal vertrug und auch Fatima war das geläufig und so gab sie ihm immer nur kleine Portionen. Ahmed hatte sich nach einer Weile den Turban fest um den Kopf geschlungen und war zu seiner Frau und dem zehn Monate alten Söhnchen gegangen. Als er ihr vom Fund des Vaters in der Wüste erzählt hatte, gab sie keine Ruhe, bis er mit ihr und dem Kind, das sie für den Weg die paar Meter bis zur Eingangstür des Vaters unter ihrer Kleidung verbarg, damit das keinen Sand einatmete, zu seinen Eltern zurückging. Sie hatte das Mittagessen schon vorbereitet und auch genügend für mehrere Personen gekocht und so nahm Ahmed den Topf mit dem wohlriechenden Couscous mit Kichererbsen und Hühnerfleisch einfach im Ganzen mit und sagte zu seinen Eltern: „Ayshe hat für euch mit gekocht!“ und Fatima und Hassan bedankten sich mit einem Lächeln. Alle setzten sich in das Wohnzimmer und Fatima und die junge Frau brachten Teller. Ahmed wollte von seiner Mutter wissen, ob ihr Gast auch etwas essen sollte, aber die verneinte. „Er ist dazu viel zu krank-ich bin froh, wenn er ein wenig süßen Tee oder Milch behält!“ erklärte sie und Ahmed nickte.


    Auch wenn das Licht nicht besonders hell war, trotzdem war auch ihm aufgefallen, dass der junge dunkelhaarige Mann schlechter aussah als vorhin und auch mühsamer atmete. Er hatte die Augen meist geschlossen, aber als der kleine Junge Ahmeds, den man einfach auf den Boden gesetzt hatte, zu ihm hin krabbelte und ihn aus dunklen Augen verwundert ansah, streckte er die gesunde Hand aus und lächelte. Ahmed trat zu ihm und fragte mit Zeichensprache und ein paar Brocken Deutsch: „Du auch Kinder?“ und Ben nickte heftig und die Tränen schossen ihm in die Augen, als er an Tim dachte. Ahmed wollte zwar lieber nicht zu viel wissen, aber trotzdem sagte er: „Ich Ahmed-das Ayshe, Fatima, Hassan!“ und Ben sagte leise: „Ich heiße Ben Jäger!“ aber dann schloss er die Augen wieder und rang nach Luft, so hatten ihn die paar Worte angestrengt.


    Die Beduinenfamilie setzte sich im Schneidersitz vor den niedrigen Tisch. Man hatte eine Schüssel mit Wasser dazugestellt und damit wusch man sich die rechte Hand, mit der man den Couscous und die Beilagen traditionell ohne Löffel aß. Auch der kleine Mann futterte mit Appetit was ihm seine Eltern in den Mund steckten. Ben, der wirklich keinen Hunger hatte, was er selber erstaunlich fand, weil das Essen eigentlich vorzüglich roch, sah voller Kummer das Baby an. Ob er das wohl noch miterleben würde, wie Tim zum ersten Mal was Festes zu sich nahm? Dann schloss er die Augen wieder und erst als er eine Berührung bemerkte, schlug er sie wieder auf. Der Tisch war inzwischen abgeräumt, was er gar nicht bemerkt hatte und die alte Frau stand nun wieder mit einem Trank vor ihm, den er auch willig einnahm, obwohl er so bitter war. Ein Schluck Kamelmilch kam hinterher, aber Ben wusste inzwischen, dass dieses Mittel ihm half, seine Schmerzen halbwegs zu ertragen, sonst wäre er vermutlich wahnsinnig geworden. Wieder hörte die Heilerin auf seinen Brustkorb und strich ihm dann eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn. Hoffentlich hörte der Sturm bald auf, sonst kam jede Hilfe zu spät!
    Die junge Frau hatte ihrerseits nun ein feuchtes Tuch geholt und wusch ihm das Gesicht, das immer noch ein wenig von Blut und Sand verdreckt gewesen war, vorsichtig ab. Nun konnte man erst erkennen, welch gut aussehender Mann sich darunter verbarg, aber sie hatte ihr Haar züchtig bedeckt und wandte sich dann auch schnell wieder ab. Sie war schließlich verheiratet und hatte in Ahmed einen guten Mann gefunden, der sie und das Kind abgöttisch liebte. Trotzdem würde sie jetzt wieder in ihre eigene Behausung gehen, nicht dass ihr Mann eifersüchtig würde. So verschwanden sie und Ahmed wenig später wieder, um sich in ihrer eigenen Wohnung ein wenig auszuruhen.
    Der Sturm draußen tobte unvermindert und außer dass Hassan gegen Abend eine Weile in den Stall ging, um die Kamele zu füttern, wo er wieder auf seine beiden ältesten Söhne traf, die bereits gemistet und gemolken hatten, geschah nichts weiter. Hassan sagte bedrückt: „Sobald der Sturm aufhört müsst ihr versuchen meinen Gast ins Krankenhaus zu bringen, sonst wird er das nicht überleben!“ und die beiden Brüder nickten folgsam-es war schließlich auch in ihrem Interesse. Der Kamelbulle der Hassan und Ben sicher nach Hause gebracht hatte, trat zu seinem Herrn und legte den Kopf auf dessen Schulter, woraufhin ihn Hassan zwischen den Ohren kraulte, was er sehr schätzte. „Bist ein gutes Tier!“ sagte Hassan noch zu ihm, bevor er wieder in seiner Wohnstatt verschwand, nicht ohne zuvor ausgetreten zu sein. Auch seine Frau hatte die Wohnhöhle mehrfach verlassen, um zur Toilette zu gehen, die um einen Felsvorsprung gebaut war. Nach kurzem Überlegen nahm Hassan eine alte Plastikflasche mit weitem Hals mit in sein Wohnzimmer. Er schickte Fatima hinaus und legte die provisorische Urinflasche seinem verletzten Gast an, der auch verstand, was er damit sollte, aber so sehr er sich auch bemühte, es kam kein Tropfen.

  • Sarah war inzwischen in Köln angekommen. Erleichterung überkam sie, als sie in ihre Wohnstraße einbog. Kaum hatte sie angehalten, erwachte Tim, der inzwischen mächtigen Hunger hatte, denn er hatte die gut vierstündige Heimfahrt durchgeschlafen-es war wunderbar gelaufen, weil die Straßenverhältnisse gut waren und wenig Verkehr gewesen war. Sarah griff zu ihrem Handy-vielleicht war Ben ja schon da, dann könnte er ihr helfen, die Sachen raufzutragen, aber als sie wählte ging sofort die Mailbox ran. Gut-es war 18.00 Uhr-vielleicht war er noch im Flieger, er hatte am Freitag keine Ankunftszeit gewusst. So nahm Sarah seufzend den kleinen Tim aus dem Babysitz und ging in die Wohnung, wo sie ihm erst einmal die Brust gab. Als er fertig war, sein Bäuerchen gemacht hatte und zufrieden brabbelnd auf der Krabbeldecke im Wohnzimmer lag und sich mit seinen Spielsachen beschäftigte, probierte Sarah es nochmal. Wieder sofort die Mailbox! Auch auf dem Festnetztelefon war keine Mitteilung, keine What´s App, keine SMS, einfach nichts!
    Nun beschlich Sarah schon ein ungutes Gefühl. Das war nicht Ben´s Art, der sonst immer mit ihr und anderen kommunizierte. Wenn alles in Ordnung wäre, hätte ihr der spätestens vor dem Abflug eine Mitteilung geschickt: „Starten jetzt, bin bis etwas soundsoviel Uhr am Flughafen-fahre mit dem Taxi!“ oder etwas in der Art. Nach kurzer Überlegung rief sie Semir an, der auch sofort an den Apparat ging. „Sarah was gibt´s?“ fragte er freundlich. „Soll ich unseren Rennsportbegeisterten vom Flughafen abholen?“ wollte er munter wissen und hatte erst Rennfahrer sagen wollen und erst in letzter Sekunde umdisponiert, als ihm einfiel, dass Sarah davon ja laut Ben´s Aussage keine Ahnung hatte.


    „Semir, ich mache mir Sorgen-Ben ist noch nicht da und er hat sich auch nicht gemeldet, was so gar nicht seine Art ist. Ich bin seit einer halben Stunde zuhause, aber von ihm ist keine Nachricht irgendwo. Wir haben auch das letzte Mal vor dem Abflug am Freitag gesprochen, seitdem hatten wir ausgemacht, nicht zu telefonieren!“ erzählte sie aufgeregt und Semir beruhigte sie erst einmal. „Sarah-wenn der gerade im Flugzeug ist, musste er vielleicht sein Handy ausschalten. In den großen Linienmaschinen ist das inzwischen nicht mehr nötig, aber die Piloten der kleineren Maschinen sind da oft noch ein wenig vorsichtig, mach dir mal keine Sorgen, der meldet sich sicher bald!“ sagte er und versprach, es selber zu versuchen, ihn anzurufen. Als er aufgelegt hatte wählte er Ben´s Nummer, aber wie Sarah gesagt hatte, ging sofort die Mailbox ran. Semir ließ das Telefon sinken und starrte kurz die Wand an, was Andrea aufmerksam werden ließ. „Ist was mit Ben?“ fragte sie und Semir sagte langsam: „Ich bin mir da nicht so sicher!“ denn gerade beschlich ihn ein sehr ungutes Gefühl.
    Allerdings beschloss er dann, dass eine Verspätung von ein paar Stunden ja nun wirklich kein Grund war, sich aufzuregen, aber trotzdem googelte er erst einmal die Flugzeit Köln-Cartagena und schaute auch unauffällig nach Meldungen über Flugzeugabstürze, wovon aber keine vorlagen. Eine kleine Cessna würde für die Strecke vier Stunden brauchen, ein Airbus knappe zwei, also lag der Learjet, den er am Flughafen gesehen hatte, da wohl irgendwo in der Mitte. Semir beschloss, erst unruhig zu werden, wenn sich Ben zwei Stunden später noch nicht gemeldet hatte, aber kurz entschlossen sagte er zu Andrea: „Ich fahre mal schnell zu Sarah-die hat so fertig gewirkt und Ben hat mir am Donnerstag erzählt, dass die mit großem Gepäck gereist ist-die kann das alleine ja gar nicht aus dem Auto holen!“ teilte er seiner Frau mit und die nickte verständig und wenig später war Semir auf dem altbekannten Weg zur Wohnung seines Freundes.


    Immer wieder versuchten abwechselnd Sarah und Semir Ben anzuwählen, aber es ging einfach niemand ran. Semir hatte das Auto ausgeladen und lief nun mit Tim auf dem Arm, der erstens wieder zahnte und zweitens die Aufregung und Unruhe seiner Mama und des ihm durchaus bekannten Semir spürte, durch die Wohnung und deshalb quengelte, wie Sarah ja schon befürchtet hatte. Um 21.00 Uhr übergab Semir kurz entschlossen den kleinen Tim seiner Mutter und rief in der PASt an. Der Schichtleiter war sofort am Apparat. „Semir was gibt´s?“ fragte er und Semir bat um eine Ortung von Ben´s Handy. Das war zwar eigentlich so nicht gestattet, aber als Semir schilderte, warum sie so besorgt waren, führte der Kollege sie einfach durch. Wenig später rief er bedrückt zurück: „Semir, du glaubst es nicht, aber das letzte Mal als sich das Handy in ein Netz eingewählt hat, war gestern Morgen gegen 10.30 Uhr. Und das war nicht in Südspanien, wie du vermutet hattest, sondern in Tunesien am Rande der Sahara. Leider liegen dort auch die Stationen so weit auseinander, dass wir einen Umkreis von vielen Kilometern haben, in denen er sich aufhalten könnte, ich kann dir nur die ungefähren Daten geben!“ sagte er und Semir fiel beinahe sein Telefon aus der Hand. Nun wusste er sicher, dass sein Bauchgefühl ihn nicht getrogen hatte-irgendwas war mit Ben verdammt nicht in Ordnung, sonst hätte sich der schon längst gemeldet.
    Sarah hatte ihn ängstlich angeblickt und nachdem Semir die Koordinaten notiert und sich bedankt hatte, blickte er zu ihr: „Sarah-ich muss nach Tunesien-Ben ist vermutlich dort!“ sagte er einfach und nun begann Sarah, die Tim inzwischen wieder stillte, um ihn zu beruhigen, leise zu weinen. „Ich weiss es-irgendetwas Schreckliches ist passiert!“ schluchzte sie und das Schlimmste daran war, dass Semir ihr nicht widersprach.

  • Semir überlegte. Was war, wenn man Ben das Handy geklaut hatte und der gar nicht in Tunesien war? Aber warum hatte der sich dann nicht anderweitig gemeldet? Aber um nicht umsonst in der Weltgeschichte herum zu reisen, beschloss er, nun nicht zu vergessen, dass er Polizist war und schließlich andere Möglichkeiten hatte an Informationen zu kommen, wie ein normaler Bürger. „Ich fahre jetzt erst einmal zum Flughafen und versuche da, etwas heraus zu bekommen. Ich halte dich auf dem Laufenden und melde mich sofort bei dir, wenn ich etwas weiss!“ sagte er zu Sarah. Und eingedenk der Tatsache, wie übermüdet Sarah aussah, sagte er noch: „Und leg dich hin-Ben hat nichts davon, wenn du wach bleibst!“ und Sarah nickte gehorsam. Allerdings war sie sich sicher, dass sie nicht würde schlafen können, solange sie nichts über den Verbleib ihres geliebten Partners wusste.
    Semir schrieb Andrea noch eine Kurznachricht, während er zu seinem BMW lief-er wollte sie nicht aufwecken, falls sie schon schlief, aber sie rief ihn unmittelbar danach zurück. „Was ist los Semir? Ist was mit Ben?“ wollte sie alarmiert wissen und er bestätigte das. „Andrea , Ben ist nicht wie verabredet nach Hause gekommen, sein Handy wurde zuletzt gestern Morgen geortet und das war nicht in Südspanien, wie er gesagt hatte, sondern in Tunesien!“ teilte er ihr mit. „Und ich werde versuchen, ihn zu finden!“ fügte er noch hinzu und daran hatte Andrea nun gar keinen Zweifel.


    Weniger als eine halbe Stunde später war Semir am Flughafen, stellte seinen BMW ganz vorne ab und ging in die Abflughalle. Ein Security schnauzte ihn an und wollte ihn auffordern seinen Wagen am Parkplatz abzustellen, aber als Semir seinen Polizeiausweis zückte und ihn drohend ansah, wurde er gleich freundlicher und fragte: „Wie kann ich ihnen helfen?“
    „Mein Kollege ist am Freitagmittag von hier mit einem Privatflugzeug abgeflogen. Ich war der Meinung nach Cartagena in Spanien, aber jetzt gibt es Hinweise, dass er stattdessen nach Tunesien gereist sein könnte. Wie kann man das herausfinden?“ fragte er geradewegs und nach kurzer Überlegung bat ihn der Security, ihm zur Nachtaufsicht des Flughafens zu folgen. Es herrschte zwar ein eingeschränktes Nachtflugverbot, aber die Ausnahmen waren so mannigfaltig, dass trotzdem reger Betrieb herrschte. Die Frau, die konzentriert vor ihrem PC saß, hörte sein Anliegen an und gab dann mehrere Daten in ihren PC ein. Sie konnte die Abflugzeit eingrenzen und wenige Minuten später sagte sie: „Nach Südspanien ist im fraglichen Zeitraum kein einziges Privatflugzeug abgeflogen, allerdings ist ein Learjet nach Monastir in Tunesien gestartet, der Besitzer landet hier sehr oft-es ist ein sogenannter Said Brami!“ und Semir nickte. „Das muss er sein!“ Seine nächste Frage lautete: „Und wie komme ich jetzt so schnell wie möglich nach Tunesien?“ und die Finger der Frau flogen über die Tasten. „Leider geht ausgerechnet von uns aus morgen kein einziger Direktflug-weder nach Monastir, noch nach Tunis. Sie müssten Linie fliegen oder es von einem anderen Flughafen aus versuchen. Allerdings haben sie von uns aus eine ziemlich lange Flugzeit, weil sie zwei Zwischenlandungen haben!“ sagte sie, aber Semir beschloss, dass das egal wäre-Hauptsache er käme so bald wie möglich nach Nordafrika, um seinen Freund zu finden. Er wurde nun zu einer anderen Flughafenmitarbeiterin gebeten, die seine Buchung entgegennahm. Als er allerdings den Preis hörte, wurde ihm fast schlecht. Hin-und Rückflug kosteten fast 2000 €, so nahm er nur den Hinflug-alles Weitere würde sich ergeben. „Sie fliegen morgen um 10.41 Uhr mit Tunis Air über Nizza und Marseille nach Monastir. Die Flugzeit beträgt sechs Stunden und 45 Minuten!“ wurde ihm beschieden. „Und bitte den Reisepass nicht vergessen-nur für organisierte Gruppenreisen genügt der Personalausweis!“ sagte die Dame, die seine Buchung entgegennahm, freundlich. Wie in Trance verließ er nun den Flughafen. Verdammt-mehr konnte er im Augenblick nicht tun!
    In der Zwischenzeit landete der Learjet Brami´s unweit von ihm entfernt auf einem Flugfeld und neben den Haug-Brüdern stiegen da auch zwei milchkaffeefarbige Männer aus, die routiniert die Passkontrolle durchliefen, während die Mechaniker sich daran machten, die Maschine über Nacht auf einem Platz im Hangar, den man mieten konnte, abzustellen.


    Semir rief nun kurz Sarah an, die schon sehnsüchtig auf seinen Anruf gewartet hatte. „Sarah-so wie es aussieht ist Ben tatsächlich nach Tunesien geflogen. Ich reise morgen Vormittag auch dahin, allerdings wird es früher Abend bis ich dort bin!“ teilte er ihr mit und Sarah sagte noch: „Geld spielt keine Rolle-natürlich übernehme ich alle Kosten!“ und Semir nickte und bejahte dann, als ihm bewusst wurde, dass Sarah das ja nicht sehen konnte.
    Nun allerdings hatte er noch eine Idee-wenn das klappte, würde er sich wohler fühlen und so fuhr er danach nach Köln-Kalk in das Viertel in dem er aufgewachsen war. Einer seiner Jugendfreunde, der mit ihm in seiner Clique gewesen war, war Tunesier. Bei ihren Ermittlungen hatte der ihm schon manchmal geholfen und Semir war sich eigentlich sicher, dass in der Teestube, die der betrieb nicht immer Alles mit rechten Dingen zuging, aber manchmal musste man auch ein Auge zudrücken und das war sicher eher ein kleiner Fisch, im Gegensatz zu anderen. Allerdings kannte der sein Heimatland eben besser als er, der dort noch nie gewesen war und vor allem-er beherrschte die Landesprache.
    So hielt wenig später Semir vor der Teestube, die unten in einem schäbigen Haus war, von dessen Wänden der Putz blätterte. Innen roch es durchdringend nach Pfefferminztee und das Lokal war gut besucht-allerdings ausschließlich von arabisch aussehenden Männern, die sich ein Wasserpfeifchen schmecken ließen und sich angeregt unterhielten. Die Wände waren mit Teppichen behängt, man saß auf niedrigen Sitzkissen fast am Boden und schloss dort Geschäfte ab. Welcher Art wollte Semir lieber nicht wissen. Ein arabisch aussehender Mann, allerdings westlich gekleidet, in Semir´s Alter kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. „Semir-welch Glanz in meiner Hütte!“ sagte er herzlich und schloss seinen Jugendfreund in die Arme. „Khaled Nasri-ich brauche deine Hilfe!“ sagte der kleine Polizist ernst, nachdem er die Umarmung herzlich erwidert hatte. „Schieß los-wenn es mir möglich ist, werde ich dir helfen!“ sagte Khaled und bat Semir Platz zu nehmen.


    In der Wüste war inzwischen die Nacht hereingebrochen. Hassan hatte Ben die Flasche wieder abgenommen und seine Frau aufgefordert den Wohnraum zu betreten. Fremden gegenüber waren Muslime von einer großen Schamhaftigkeit geprägt und gläubige Männer und Frauen fühlten sich wohler, wenn man so wenig nackte Haut wie möglich sah. Auch versuchte man eigentlich bei der Versorgung von Kranken Personen gleichen Geschlechts zu bevorzugen, aber Fatima hatte eben viel mehr Erfahrung im Heilen und die Leute, die einen Besuch in den westlich orientierten tunesischen Krankenhäusern scheuten, kamen oft von weit her, um Fatima´s Hilfe in Anspruch zu nehmen. Darum fand Hassan es jetzt nicht schlimm, dass sie sich eingehend um seinen Schützling kümmerte. Wieder hörte sie auf seinen Brustkorb, tastete die Pulse am Hals und an beiden Hand- und Fußknöcheln und ihre Miene wurde sehr ernst. Ben war inzwischen noch kurzatmiger und seine Haut war von einem kalten Schweißfilm überzogen. Erneut flößte ihm die Beduinenfrau einen Schmerztrunk ein, aber Ben war schon so weit weg, dass er bereits Probleme mit dem Schlucken hatte und die Hälfte daneben lief. Fatima brachte ihrem Mann eine Schüssel mit lauwarmem Wasser, in dem sich anregende Öle und Kamelmilch zum Emulgieren befanden. Wie sie ihm auftrug wusch er nun den schwer verletzten jungen Mann, der bei fast jeder Berührung stöhnte, mit dem belebenden Wasser ab. Danach deckte ihn Fatima wieder fürsorglich mit der Kamelhaardecke zu. Sie lauschte auf den Sturm der immer noch um die Höhle brauste. „Wenn nicht ein Wunder geschieht, wird er die Nacht nicht überleben!“ beschied sie ihrem Mann und der nickte traurig.

  • Semir setzte sich mit seinem Jugendfreund ein wenig abseits. „Khaled-ich reise morgen nach Tunesien, weil mein Partner und Freund dort vermisst wird. Ich wollte dich jetzt fragen, was du mir für Tipps hast und ob du mir dort jemanden empfehlen kannst, der mich unterstützt und der Landessprache mächtig ist!“ fragte er. „Oder meinst du ich soll einfach die örtliche Polizei um Mithilfe bitten? Ben ist mein bester Freund, er hat einen vier Monate alten Sohn, eine Verlobte, die sich die Augen ausweint und ich muss ihn einfach finden!“ fügte er hinzu und Khaled wiegte den Kopf hin und her. „Also Semir-das sage ich dir gleich-alleine hast du keine Chance! Und der örtliche Polizeiapparat ist nicht besonders beliebt in meinem Heimatland-auch so wirst du wenig erfahren. Aber ich wollte sowieso mal wieder meine Verwandtschaft besuchen und ein paar Geschäfte abschließen-wie wäre es, wenn ich mitkomme-allerdings zahlst du den Flug!“ bot er an und Semir starrte ihn sprachlos an. „Das würdest du für mich machen?“ fragte er ergriffen und Khaled nickte. „Natürlich Semir-wir sind immerhin alte Freunde und ich habe nicht vergessen, wie oft du mir schon geholfen hast!“ bemerkte er. Nun sagte Semir: „Morgen um 10.41 Uhr geht der Linienflug ab Köln-Bonn. Allerdings fliegt der nicht direkt, sondern über Nizza und Marseille.“ erklärte er. Khaled stöhnte auf-„Oh Mann, da sind wir ja den halben Tag unterwegs, aber egal-holst du mich ab? Ich bin ab sieben Uhr dreißig bereit!“ sagte er und Semir stimmte zu. „Ach ja-und nimm Bargeld mit-das wechseln wir dann in ner Wechselstube in Monastir-wir werden was brauchen um die Informationsbereitschaft meiner Landsleute zu erhöhen!“ empfahl er noch. Semir buchte noch in Khaleds Beisein übers Internet den zweiten Flug, gab auch an, dass sie nebeneinander liegende Sitze haben wollten und dann fuhr er nach Hause, um noch ein paar Stündchen zu schlafen, seine Sachen zu packen und Andrea zu informieren.


    Hassan und Fatima waren nun auch zu Bett gegangen. Fatima stand alle zwei Stunden auf, um nach ihrem Patienten zu sehen, dem es ständig schlechter ging. Seine Lippen waren sehr blau und er war schon wieder von kaltem Schweiß überzogen. Er war zwar noch bei Bewusstsein, aber er merkte wie seine Lebenskraft nach und nach verschwand. Nun würde er doch sterben, ohne seinen Sohn noch einmal gesehen zu haben und Sarah seine Liebe beteuert zu haben, die über den Tod hinausgehen würde. Wenigstens hatte er die rechtlichen Dinge geregelt und nicht nur dass Tim sein Erbe war-nein er hatte schon vor dessen Geburt Sarah so versorgt, dass die ohne finanzielle Sorgen weiterleben konnte. Sein Beruf war schließlich gefährlich und er wollte seine Lieben abgesichert sehen, falls ihm etwas zustieß-und jetzt war es so weit-er sah es in den Augen der alten Beduinenfrau, die ihn mitleidig anblickte, ihm das Gesicht abwusch und ihm schluckweise Wasser anbot, das ihm immer schwerer fiel zu sich zu nehmen. Dummerweise war er jetzt eigentlich nicht in Ausübung seines Berufs zu Schaden gekommen, sondern aus privater Blödheit und er verfluchte sich innerlich deswegen, aber nun war es zu spät! Er dämmerte wieder weg, während die Beduinenfrau im Schlafzimmer daneben auf das Tosen des Sturms lauschte.


    Zwei Stunden später erwachte Fatima. Als sie die Augen öffnete fiel ihr als Erstes die absolute Stille auf die herrschte. Der Sturm hatte aufgehört. Sie schlüpfte aus dem Bett, um als erstes nach zu sehen, ob ihr Patient überhaupt noch lebte, aber als sie ins Wohnzimmer kam hörte sie schon seinen angestrengten Atem, der in hoher Frequenz in seine Lunge strömte. Eilig ging sie ins Schlafzimmer zurück und schüttelte Hassan. „Mann-wecke unsere Söhne-unser Patient muss sofort ins Krankenhaus!“ sagte sie bestimmt und Hassan erhob sich folgsam. Wenn seine Frau in diesem Ton mit ihm sprach, war Widerspruch zwecklos und so warf er seinen Kaftan über, schlang aus alter Gewohnheit seinen Turban um den Kopf und ging nach draußen, um aus den danebenliegenden Wohnhöhlen Ahmed und Ismael zu holen.
    Es war geisterhaft still, der Vollmond schwebte zum Greifen nah über dem Bergmassiv in das schon vor Jahrtausenden von ihren Vorfahren ihre Wohnungen geschlagen worden waren und erhellte die Wüste mit seinem geisterhaften Licht. Es war gerade drei Uhr morgens, aber jetzt würde man versuchen seinem Gast zu helfen-wenn das Allah´s Plan war.

  • Ismael und Ahmed zogen sich ohne Murren an und Ismael machte den großen, zwar älteren, aber dafür PS-starken Pick Up klar, an dem vorne für alle Fälle ein absenkbares Räumschild montiert war. Meist war die Piste an manchen Stellen unter einer Sandschicht verborgen, wenn die Naturgewalten getobt hatten und mit einem normalen PKW war dann kein Durchkommen. Bis die Behörden die Straße räumte, würden Tage vergehen, daher mussten sie sich da selber helfen. Während Hassan zum Transport einen weichen dicken Teppich auf der Ladefläche ausbreitete, versuchte Fatima ihrem Patienten noch zum letzten Mal einen schmerzlindernden Trank einzuflößen, aber Ben machte zwar die Augen, während er mühsam nach Luft rang, noch einen kleinen Spalt auf und erkannte die Heilerin, aber er konnte nicht mehr schlucken und die Flüssigkeit lief ihm seitlich wieder aus dem Mund. Das würde schwer werden, wusste nun Fatima und legte ihm stattdessen ihre verschrumpelte Hand auf die Stirn und schickte ihm mental ihre Kraft, während sie in leisem Singsang ein paar Gebete sprach.


    Schon standen nun Ahmed und ihr Ältester hinter ihr und hatten wieder das Tragetuch mitgebracht, mit dem sie ihn schon herein befördert hatten. Als sie Ben leicht drehten, um das Tuch unter ihn zu schieben, stöhnte er auf, obwohl er dazu eigentlich keine Luft mehr hatte. Mit Hassan´s Hilfe trugen sie ihn hinaus und legten ihn auf der Ladefläche ab. Fatima brachte noch die warme Decke nach, in die sie ihren Patienten fürsorglich einhüllte und schon setzte sich Ismael hinters Steuer und sagte etwas zu seinem Bruder, der daraufhin den Kopf schüttelte und zu Ben auf die Ladefläche kletterte, anstatt auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Fatima bedachte ihren jüngeren Sohn mit einem liebevollen Blick, die beiden alten Leute verabschiedeten sich durch Neigen ihres Kopfes und schon ging die Fahrt rumpelnd los.


    Ben meinte, er müsste vor Pein regelrecht explodieren, als das Fahrzeug sich in Bewegung setzte. Der Weg war uneben und von Schlaglöchern übersät. Während der Mond weiter auf die riesige Wüste schien, in der ein Menschlein kleiner als eine Ameise wirkte, kämpfte sich das Geländefahrzeug Kilometer für Kilometer in Richtung Küste. An manchen Stellen war die Piste vom Sturm frei geblasen, dann wieder musste Ismael sein Räumschild absenken und den Sand beiseiteschieben. Gerade diese rumpelnden Stöße von unten brachten Ben beinahe um den Verstand. Er verkrampfte seine Hände und kniff die Augen zusammen. Als sein Kopf mehrmals auf die mit dem Teppich gepolsterte Ladefläche schlug, rutschte Ahmed näher und bettet ihn auf seinen Schoß, während er immer wieder beruhigend „Wird Alles gut!“ sagte.


    Ben hatte eigentlich ja auch gar keine Ahnung, wo die Reise hinführte. Vielleicht brachten ihn die beiden Männer ja wieder zurück an den Ort, wo ihn Hassan gefunden hatte, damit er dort sterben sollte? Vielleicht hatte die Heilerin die Aussichtslosigkeit seiner Situation erkannt und gemerkt, dass er sowieso bald sterben würde und wollte keinen Toten im Haus haben? Was sie vorher gemurmelt hatte, hatte schon ein wenig wie ein Totengebet gewirkt. Als nun allerdings Ahmed seinen Kopf bequemer bettete, verwarf er diesen Gedanken wieder und eigentlich hatte er mit seinem Leben ja auch schon abgeschlossen-warum machte er sich denn noch Gedanken über sowas? Plötzlich schlingerte das Fahrzeug und blieb in einer kleinen Sanddüne stecken. Fluchend stellte Ismael den Motor ab und während Ahmed vorsichtig unter Ben´s Kopf herauskroch, nahm er schon zwei Klappspaten aus einer Halterung am Rande der Ladefläche. Schweigend schaufelten die beiden Männer und irgendwann probierte Ismael das Fahrzeug wieder zurück auf die Piste zu bringen, was aber erst einmal nicht gelang. Nach weiterem Schaufeln legten sie nun Matten unter und mit einem Sprung, der Ben laut aufbrüllen ließ und einen unsäglichen Schmerz durch seinen Rücken sandte, ratterte der Pick Up wieder zurück auf die Straße. Irgendwie funktionierte das mit dem Sand genauso wie bei ihnen zuhause im Winter, stellte Ben fest-ob er wohl noch einmal in seinem Leben Schnee sehen würde?


    Nach etwa dreistündiger Fahrt waren sie auf einmal aus der Wüste. So feindselig und karg die Gegend zuvor gewesen war, so verschwenderisch grün und saftig war die fruchtbare Küstenregion. Jahr für Jahr schob sich die Sahara weiter vor und brachte ganze Landstriche zum Austrocknen, aber da wo es Regen gab und wo man auch künstlich bewässern konnte, war es einfach wundervoll. Dattelpalmen und Olivenhaine säumten die Straße, die nun frei befahrbar war und die Stadt begann gerade zu erwachen. Es war kurz nach sechs Uhr morgens und Ismael und Ahmed hatten zuvor schon beschlossen, in welcher Klinik sie Ben abgeben würden. Die reichen Leute wurden in der Universitätsklinik oder teuren Privatkliniken behandelt, aber für die Grundversorgung der Bevölkerung gab es Polikliniken, die von der staatlichen Gesundheitsbehörde unterhalten wurden. Die standen auch in keiner vornehmen Gegend, sondern mitten im Arbeiterviertel und gerade als die Morgendämmerung sich zu zeigen begann, waren sie vor dem ausgewählten Krankenhaus angekommen.
    Ismael hielt aber nicht direkt vor der Notaufnahme an, sondern fuhr in die nächste Seitenstraße. Ahmed, der sich wieder als Ben´s Kopfstütze verdingt hatte und dem Patienten, der inzwischen vor Kälte und Schock zitterte, versucht hatte mit seinem Körper etwas Wärme zu geben, verlangte zu wissen, was das sollte. Sein Bruder erklärte ihm, dass man nicht zurückverfolgen können sollte, wo der Kranke herkam. Wenn Brami irgendwie eine Verbindung zu ihrem Clan herstellen könnte, würden sie das büßen müssen und da hatte Ismael nun gar keine Lust darauf-ebenso wenig wie wohl jeder andere. So stimmte ihm Ahmed widerstrebend zu und half nun seinem Bruder, Ben mit dem Tuch, das noch unter ihm lag, von der Ladefläche zu hieven. Sie hatten sich furchtsam umgesehen, aber in dieser Seitenstraße war noch keiner unterwegs und so legten sie Ben einfach auf dem Bürgersteig ab. Die handgewebte Kamelhaardecke und das Tuch nahmen sie wieder mit und ließen ihm nur den Kaftan. Ahmed sagte nur noch schnell: „Sorry!“ zu Ben, der vor Atemnot und Schmerzen gerade fast ohnmächtig wurde und dann stiegen sie wieder ins Fahrzeug und Ismael gab Gas. Als eine Straßenkreuzung später ein etwa zehnjähriger Junge in zerlumpten Klamotten über die Straße lief, zwang Ahmed seinen Bruder anzuhalten. Er stieg aus, zückte seine Geldbörse und gab dem Jungen fünf Dinar, was etwa zwei Euro entsprach. In wenigen Worten erklärte er ihm, dass er dafür in die Notaufnahme gehen sollte und Bescheid sagen, dass er unweit des Eingangs eine hilflose Person gefunden hatte. Der Junge nickte und Ahmed beobachtete noch, wie der Junge im Krankenhauseingang verschwand, um den Auftrag auszuführen. Sein Tag war gerettet-für das Geld konnte er sich und seine Familie heute mit Lebensmitteln versorgen und musste nicht vor den Touristenhotels betteln, was sonst seine Aufgabe war.
    Ismael fuhr nun wieder los und in diesmal wesentlich kürzerer Zeit waren sie wieder zurück in ihrer Wohnsiedlung, wo bereits ein wohlschmeckendes Frühstück auf sie wartete.


    Semir hatte Andrea, die wach im Bett lag und vor Sorge um Ben-und vielleicht auch wegen dem Vollmond- nicht schlafen konnte, kurz Bescheid gesagt, was Sache war und hatte dann bis sechs geschlafen. Er duschte, packte eine kleine Reisetasche, kontrollierte ob sein Pass noch gültig war und rief dann kurz vor sieben Sarah an. Er teilte ihr mit, dass er Unterstützung durch einen Tunesier haben würde und Sarah, die eine unruhige Nacht hinter sich hatte, aber trotzdem immer mal wieder eingenickt war, bedankte sich und sagte: „Semir-gib mir deine Kontodaten durch-ich überweise dir gleich eine größere Summe-erstens für die Flüge und zweitens zur Finanzierung der Ermittlungen!“ und Semir bedankte sich. Er hätte zwar für seinen Freund jederzeit sein Konto überzogen, aber nachdem er ja über dessen finanziellen Background Bescheid wusste, war das so auch in Ordnung. Andrea, die gerade die Mädchen für Schule und Kindergarten fertig machte, rief ihm noch zu, er solle Sarah ausrichten, dass sie nachmittags mit den Kindern bei ihr vorbeikommen wolle und Sarah freute sich deswegen. Dann sagte sie ernst zum Abschied: „Gute Reise Semir-und bring mir meinen Partner und Tim seinen Vater bitte wieder zurück!“ woraufhin sie zu weinen begann. „Ich werde tun, was in meiner Macht steht!“ erwiderte Semir betroffen und legte gedankenverloren auf. Allerdings hörte er nun in sich hinein und sein Gefühl sagte ihm, dass Ben noch am Leben war und seinem Bauch konnte er trauen!

  • In Sousse war der zerlumpte Junge inzwischen in die Notaufnahme gegangen. Auftragsgemäß sagte er zu einem Pfleger, der ihm über den Weg lief: „Da draußen in der Nebenstraße liegt jemand am Boden!“ und der Mann nickte ihm zu. „Schon gut-schau dass du hier rauskommst!“ herrschte er ihn an, denn die Armut und das Elend sprachen aus den alten Gesichtszügen und der Kleidung des Jungen, nicht dass der noch irgendein Ungeziefer hier ließ. Der Junge verschwand und ging, die Geldscheine fest in der Hand haltend, zu seiner Familie zurück. Er würde später mit seinem Bruder in den Souk einkaufen gehen-sie würden mal wieder alle satt werden! Als er draußen war, lenkte er seine Schritte dann doch noch neugierig zu der Seitenstraße. Nachdem im Moment noch keine Bewegung in der Notaufnahme war, ließ er sich vor dem Mann, der da eiskalt im schmutzigen Rinnstein lag, auf die Knie nieder. Wenn er nicht so angestrengt geatmet hätte, hätte man meinen können, er wäre schon tot. Seine Gesichtsfarbe war leicht bläulich und er war von kaltem Schweiß überdeckt.
    Der Bruder des Jungen war bei einem Terroranschlag auf einen tunesischen Politiker ums Leben gekommen-er zählte sozusagen zu den Kollateralschäden. So sehr seine Familie um ihn getrauert hatte-von staatlicher Seite oder dem Polizeiapparat kam kein Wort des Bedauerns. Wie in vielen Ländern der Erde waren arme Leute auch in Tunesien nicht angesehen! Dabei konnten Yasser´s Eltern da nichts dafür-der Vater war an Krebs erkrankt und konnte nicht mehr arbeiten, früher war er Hafenarbeiter in Port-el-Kantaoui, dem Hafen von Sousse gewesen und hatte mit Leichtigkeit seine Familie ernährt. Das war nun schon eine Weile vorbei und die Mutter hatte einfach zu viele Kinder, um die sie sich kümmern musste-sie war ständig schwanger und jeden Tag kämpfte die große Familie ums Überleben. So mussten alle älteren Kinder mitarbeiten und versuchen, Geld zu beschaffen. Yasser fasste den fremden Mann vorsichtig an und der schlug nun die Augen auf und sah ihn mit einem dermaßen schmerzvollen Blick an, dass es dem Jungen kalt über den Rücken lief. Dieser Mann brauchte sofort medizinische Hilfe, sonst würde er sterben, erkannte der Zehnjährige, der leider schon mehr vom Leben gesehen hatte, als so viele Kinder seines Alters. Er überlegte kurz, aber dann drehte er sich um und ging nochmals zurück in die Notaufnahme, wo sich immer noch niemand in Bewegung gesetzt hatte.


    Der Pfleger hatte auf die Uhr gesehen. In fünfzehn Minuten hätte er Feierabend nach einem anstrengenden Nachtdienst. Wie fast überall auf der Welt war man als Pflegepersonal unterbezahlt für die schwere und verantwortungsvolle Arbeit, die man leistete. Er beschloss, sich jetzt noch ein wenig Zeit zu lassen und den Kollegen von der Tagschicht, die in Kürze eintreffen würden, von dem Fund des Jungen in der Seitenstraße berichten-er wollte jetzt nicht noch eine Arbeit anfangen, so kurz vor Dienstschluss! Als dann die Kollegen kamen, machte er ihnen Übergabe über die Ereignisse der Nacht und irgendwie vergaß er das zu erwähnen und machte sich wenig später müde auf den Weg nach Hause.
    Yasser war nun zurück ins Krankenhaus gegangen. Er sah sich in den schmutzigen Gängen um, ob da niemand dem fremden Mann zu Hilfe kam, aber nichts rührte sich. Eine Weile suchte er herum und stieß dann beherzt eine Tür auf, hinter der mehrere Ärzte und Pflegepersonal beim Kaffee saßen und sich auf die kommende Schicht einrichteten. „Bitte kommen sie sofort! Draußen liegt ein Mann im Rinnstein-der stirbt!“ rief er laut und sofort erhoben sich zwei Pflegekräfte und ein Arzt. Sie packten eine fahrbare Trage und folgten Yasser zu ihrem neuen Patienten. Als sie bei Ben ankamen, sah der den Jungen voller Dankbarkeit an-dessen Gesichtszüge hatten sich in sein Gehirn gebrannt. Yasser beobachtete noch, wie sich der Arzt nun zu dem Mann im weißen Krankenkaftan mit den behelfsmäßigen Schienen an Arm und Bein herunterbeugte und ihn prüfend ansah. Der war sicher auch arm-zwar gut genährt, aber wenn ihn seine Verwandten einfach so vor dem Krankenhaus ablegten, ohne ihn direkt in der Notaufnahme abzugeben, hatten sie vermutlich kein Geld um die teureren Behandlungen zu übernehmen. Die medizinische Grundversorgung der tunesischen Bevölkerung war um Welten besser als im restlichen Afrika, aber trotzdem waren da deutliche Abstufungen-gerade im Vergleich mit Europa- gegeben. Diese Poliklinik hier wurde von der staatlichen Krankenversicherung unterhalten-man machte die billigste Behandlung und Diagnose. Die apparative Ausstattung war bescheiden und die Ärzte und Pfleger waren schlecht bezahlt, also arbeiteten hier nicht die besten Kräfte. Wer gut war, hatte eine Anstellung in den vielen Privatkliniken, die westlichen Standard boten, die weniger Engagierten schafften an der Uniklinik und sozusagen der Ausschuss des medizinischen Personals landete in den Polikliniken. Viel Arbeit, schlechte apparative Ausstattung, keine Weiterbildung und Hygienemängel sorgten für eine große Unzufriedenheit der Mitarbeiter, die dementsprechend wenig motiviert waren.
    Aber über diese ganzen gesundheitspolitischen Dinge brauchte sich Yasser nicht zu kümmern und hatte da auch keine Ahnung davon. Er machte sich nun endgültig auf zu seiner Familie und freute sich schon auf ein gutes Mittagessen. Er hatte seinen Auftrag erledigt und konnte nun das Geld voller Überzeugung nehmen!


    Der ältere arabische Arzt sprach Ben an, der mühsam nach Luft schnappte, aber kein Wort davon verstand, was der sagte. Er hätte aber auch nicht antworten können, denn seine Luft reichte gerade noch so zum Überleben, aber nicht zum sprechen. „Heben wir ihn auf die Trage und bringen ihn rein!“ befahl der Arzt, der sah, dass es bei seinem Patienten kurz vor knapp war. Der Pfleger und die Schwester packten gemeinsam mit dem Arzt an und als sie ihn irgendwie hoch hoben, tat es Ben so weh, dass er noch einen kurzen Schrei ausstieß und dann das Bewusstsein verlor. Eilig wurde die Trage in die Notaufnahme gefahren und als man dort den Kaftan wegnahm, sagte der Pfleger, der einen routinierten Blick über seinen Patienten schweifen ließ: „Ein Ungläubiger!“ denn Ben war nicht beschnitten.

  • Sowohl der Arzt als auch der Pfleger waren Salafisten-eine fundamentalistische Ausrichtung des Islam, die sich auf die alten Lehren Mohammeds bezog. In Tunesien war der Islam Staatsreligion, von staatlicher Seite her herrschte seit der Revolution 2011 allerdings Religionsfreiheit. Die Salafisten hatten die Errichtung eines Gottesstaats mit in ihrem Programm und verurteilten die bislang westliche Ausrichtung ihres Heimatlandes. Während die junge Schwester, die mit in der Notaufnahme war, zwar auch Sunnitin war, wie die beiden anderen auch, fehlte ihr aber jegliche Radikalität. Für sie war der Glaube zwar selbstverständlich, aber sie war eine Mitläuferin, die ihre Gebete eher lustlos absolvierte, weil man das eben so machte. Der Arzt und der Pfleger hingegen, wie noch viele andere Mitarbeiter dieser Poliklinik, waren sehr gläubig und würden außer vielleicht einer Reanimation fast jede Arbeit unterbrechen, um ihren Gebetsteppich auszurollen und gen Mekka gerichtet ihre Pflichtgebete zu verrichten. Man würde also einen Ungläubigen zwar behandeln, denn wenn sie das nicht taten, würden sie Ärger mit der Klinikleitung kriegen, aber es musste keine besonders gute Behandlung sein-schließlich war das Opfer ja im Sinne ihres Glaubens nichts wert!


    So untersuchte der Arzt kurz den immer noch bewusstlosen Ben. Man wickelte die Schienenverbände ab und besah sich die Frakturen. Ben´s ganze linke Seite war eigentlich tiefblau, man konnte schon mit dem bloßen Auge die Fehlstellungen in Arm und Bein erkennen und als der Arzt auf die linke Thoraxseite drückte, war die instabil. Er hörte den Brustkorb ab und während Ben immer noch ohne Bewusstsein nach Atem rang, drückte ihm die junge Schwester wenigstens eine Ohiomaske aufs Gesicht und drehte den Sauerstoff voll auf. „Links sind keine Atemgeräusche zu hören und das Herz schlägt auch unregelmäßig und schnell!“ berichtete der Arzt. „Wir machen einige Röntgenaufnahmen vom Brustkorb und den Extremitäten und sehen dann was zu tun ist!“ bemerkte er kurz angebunden, schrieb eine Röntgenanforderung aus und breitete den Kaftan wieder über Ben.
    Der Pfleger packte die Trage und schob sie aus dem Zimmer. Ben hatte mit Sauerstoff wieder eine rosigere Farbe angenommen, aber darauf nahm der Pfleger keine Rücksicht. Er ließ die Maske im Behandlungsraum zurück und die junge Schwester traute sich auch nichts zu sagen, denn Frauen hatten im Glaubensverständnis dieser beiden Männer sowieso keine Meinung zu haben. Sie war froh, dass es in ihrem Elternhaus gemäßigt zuging. Keine Frau ging verschleiert und sie tranken auch mal Alkohol, obwohl das einem Gläubigen nach den Lehren Mohammeds ja eigentlich streng verboten war. Aber man musste, um zu überleben und nicht angegriffen zu werden wissen, wann man den Mund zu halten hatte und so hoffte sie einfach für den gutaussehenden jungen Mann auf der Trage, dass er das überstehen würde.
    In der Röntgenabteilung zog man Ben nachlässig auf den Röntgentisch. Die junge Schwester, die ihn begleitete war fast froh, dass er immer noch bewusstlos war-die Schmerzen wären sonst wohl nicht zu ertragen gewesen. Wenn statt diesem Europäer-wie sie zumindest der Optik nach vermutete-ein gläubiger Sunnit auf dem Tisch gelegen hätte, hätte man dem zuerst einmal einen Zugang gelegt und ein Schmerzmittel verabreicht. Man hätte Labor abgenommen, ein EKG geschrieben und ihn natürlich mit Sauerstoff transportiert, aber sie konnte leider nichts gegen diese Zwei-Klassen-Medizin machen.
    Man fertigte mehrere Röntgenaufnahmen an und während der Pfleger sich mit dem Röntgenassistenten unterhielt und ihm zusah, wie der die Bilder entwickelte, griff die junge Schwester nach einem feuchten Tuch und wischte voller Mitleid das schweißnasse Gesicht des Patienten ab. Wenig später fuhren sie mit den Bildern zurück in den Behandlungsraum, wo der Arzt einen flüchtigen Blick darauf warf. Gut-wenn er jetzt nichts unternahm, würde der junge Mann in Kürze sterben und weil er keinen Ärger haben wollte, befahl der Doktor, dass sie nun eine Thoraxdrainage legen würden. Die eine Hälfte des Brustkorbs war nämlich nicht belüftet und man konnte einen sogenannten Spannungspneumothorax mit Mittellinienverschiebung erkennen, das bedeutete, dass Luft oder Blut den Brustkorb auf einer Seite ausgefüllt hatten und nun begannen das Mediastinum auf die andere Seite zu drücken. Das erklärte auch die Herzgeräusche, weil auch das durch den Druck verschoben wurde und dagegen mit Extrasystolen oder anderen Rhythmusstörungen reagierte, die für sich alleine schon zum Tode führen konnten. Außerdem wurde dadurch die Oberfläche für den Gasaustausch immer kleiner und so würde der Patient, wenn ihn nicht die Herzproblematik dahinraffte, sonst langsam ersticken und der Zeitpunkt war nicht mehr weit weg!


    Die Trage wurde in der Raummitte arretiert und die junge Schwester legte wieder unauffällig die Sauerstoffmaske über Mund und Nase des Patienten, während ihr Kollege eine kleine elektrische Motorpumpe, zwei Gläser, davon eines mit 20cm hoch Wasser gefüllt und letztendlich das Sterilgut zum Legen der Drainage herrichtete. In der Klinik in der die junge Schwester erst kürzlich noch gelernt hatte, hatte man bereits das in der ganzen westlichen Welt verbreitete, geschlossene Thoraxdrainagesystem Pleur Evac verwendet, aber hier ging man noch so vor, wie vor dreißig Jahren. Einzig der Schlauch an sich war aus einem starren Kunststoff und Einmalmaterial-alles andere wurde aufbereitet und wiederverwendet.
    Der Pfleger hatte sehr nachlässig und ohne die Regeln der Asepsis zu beachten ein grünes Stofftuch auf dem Instrumententisch ausgebreitet. Ein Skalpell, mehrere Klemmen, stabile Scheren, Nadelhalter, Nadeln und Fäden aus einem altertümlichen Nahttisch bereitete er vor. Dazu ein Abdecktuch aus Stoff und wiederaufbereitete Sterilhandschuhe, die sehr selten noch ganz dicht waren. Kurz sprühte er auf den Brustkorb eine winzigen Menge Desinfektionsmittel und befahl dann der jungen Schwester Ben´s Arm kopfwärts nach oben zu ziehen. Dessen Augenlider flatterten ein wenig und sie fragte schüchtern nach einer Lokalanästhesie, aber der Arzt bedachte sie mit einem wütenden Blick. „Der Patient ist bewusstlos-der braucht nichts!“ beschied er ihr und schlüpfte, ohne die Hände zu desinfizieren oder einen Kittel, Haube und Mundschutz anzulegen, wie das eigentlich vorgeschrieben war, in die Handschuhe. Schon morgens hatte die Schwester mit Abscheu die Trauerränder unter den Nägeln des älteren Arztes gesehen, er hielt nicht sonderlich viel von waschen und desinfizieren-aber er würde nie irgendein Pflichtgebet versäumen. Dessen Gewichtung lag klar woanders, aber nicht bei der Hygiene.
    Nun schmiss er einfach das Lochtuch über Ben´s Brustkorb, tastete mit dem Finger einen Zwischenrippenraum ein wenig unterhalb von Ben´s Achsel, die mit Haaren bedeckt war-in der vorigen Klinik hätte man die abrasiert und das OP-Gebiet dreimal mit farbigem Desinfektionsmittel abgestrichen-aber voller Verzweiflung konstatierte die junge Schwester, dass hier andere Regeln galten als anderswo. Nun schnitt der Arzt beherzt ein Loch mit dem Skalpell in die Haut und die junge Schwester bemerkte in diesem Augenblick, dass sich ihr Patient anspannte. „Ich glaube er wird wach!“ rief sie angstvoll, aber als einzige Reaktion auf ihre Meldung schmiss sich nun der ältere Pfleger mit seinem ganzen Körper auf Ben und hielt den fest, während der Arzt nun mit dem Finger zwischen Ben´s Rippen verschwand und mit der anderen Hand die Schere führte. In diesem Augenblick war Ben von diesem infernialischen Schmerz völlig wach. Voller Panik blickte er um sich, aber er wurde festgehalten, während der Arzt stoisch das Loch vergrößerte, bis er den Pleuraraum erreicht hatte. Kaum war der eröffnet schoss das Blut regelrecht heraus und traf voll den Arzt, der zu spät zur Seite sprang. Auf dem Boden bildete sich eine Lache und die Hosenbeine und die restliche Kleidung des Arztes tropften nur so vor Blut. Allerdings ging es Ben nun von Sekunde zu Sekunde besser, denn nachdem der Druck weg war, rutschte das Herz wieder an seinen angestammten Platz zurück und wenn auch die linke Seite der Lunge noch nicht belüftet war, er war ja jung und sportlich-ohne Anstrengung genügte auch eine Lungenhälfte um seinen Körper mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen. Außerdem wurde er durch die Maske auf seinem Gesicht ebenfalls versorgt und so war er blitzewach und spürte den Schmerz in seiner ganzen Intensität. Während er laut zu brüllen begann, schob der Arzt nun die Thoraxdrainage in den Zwischenrippenraum und nähte sie mit groben Stichen fest. Ben weinte und tobte, aber er wurde eisern festgehalten, bis der Arzt fertig war. Nun ließ ihn der Pfleger los und schloss die Wasserschlosssaugung an, deren Pumpe mit sonorem Geräusch ihre Arbeit aufnahm. Immer rosiger wurden Ben´s Lippen, der inzwischen zitterte und jede Gegenwehr aufgegeben hatte.
    „Ich gehe mich umziehen-bitte gipsen sie die Frakturen ein!“ befahl der Arzt stocksauer und ging aus dem Raum und hinterließ eine blutige Fußspur. Während die junge Schwester vorsichtig einen sterilen Verband um die Einstichstelle der fingerdicken Thoraxdrainage legte, weichte der Pfleger die Gipsbinden ein und begann wenig später Ben´s Extremitäten darin einzuwickeln.

  • Die junge Schwester musste mithelfen, aber als sie ihren Kollegen unglücklich fragte, ob man denn die Brüche, die ja deutliche Fehlstellungen aufwiesen, nicht operieren, oder zumindest ordentlich einrichten müsse, zuckte der mit den Schultern. „Erstens bin ich kein Arzt und kann das nicht beurteilen, sondern führe hier nur eine dienstliche Anweisung aus und zweitens ist das ein Ungläubiger, wenn der ein Krüppel bleibt, dann war es Allah´s Wille um ihm und der Welt zu zeigen, dass nur der wahre Glaube zum Heil führt!“ erklärte er, während er weiter, für Ben ausgesprochen schmerzhaft, die Gipsbinden wickelte. Nach einer Weile, als sie fast fertig waren, fügte er hinzu: „Und außerdem wird das Krankenhaus vermutlich keinen einzigen Dinar für diese Behandlung sehen. Wenn er Geld hätte, hätten ihn seine Angehörigen nicht gerade vor unserer Klinik abgelegt, sondern ihn ganz ordentlich in die Notaufnahme einer Privatklinik gebracht. Hier will sich nur jemand Leistungen unseres vorbildlichen Gesundheitssystems erschleichen!“ erklärte er und nun schwieg die junge Schwester. Mit diesem Kollegen brauchte man nicht zu diskutieren, aber eines wusste sie-sobald sie eine Anstellung in einer anderen Klinik finden würde, wäre sie hier weg. Nur waren die Stellen eben rar gesät und direkt nach der Ausbildung ohne Berufserfahrung hatte man da die größten Schwierigkeiten. Allerdings durfte sie hier auch nicht mucken oder besonders auffallen, denn dieser Kollege hier würde an ihrem Zeugnis mitschreiben und wenn das schlecht ausfiel, sah ihre berufliche Zukunft nicht rosig aus. Deshalb hielt sie so vorsichtig wie möglich Ben´s Arm und Bein, während der die Augen geschlossen hatte und stoßweise atmete.
    Der Behälter der Thoraxsaugung war inzwischen schon wieder mit Blut gefüllt und bevor man ein Bett orderte und Ben auf Station brachte, war es ihre Aufgabe mit einer großen Klemme den Schlauch abzuklemmen, damit der Unterdruck nicht verloren ging und dann das Glas auszuleeren. Der Pfleger hatte seine Arbeit beendet und schrieb noch etwas, während die Schwester das Behandlungszimmer sauber machen musste. Wenig später kam eine Schwester von Normalstation, die trotz der frühen Morgenstunde schon fertig aussah und schob ein Bett herein. Gemeinsam zogen sie Ben, der dabei einen lauten Schrei ausstieß in das Bett und als die junge Schwester ihren Vorgesetzten fragte, ob er nicht ein Schmerzmittel haben könne, schüttelte der den Kopf. „Wenn er eines kriegen sollte, hätte der Arzt es angeordnet!“ beschied er und so wurde Ben mitgenommen und die junge Schwester sah ihm sinnend nach. Was hatte der verbrochen, dass man ihn dermaßen schlecht behandelte? Aber dann kam der nächste Notfall und wenig später dachte sie einfach nicht mehr an ihn, das gab am wenigsten Ärger.


    Semir war nach einer kurzen Nacht zeitig aufgestanden und hatte ein paar Sachen in eine Reisetasche geworfen. Dann hatte er geduscht, gefrühstückt und sich von seiner Familie verabschiedet. „Komm gesund wieder-und bring Ben mit!“ sagte Andrea, während sie ihn liebevoll küsste und Semir sagte ernst: „Ich werde mein Möglichstes tun!“ Während er mit dem BMW zu seinem Freund Khaled fuhr, rief er nochmals in der PASt an, wo inzwischen Susanne ihren Dienst aufgenommen hatte. „Susanne, ich fliege heute nach Tunesien-Ben ist dort verschollen!“ sagte er und Susanne hielt beinahe die Luft an vor Schreck. „Ich habe gestern schon Ben´s Handy orten lassen, aber vielleicht kannst du noch irgendwas rausfinden, was uns weiterhilft!“ sagte er und Susanne versprach, es zu versuchen. Bewusst fragte Semir nicht nach der Chefin-wenn er Ben nicht sofort fand, würde er am Mittwoch nicht zum Dienst erscheinen können, aber das würde er klären, wenn es so weit war! Es gab wichtigere Dinge im Leben als Arbeit und da zählten Familie und Freunde in erster Linie dazu! Er verabschiedete sich von Susanne und bog auch schon in Khaled´s Straße ein. Der war fertig und wenig später machten sie sich auf den Weg zum Flughafen.

  • Wenig später stellte Semir den BMW auf einem der Langzeitparkplätze ab. Klar hätte er das organisieren können, dass sie jemand herfuhr, aber nachdem sie nur kleines Gepäck hatten, hatte er beschlossen die Parkgebühr zu bezahlen-es war einfach besser wenn man nach Hause kam und dann das Auto griffbereit war-außerdem hoffte er ja, dass er bald mit Ben im Schlepptau wieder einreisen würde, er hatte eigentlich nicht vor, nur eine Stunde länger als nötig in Tunesien zu bleiben.
    Nachdem sie pünktlich gute zwei Stunden vor dem Abflug eingecheckt hatten, verbrachten sie noch eine ganze Weile auf dem Flughafengelände und gönnten sich einen Kaffee. Semir betrachtete den Duty-Free- Shop und beschloss, Andrea nach dem Rückflug ihr Lieblingsparfum von dort mitzubringen. Als er das Khaled mitteilte, lachte der auf. „Semir, wir fliegen nach Tunesien-sag mir was du brauchst und ich werde dir für einen Bruchteil dessen, was du hier zahlst, im Souk alles besorgen, was du möchtest!“ sagte er und Semir nickte dankend. Dann erzählten sie noch von alten gemeinsamen Freunden, bis es Zeit wurde die Maschine nach Nizza zu besteigen. Kurz nach dem Abflug erwähnte Semir den Namen Said Brami und erklärte Khaled, dass dem der Learjet gehörte, mit dem Ben ausgereist war und jetzt wurde Khaled plötzlich blass. „Semir-wenn ich das eher gewusst hätte, wäre ich vielleicht nicht mitgeflogen. Das ist einer der einflussreichsten Wirtschaftsmogule Tunesiens. Der hat sein eigenes Imperium erschaffen und er hat sozusagen eine Privatarmee. Wenn man sich mit dem anlegt, liegt man vielleicht bald als Skelett in der Sahara, oder wassert mit Betonschuhen im Mittelmeer!“ erklärte er Semir und dem wurde angst und bang, als er das hörte-allerdings nicht um sich persönlich, sondern um Ben. Als er dann allerdings in sich hinein hörte, war er sich sicher, dass der noch lebte-etwas anderes war er auch nicht bereit zu akzeptieren!


    Ben war derweil von der gehetzten Schwester, die zuhause fünf Kinder zu versorgen hatte und eine fast schlaflose Nacht hinter sich hatte, in den Krankensaal gebracht worden. Das Krankenhaus hatte viele Ein-und Zweibettzimmer, aber eben auch noch große Säle in denen die weniger bemittelten Patienten untergebracht wurden. Sie arretierte Ben´s Bett und steckte die Motorsaugung an die Steckdose. Dann ging sie wieder, um schon den nächsten Zugang zu holen. Nachdem Ben nach einer Weile zu Atem gekommen war-zu schlimm und schmerzhaft waren die Ereignisse der letzten Stunde gewesen-sah er sich um. Er lag ein wenig abseits in einem großen Raum. Dort waren zwölf Betten, die als einzigen Luxus Räder hatten. Das Hoch-und Flachstellen funktionierte mechanisch, nicht so luxuriös mit Elektromotor wie in den meisten deutschen Krankenhäusern. Wenn ihm also niemand half, hatte er keine Chance sein Bett zu verstellen, um bequemer zu liegen. Auch die Matratze war relativ hart und dünn, aber das war auszuhalten. Mit ihm im Saal waren die unterschiedlichsten Männer und die Geruchsbelästigung war fast nicht auszuhalten. Man konnte fast sagen, es stank hier zum Himmel. Es roch nach Erbrochenem und Fäkalien, nach menschlichem Schweiß, Angst und Schmerzen. Außer den bisher acht Mitpatienten waren eine Menge Angehörige zu Besuch-Moment-die waren nicht nur zu Besuch, sondern die pflegten ihre Väter, Brüder oder Söhne. Als Ben seinen Blick schweifen ließ, sah er wie ein junger Mann einen älteren sorgfältig wusch und danach die Bettwäsche erneuerte. Ein anderer gab einem halben Kind, das seinen Arm in einer Schiene in einem Gestell hängen hatte, etwas zu trinken und wieder ein anderer sprach ein Gebet. Ben hatte Schmerzen und Durst, aber so etwas wie eine Glocke hatte man ihm nicht gegeben, womit er sich hätte bemerkbar machen können. Also machte er nach einiger Zeit einfach die Augen zu und dämmerte vor sich hin-immerhin bekam er wieder genügend Luft. Allerdings war an Schlaf nicht zu denken, aber als die gestresste Schwester kurz nach ihm sah, hatte er die Augen geschlossen und sie ging wieder ihrer anderen Arbeit nach. Immer wenn Ben sich nur minimal bewegte, zog ein scharfer Schmerz durch seinen Rücken und er fühlte sich, als wenn man ihn durch den Fleischwolf gedreht hätte, Die Gipsverbände begannen zu drücken-anscheinend waren seine Extremitäten darin angeschwollen und er fühlte sich nach wie vor schwach und zittrig. Um die Mittagszeit öffnete sich wieder und wieder die Tür und die unterschiedlichsten Menschen brachten Töpfe und Schüsseln mit wohlschmeckendem Essen und gaben das ihren Angehörigen ein. Danach übergab sich einer und Ben wurde schon vom Geräusch schlecht. Als der Ruf des Muezzin vom nahen Minarett erklang, rollten die Menschen-Patienten wie Besucher- ihre Gebetsteppiche zum Mittagsgebet aus und erledigten ihre Pflicht nach Mekka ausgerichtet und nur die Schwerkranken waren davon ausgenommen. Wieder dämmerte Ben ein und dachte an Sarah und Tim. Verdammt, wenn er nur die Sprache verstünde und jemanden dazu bringen könnte, Sarah oder Semir anzurufen!

  • Khaled sagte zu Semir: „Ich habe meinen Cousin gestern noch angerufen-er holt uns vom Flughafen ab und bringt uns nach Sousse zu meinen Verwandten. Dort können wir wohnen, solange wir dort sind!“ erklärte er und irgendwie war Semir erleichtert, dass sie sich wenigstens bei ihren Nachforschungen nach Ben nicht zunächst mit der Suche nach einem Hotel aufhalten mussten. In Nizza stiegen sie um, um nur gefühlte Minuten später schon wieder in Marseille zu landen-gut die Entfernung betrug auch nur 160km, wie Semir dem Routenplaner entnommen hatte. Am Flughafen Saint-Charles hatten sie einen längeren Aufenthalt und Khaled erzählte Semir, dass er schon öfter über Marseille in die Heimat geflogen war, weil von dort die beste Flugverbindung in den Maghreb war. Endlich saßen sie dort in ihrem geplanten Flieger und diesmal ging die Startbahn direkt in Richtung offene See, sie war sogar ein Stück weit dort hinein gebaut. Als sie in der Luft waren sah Semir, der einen Fensterplatz ergattert hatte, staunend auf das tiefblaue Meer, während die Maschine Kurs auf Nordafrika nahm.


    Ben merkte wie er Fieber bekam. Er war immer noch sehr schwach und nun begann er heftig zu frieren. Obwohl es in dem Raum heiß war, schüttelte es ihn und er bekam auch immer mehr Atemnot. Als die Schichtübergabe stattgefunden hatte, übernahm ein älterer Pfleger die Aufsicht über den Krankensaal. Er warf eine zweite Decke über Ben, ohne ihn aber in irgendeiner Weise anzufassen. Erst als dessen Lippen immer blauer wurden, bemerkte er, dass das mit Blut gefüllte Absaugglas schon wieder gefüllt war. Ohne die Thoraxdrainage abzuklemmen entleerte er es und in dem Moment als das Vakuum zusammenfiel meinte Ben sein letztes Stündlein hätte geschlagen, denn im selben Moment kollabierte seine linke Lunge wieder-und diesmal ganz plötzlich. Ihm wurde schwindlig und er rang nach Luft. Nachdem der Pfleger das Glas wieder angeschlossen hatte, baute sich erst langsam wieder ein Sog auf und das Blut das jetzt wieder langsam in das Glas lief, war jetzt hellrot.
    Ben ging es inzwischen so schlecht, dass er nur den Kopf herumwarf und für seine Umwelt unverständliche Sachen auf Deutsch murmelte. Er hätte in seinem Zustand auch keine Handynummer mehr nennen können, seine Lippen sprangen auf, die Zunge klebte am Gaumen und immer wieder musste er trocken husten, was ihm in Brust und Rücken fürchterlich weh tat. Verschwommen sah er, dass ihn ein Pfleger mit finsterer Miene musterte und etwas auf Arabisch zu ihm sagte, ohne dass er verstehen konnte, was der wollte. Der Pfleger dachte sich nur: „Verdammt, wenn dieser Europäer jetzt stirbt, habe ich die ganze Arbeit und er sagt mir nicht einmal seinen Namen und seinen Wohnort, damit wir für unsere Behandlung wenigstens Geld kriegen!“ Allerdings sprach der Tunesier auch nur seine Heimatsprache und ein wenig französisch-so war eine Verständigung deshalb denkbar schwierig. Der Pfleger ging in den Aufenthaltsraum, um sich vor dem Abendgebet noch einen Kaffee zu genehmigen und dann gab es im Nebenzimmer einen Notfall und er war den Rest seiner Schicht anderweitig beschäftigt.


    Inzwischen war es Abend geworden. Der kleine Yasser hatte vormittags das Geld nach Hause gebracht und wenig später war sein großer Bruder ebenfalls gekommen. Auch er war erfolgreich gewesen-er stand nämlich öfter vor einem Hotel und half die Koffer der Geschäftsreisenden und Urlauber an Ort und Stelle zu bringen. Auch zu ihm war man großzügig gewesen und so machten sich die beiden Jungs-zehn und vierzehn Jahre alt- auf in den Souk, um dort für die Familie einzukaufen. Sie erstanden einen mittleren Sack Weizengriess, mit dem man die Basis für köstlichen Couscous hatte, dazu einen Beutel Linsen und gerade war eine Ladung Hähnchenkeulen aus Europa mit dem Schiff und dem LKW eingetroffen. In Afrika rentierte sich die Hühnerzucht nicht mehr, denn in Europa wurden in der Massentierhaltung dermaßen viele Hähnchen produziert, dass der Absatz der Keulen einfach nicht funktionierte, denn die Europäer bevorzugten das Brustfleisch. So wurden große Mengen exportiert und weil die schon ein wenig angetaut waren, bekamen die Jungen eine riesige Plastiktüte voll für billiges Geld und schleppten dann ihre Einkäufe stolz und glücklich über eine Stunde zu Fuß nach Hause. Dort kochte die Mutter ein Festmahl und eine glückliche Familie saß fröhlich schwatzend um den Topf und aß gemeinsam. Nur der kranke Vater, der abgemagert bis zum Skelett in der Ecke auf seiner Matratze lag, wollte nichts essen. Ihm ging es gerade wieder sehr schlecht, aber man konnte ihm nicht mehr helfen, hatte die Heilerin gesagt.


    Es war noch nicht finster und Yasser ging der Mann von heute Morgen nicht aus dem Kopf. Wie ihn der angesehen hatte-die Blicke erinnerten Yasser an die seines Vaters. Schaute man so, wenn man dem Tod geweiht war? Kurz entschlossen machte er sich auf den Weg zur Poliklinik, die nur einen Steinwurf weit von seinem Zuhause entfernt war. Man versuchte den zerlumpten Jungen wegzuscheuchen, aber Yasser, der das von frühester Kindheit an gewöhnt war, vertrieben zu werden, schlüpfte einfach wie ein Aal zwischen den Besuchern durch und war auch schon im Krankenhaus verschwunden. Fragen konnte er niemanden, denn man hätte ihm keine Auskunft gegeben und so ging er einfach von Zimmer zu Zimmer, von Krankensaal zu Krankensaal, bis er ihn gefunden hatte.

  • Yasser trat an das Bett des dunkelhaarigen Mannes, der ihn heute Morgen so eindringlich angesehen hatte. Dessen Lippen waren zwar nun nicht mehr so blau wie in der Früh, aber dafür trocken, rissig und aufgesprungen. Er warf sich mit geschlossenen Augen im Bett herum und murmelte unverständliche Worte. Yasser sah sich suchend um, aber nirgendwo stand ein Becher, wo etwas zu trinken darin war. Kurz entschlossen huschte er auf den Flur. Da befanden sich auf einem kleinen Wagen mehrere gefüllte Gläser und Schnabelbecher mit Tee. Yasser würde nie in seinem Leben etwas stehlen-bei aller Armut hatten ihm seine Eltern Rechtschaffenheit beigebracht, aber weil niemand da war, stand er unschlüssig vor den gefüllten Behältern. Als eine Krankenschwester des Wegs kam, fragte er unterwürfig: „Darf ich da ein Glas für meinen Onkel haben?“ und ohne zu fragen wer der Onkel war, erlaubte es die Schwester großmütig. Yasser schnappte sich einen Becher-der Tee war auch nicht mehr heiss-und ging damit zu seinem Schützling zurück. Vorsichtig berührte er ihn am Arm und Ben machte daraufhin seine fiebrigen Augen auf. Inzwischen war ihm auch nicht mehr kalt, sondern fürchterlich heiss und er hatte die Decke schon lange von sich gestrampelt, auch wenn das mit erneuten Schmerzen verbunden war. Auch wenn sein Gehirn vernebelt war, erkannte er sofort den kleinen Jungen, der heute Morgen anscheinend Hilfe für ihn geholt hatte. Ein schmerzliches Lächeln überzog seine Züge und er sagte rauh: „Hallo!“ was der Junge erwiderte und als Yasser nun den Schnabelbecher an seine Lippen hielt, trank er gierig, bis das Gefäß leer war. Yasser zögerte noch einen Augenblick, aber dann ging er wieder auf den Flur und goss aus einer Kanne die da stand, erneut Tee nach. Wieder trank Ben den ganzen Becher, aber beim dritten Becher wurde es ihm auf einmal fürchterlich schlecht und er erbrach sich. Er selber, das Bett und auch der Kaftan waren mit Erbrochenem beschmutzt und als der Pfleger, der zufällig gerade in den Saal gekommen war das sah, begann er fürchterlich zu schimpfen. Yasser floh wie von wilden Hunden gehetzt aus dem Raum, denn was der Pfleger da in Fäkalsprache rief, war alles andere als freundlich. Oberflächlich wurde der Boden unter Ben´s Bett zusammengewischt, aber er selber blieb liegen wie er war. Yasser ging jetzt lieber nach Hause-er würde am nächsten Morgen wieder kommen, wenn der Pfleger nicht mehr in der Schicht war und außerdem versammelte man sich jetzt zum rituellen Abendgebet. Pünktlich als der Muezzin den Gebetsruf erschallen ließ war Yasser zuhause und erledigte voll Insbrunst gemeinsam mit seinen Geschwistern die Pflicht seines Glaubens.


    Endlich war das Flugzeug am Flughafen von Monastir gelandet. Anders als in vielen europäischen Hauptstädten hatte dieser Flugplatz ein wenig das Flair eines Dorfbahnhofs. Die Gangway wurde noch mechanisch heran gerollt und man lief vom Flugfeld einfach quer hinüber zur Passkontrolle. Nachdem Semir und Khaled ja nur Handgepäck dabei hatten, hatten sie schnell einen Stempel in ihrem Pass und es wollte auch niemand in ihre Reisetaschen sehen. Noch vor der Passkontrolle hatten sie eine kleinere Summe tunesische Dinar am dort befindlichen Geldautomaten gezogen, man durfte nämlich kein tunesisches Geld einführen. Allerdings war der Kurs in den Wechselstuben in den Städten oft günstiger und darum wollte Khaled nicht sonderlich viel wechseln. Semir wollte sich gerade zum Gehen wenden, da gab ihm Khaled einen unauffälligen Wink. Er nahm sich zwanzig Dinar, steckte die dem Zollbeamten unauffällig zu und fragte den etwas auf Arabisch, woraufhin der die Stirn kraus zog und kurz an seinen altertümlichen Computer ging. Semir konnte in dem ganzen Kauderwelsch nur ein paar Namen verstehen:„Ben Jäger und Said Brami"-wenig später dann auch noch "Dietmar und Günther Haug." Mit einer höflichen Verneigung verabschiedete sich Khaled und während sie auf einen uralten klapprigen VW-Polo zugingen, vor dem mit breitem Grinsen ein junger Mann in Jeans, Shirt und Turban stand, der Khaled verdammt ähnlich sah, erklärte sein Freund dem deutschen Polizisten, was er in der kurzen Zeit schon herausgefunden hatte: „Brami ist mit Ben Jäger und den Haug-Brüdern am Freitag hier gelandet. Sie wurden von Brami´s Chauffeur abgeholt und die Haug-Brüder sind gestern wieder mit dem Learjet nach Deutschland zurückgereist, während Ben noch im Lande ist. Der tunesische Zoll weiss immer welche Ausländer sich im Land befinden, obwohl hier ja keine deutsche Bürokratie herrscht!“ beschied er ihm mit einem Lächeln, um dann fröhlich mit einem arabischen Wortschwall seinen Neffen zu umarmen, der sie abholen sollte: „Darf ich vorstellen-das ist Semir Gerkan und der gutaussehende junge Mann hier ist mein Neffe-wie man ja wohl unschwer erkennen dürfte!“ stellte er die beiden Männer vor.
    Nachdem man heute wohl nicht mehr viel ausrichten konnte, weil es bereits dunkel wurde, fuhren sie nach Sousse zu Khaled´s Verwandten und Semir wurde herzlich in den Familienclan aufgenommen. Semir kam sich ein wenig in seine türkische Heimat zurückversetzt vor-auch dort lief es so ab, wenn man in den großen Ferien früher immer auf Verwandtenbesuch fuhr. Seit er allerdings mit Andrea zusammen war, machten sie eher an anderen Orten Urlaub, denn seine Frau hatte dabei keinerlei Erholungseffekt und verstand auch kein Türkisch-aber die Erinnerungen an seine Kindheit waren eben immer noch da. So gingen sie bald zu Bett und Semir würde morgen seine ganze Kraft daran setzen, seinen Freund zu finden!

  • Nachdem Semir, der erstaunlicherweise gut geschlafen hatte, vom Ruf des Muezzin, der durch die Straßen der Altstadt per Lautsprecher übertragen wurde, erwacht war, stellte er mit Erleichterung fest, dass in dieser Familie niemand so streng gläubig war. Keiner breitete einen Gebetsteppich aus und verneigte sich gen Mekka, sondern man ging ganz normal seiner Morgenroutine nach und Khaled´s Bruder und die beiden Neffen gingen nach dem Frühstück mit heißem, köstlichen Mokka, wie Semir ihn liebte und der ihn vollends wach machte, zur Arbeit. Eine Nichte war Lehrerin, die verschwand etwas später und Khaled hatte inzwischen herausgefunden, wo Brami´s Wohnsitz war, wie ihm Semir aufgetragen hatte. Auch wenn sein tunesischer Freund keine Ahnung von Polizeiarbeit hatte, begriff er das System, nun einfach den Spuren Ben´s zu folgen. Außerdem lag der Wohnsitz schon mal in der ungefähren Richtung, wo das letzte Funksignal von Ben´s Handy aufgefangen worden war.


    Khaled hatte einen Mietwagen organisiert und so saß Semir wenig später am Steuer eines knallgelben, klapprigen Ford Galaxy, von dessen Seite Werbung in reißerisch roter Schrift auf Arabisch leuchtete. „Einen unauffälligeren Wagen gabs wohl nicht?“ fragte er Khaled, aber der zückte ungerührt die Schultern. Eigentlich war die ersten Meter Khaled gefahren, aber Semir kriegte es nach kurzer Zeit mit den Nerven deswegen, denn dessen Lieblingsgerät im Wagen war die Hupe und er hatte das Fenster runtergekurbelt und schrie voller Begeisterung den anderen Fahrern, die genauso laut hupten, irgendwelche Unflätigkeiten an den Kopf. So hatte Semir, nachdem sie an der nächsten Wechselstube zu einem tatsächlich wesentlich günstigeren Kurs erneut Geld gewechselt hatten, kommentarlos das Steuer übernommen und kurvte nun nach Khaled´s Anweisungen durch den chaotischen morgendlichen Stadtverkehr von Sousse. Gut-man musste westliche Verkehrsregeln und die Lichtzeichen der wenigen Ampeln einfach ignorieren, dann kam man als routinierter Fahrer eigentlich ganz ordentlich durch und so waren sie wenig später in einem nobleren Vorort der Stadt und ließen die laute stinkende City hinter sich.
    Noch eine Weile später näherten sie sich ein Stück außerhalb, einem riesigen Anwesen, das überall von einem hohen Zaun umgeben war. Drinnen grünte und blühte es, obwohl Dezember war, während außen die Sahara schon ihre ersten Ausläufer heranstreckte. Am Eingang war eine Art Pförtnerhaus, aber man konnte schon von Weitem sehen, dass dort bewaffnete Wächter patrollierten und Khaled zog den Kopf ein und sagte: „Da werden wir keine Chance haben, auch nur ansatzweise reinzukommen!“ als Semir plötzlich eine Vollbremsung machte, dass er beinahe mit dem Kopf gegen die Scheibe gedonnert wäre, denn natürlich hatte er sich aus Protest nicht angeschnallt. Gerade wollte er sich beschweren, da war Semir schon aus dem Wagen gesprungen und hatte beherzt dem schwarzen Hengst ins Zaumzeug gegriffen, der ihm zuvor beinahe in vollem Galopp ins Auto gelaufen wäre. Er hatte in letzter Sekunde bemerkt, wie die Reiterin verzweifelt versucht hatte das durchgehende Pferd zu kontrollieren, aber der war einfach bockend Richtung Tor gerannt und sie hatte sich nur mit äußerster Mühe oben halten können und hatte ihn laufen lassen müssen. Semir liebte Pferde und konnte auch gut mit ihnen umgehen, seitdem er in seiner Jugend mal eine Freundin gehabt hatte, die an der Rennbahn arbeitete und so beruhigte sich das Tier allmählich, als Semir ihm gut zuredete und ihn um sich herum im Kreis laufen ließ, anstatt ihn zu versuchen festzuhalten. Die käsebleiche junge Reiterin, die in perfektem Outfit, aber ohne Helm-sowas fand sie nämlich affig-droben saß, hatte nun ihren Sitz so halbwegs wieder gefunden und sagte leise: „Danke!“ denn sie hatte durchaus die Sprache erkannt, mit der ihr Retter das aufgeregte Pferd beruhigte. Endlich stand der nervöse Schwarze und nun rutschte die junge Frau mit wackligen Knien herunter. „Das war knapp-danke, dass sie mir geholfen haben!“ bedankte sie sich in perfektem Deutsch und warf dann einen ängstlichen Blick zu den Wachen, die natürlich auf den Tumult aufmerksam geworden waren. Wenn die das ihrem Vater petzten, würde der ihr Khalif wegnehmen, dabei liebte sie diesen wundervollen Hengst mit all seinen Macken abgöttisch, den er aus Deutschland für sie importiert hatte. Merkwürdigerweise war die Zucht von asilen Vollblutarabern in Deutschland wesentlich erfolgreicher als in den Heimatländern und so war das nicht ungewöhnlich, dass sogar Scheichs sich von dort oder aus den USA Pferde importierten. Gerade Sonderfellfarben wie lackschwarz oder auch hellbraun gab es in den Ursprungsländern selten-da waren fast alle Wüstenpferde weiss- und so machte der internationale Handel auch vor Pferden nicht Halt.
    Der schwarze Hengst hatte sich nun beruhigt, er schnaubte zwar hin und wieder, aber sonst beschnupperte er ganz interessiert den fremden Mann, der so gar keine Angst vor ihm zu haben schien, sondern statt dessen eine unheimliche Überlegenheit und Ruhe ausstrahlte. Außerdem erinnerte ihn der Klang der Worte an seine Jugend und Semir sagte nun zu dem Mädchen, denn die war trotz ihrer Aufmachung immer noch nicht mehr als ein verängstigter Teenager: „Man sollte ihn jetzt Korrektur reiten-sonst macht er das das nächste Mal gleich wieder!“ erklärte er. „Hast du denn einen Trainer an der Hand?“ fragte er, aber das Mädchen schüttelte den Kopf. Nun fragte Semir: „Darf ich?“ und wies auf den Sattel und die junge Tunesierin nickte und sagte leise: „Ja bitte-ich weiss nämlich nicht, ob ich mich da sonst nochmal drauf traue!“ und schon schwang sich Semir in den Sattel. Die Bügellänge passte und zunächst tänzelte der Hengst und versuchte auch ein wenig zu bocken und zu steigen. Semir allerdings behielt die Ruhe, ließ die Zügel ein wenig länger und trieb ihn energisch vorwärts. Wenige Minuten später lief der Hengst artige Kreise durch den Sand neben der Straße, wie er es einmal gelernt hatte und gab sich vertrauensvoll in die Hände des erfahrenen Reiters. Nach wenigen Minuten stieg Semir wieder ab und sagte: „Und jetzt du!“ und mit neuem Mut nahm die Besitzerin des Hengstes wieder im Sattel Platz. Semir ließ sie ebenfalls enge und weite Kreise um sich herumreiten und während Khaled sich die Sache erstaunt vom Auto aus betrachtete, fasste das Mädchen wieder Vertrauen-und zwar zum Pferd und auch zu ihrem neuen Reitlehrer. „Wenn du möchtest, gehe ich noch mit dir zum Stall, dann macht der nichts, wenn ich nebenherlaufe!“ bot Semir an und so verschwand er, nachdem er Khaled zugezwinkert hatte, wenig später mitsamt der jungen Frau und dem prächtigen Ross innerhalb der Festung.


    Ben hatte inzwischen die Nacht hinter sich gebracht. Das Fieber war gestiegen, ihm war zwar nicht mehr übel, aber dafür hatte er das Gefühl innerlich zu verbrennen und der Durst brachte ihn gemeinsam mit den Schmerzen beinahe um. Seine angeschwollenen Extremitäten tobten innerhalb der engen Gipsverbände und immer wieder schliefen ihm beide Beine ein. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen und es ekelte ihn vor der beschmutzten Kleidung und Wäsche und vor allem vor dem widerlichen Geschmack in seinem Mund, aber niemand machte ihn frisch. Zweimal in der Nacht schritt ein alter Mann-anscheinend der Nachtpfleger- durch die Reihen, aber der schaute anscheinend nur, ob alle Patienten in den Betten noch atmeten. Ben versuchte flüsternd auf sich aufmerksam zu machen, aber der ignorierte ihn einfach und so blieb der junge Hauptkommissar alleine mit seinen Schmerzen, der Angst und den Sorgen zurück. So langsam begann es sich heraus zu kristallisieren. Wenn ihm nicht der Zufall zu Hilfe kam, würde er anonym in diesem Krankenhaus sterben und Sarah, Tim und Semir würden nie erfahren, wo er abgeblieben war. Die vermuteten ihn in Spanien, aber dort würde ihn Semir niemals finden.

  • Yasser hatte noch Ferien und deswegen brach er am nächsten Morgen schon wieder früh auf-angeblich um vor einem Hotel zu betteln, aber in Wirklichkeit zog es ihn mit Macht zu seinem neuen Freund. Er hatte wegen dem ein schlechtes Gewissen, denn wenn er ihm gestern nicht so viel zu trinken eingeflößt hätte, hätte er sich wohl nicht übergeben müssen! Als seine Mutter beim Frühstück verkündet hatte, dass sie heute zu Mittag aus den restlichen Hähnchenkeulen eine wohlschmeckende Suppe kochen würde, hatte Yasser im selben Augenblick daran gedacht, damit den dunkelhaarigen Mann zu laben-dann kam der vielleicht wieder zu Kräften! So ging er diesmal unbehelligt in den Krankensaal und trat an Ben´s Bett, der noch schlechter aussah als gestern. Als Yasser ihn berührte und erneut: „Hallo!“ zu ihm sagte, brachte Ben nur ein Krächzen hervor, so ausgetrocknet war er. So schlecht es ihm ging, aber der kleine Junge in den zerlumpten Kleidern war gerade sein einziger Hoffnungsschimmer und so lächelte er ihn wenigstens an. Der drehte sich wieder um, holte einen Becher mit Tee und ließ Ben erneut trinken, heute allerdings nur diese eine Tasse! Entsetzt sah Yasser nun, dass die Hand und das linke Bein seines Schützlings unter dem Gipsverband dunkelblau verfärbt waren. Er lag in dem beschmutzten, zerwühlten Bett, das Yasser gerne frisch gemacht hätte, aber er hatte leider keine Bettwäsche dabei und zuhause konnten sie auch kein Stück entbehren. Wie in vielen südlichen Ländern musste man nämlich auch in Tunesien die Bettwäsche selber mitbringen und auch selbst waschen-für solche Sachen hatte man Angehörige. Wer damit nicht aufwarten konnte, konnte sich mit Hilfe von niedrigem Pflegepersonal die Grundversorgung kaufen, wie auch eine ordentliche Schmerztherapie, aber wer kein Geld hatte, war eben auf das Mitleid anderer Angehöriger angewiesen. Zwei Betten weiter wusch gerade wieder der junge Mann seinen Großvater und Yasser erbettelte von dem ein Stück Leinentuch, das er als Waschlappen verwenden konnte. Er holte draußen eine Waschschüssel mit lauwarmem Wasser-das wenigstens bekam man vom Krankenhaus gestellt- und machte nun Ben´s Gesicht und Oberkörper frisch. Als er den blutunterlaufenen Brustkorb dabei berührte, kamen Ben, der ansonsten die Erfrischung genoss, allerdings die Tränen und so hörte Yasser erschrocken wieder auf. Ach er hatte doch auch keine Ahnung, wie man mit so einem Kranken umging-und so goss er das Wasser aus und zog den schlecht riechenden Kaftan wieder über Ben. Der hatte die Augen nun geschlossen und Yasser suchte jetzt den zuständigen Morgenpfleger. Mit erregtem arabischen Wortschwall wies er ihn darauf hin, dass die Hand und das Bein seines „Onkels“ blau angelaufen waren, als der Mann nun aber zunächst mal Yasser´s Namen und vor allem die Personalien des Patienten haben wollte, floh Yasser und verließ, ohne sich zu verabschieden, fluchtartig das Krankenhaus. Nun machte er sich auf den Weg zu einem Hotel und ließ sich dort mit gesenktem Blick vor dem Eingang zum Betteln nieder.


    Semir war inzwischen mit dem jungen Mädchen zum Stall gelaufen. Der Hengst folgte Semir vertrauensvoll und war wieder ganz brav. Der Stallknecht wollte das Tier nun übernehmen, aber Brami´s Tochter schickte ihn weg und machte sich stattdessen mit Semir´s Hilfe selber daran, das Pferd abzusatteln. Man zog ihm ein Stallhalfter an und band es an einem Ring fest, um es zu versorgen. Während Semir noch die Hufe auskratzte, stellte er dem jungen Mädchen, das er auf etwa 15 schätzte einige Fragen zur Fütterung und dem Auslauf des Hengstes. „Der ist sehr wertvoll und wird nur unterm Sattel bewegt!“ bekam er zur Antwort und nun belehrte er das junge Mädchen, dass gerade für so blütige Tiere freie Bewegung sehr wichtig war und so bekam er danach noch die ganze Reitanlage gezeigt, inclusive eigener Halle. Nachdem er ihr ans Herz gelegt hatte, doch ihren Vater zu bitten, ein Stück Auslauf einzuzäunen und dem Hengst Freiheit ohne Reiter zu ermöglichen, damit der seinen Bewegungsdrang nicht nur unterm Sattel ausleben konnte und so für sie einfacher zu händeln wurde, wechselte er wie zufällig das Thema.


    „Ach ja-am Freitag ist übrigens ein Freund von mir hierher zu Besuch gekommen!“ bemerkte er beiläufig und das Mädchen sah ihn fragend an. „Der kennt sich auch total gut mit Pferden aus!“ schwindelte Semir und zog sein Handy heraus, um der Reiterin ein Bild Ben´s zu zeigen. „Ja, der war bei uns am Freitag zum Abendessen!“ nickte das Mädchen. „Und am Samstag ist der mit den anderen zur Rennstrecke gefahren, aber seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen!“ erklärte sie und Semir hielt innerlich den Atem an. „Welche Rennstrecke meinst du? Ich bräuchte nämlich dringend was von meinem Freund!“ fragte er und nun zeigte ihm die junge Frau auf ihrem Smartphone die Karte und wo die Rennstrecke lag. „Dietmar und Günther waren noch bis Sonntag bei uns, aber dann sind die wieder heimgeflogen nach Köln-da war ich übrigens auch schon mal!“ erzählte sie freimütig-unter Reitern hatte man gleich einen Draht zueinander. Semir machte noch ein wenig Smalltalk, aber dann verabschiedete er sich von seiner neuen Freundin und ging an den Wachen vorbei zum auffälligen Wagen. Während er sich hinters Steuer gleiten ließ sagte er nur zu seinem Freund Khaled: „Ich habe eine Spur!“ und startete den Motor.

  • Sarah war inzwischen im fernen Köln mit den Nerven am Ende. Nachdem sie Semir am Montagmorgen eine gute Reise gewünscht hatte, wartete sie sehnsüchtig auf neue Nachrichten. Semir hatte ihr am Abend nach der Ankunft geschrieben: „Sind gut angekommen-Ben befindet sich definitiv noch in Tunesien-gehen morgen einem Hinweis nach!“ aber seitdem hatte sie nichts mehr gehört. Am Nachmittag war Andrea mit den Mädchen zu Besuch gewesen. Die hatten Tim wie ihren kleinen Bruder behandelt, mit ihm gespielt und ihn zum Lachen und Kichern gebracht-nur Sarah war nicht nach fröhlich sein. Die Nächte waren immer noch schrecklich, denn Tim bemerkte ihre Unruhe und außerdem plagten ihn auch seine noch nicht vorhandenen Zähne. Andrea hatte sie zu sich eingeladen, auch zum Übernachten, aber Sarah hatte abgelehnt. Sie wollte zuhause auf ein Lebenszeichen ihres Verlobten warten-außerdem störte sie da niemanden, wenn sie mit Tim auf dem Arm Furchen in den Boden lief. So kontrollierte sie unzählige Male, ob ihr Handy auch geladen war, ob sie Netz hatte, ob auf dem Anrufbeantworter des Festnetztelefons keine Nachricht war und immer wieder wählte sie Ben´s Nummer-erfolglos!


    Semir war losgefahren. Eine gute Stunde waren sie nun schon unterwegs, immer am Rand der Sahara entlang. Die Straßen waren glücklicherweise schon wieder frei, denn wie Khaled von seinen Verwandten erfahren hatte, hatte am Sonntag ein starker Sandsturm geherrscht. Allerdings war es in Tunesien, wie in so vielen anderen Ländern auch-da wo einflussreiche Leute wohnten, da wurde gewissenhafter geräumt als anderswo und so war die Straße gut befahrbar. Sie hatten nach ein paar Kilometern einmal angehalten und Semir hatte Khaled auf Google Earth die genaue Lage der Rennstrecke auf seinem Smartphone gezeigt und nun navigierte ihn der zuverlässig an ihr Ziel. Semir war wie ein Jagdhund der eine Fährte aufgenommen hatte. Er streckte die Nase in den Wind und folgte unbeirrt der Spur, völlig sicher, bald das nächste Puzzleteil zu Ben´s Aufenthaltsort zu finden. Er wusste sein Freund lebte und brauchte seine Hilfe!
    Heute war ein eher kühler, trüber Tag und als sie die Rennstrecke erreichten, war der Verwalter gerade dabei mit dem Schneepflug sein Ressort vom Sand zu befreien, denn wenn es Brami einfiel, sich in einen seiner Rennwagen zu setzen und über den Asphalt zu cruisen, ob mit oder ohne Mitfahrer, dann war es seine Aufgabe, das möglich zu machen. Erstaunt sah er auf, als plötzlich vor ihm ein uralter, knallgelber Ford Galaxy anhielt. Auch er stellte den Motor des zweckentfremdeten Schneepflugs ab und stieg aus, um zu erfahren, was die Besucher wollten. Semir meinte seinen Augen nicht zu trauen, als der arabische Mann aus dem Fahrzeug kletterte-der hatte eindeutig Ben´s Jacke an!


    Der Pfleger im Krankenhaus sah bedauernd dem Jungen nach, der wie der Blitz verschwunden war, als er ihn nach den Personalien seines Onkels gefragt hatte. Na ja-da war eh kein Geld zu holen, so wie der Junge aussah, aber er machte sich nun doch daran, seinen Patienten näher zu begutachten. Als er näher kam, sah er auf den ersten Blick, dass das Glas der Thoraxdrainage schon wieder mit Blut gefüllt war-oh verdammt, das musste er dringend leeren, aber ehrlich gesagt war ihm gar nicht bewusst gewesen, dass er einen dermaßen schwer Verletzten in seinem Krankensaal hatte! Ben lag mit geschlossenen Augen vor ihm. Sein Körper war mit kaltem Schweiß bedeckt und als der Pfleger ihn anfasste, war er trotzdem glühend heiß. Sein Brustkorb hob und senkte sich mühsam und die Kleidung und das Bett waren mit getrocknetem Erbrochenem besudelt. Wie der Junge gesagt hatte, waren Hand und Fuß die aus den Gipsverbänden ragten, tiefblau verfärbt-da musste sofort reagiert werden, sonst würden die Extremitäten absterben! Der Pfleger zog Einmalhandschuhe aus seiner Kitteltasche, klemmte erst einmal die Thoraxdrainage ab und leerte dann das Glas, bevor er die Saugung wieder in Betrieb setzte. Ben hatte das Gesicht verzogen, als man an dem dicken Schlauch manipulierte, der aus seinem Brustkorb ragte. Mann tat das weh! Der Pfleger erneuerte auch noch den durchgebluteten Verband um die Drainage herum, allerdings war da schon eine Menge Blut auch ins Bett gelaufen und hatte ebenfalls das Bettzeug verschmutzt. Nur konnte er da nichts machen-er hatte ohne Bezahlung keine frische Wäsche auszugeben-sonst würde er Ärger mit der Krankenhausleitung bekommen.
    Nun verständigte der Pfleger wenigstens den Arzt-der musste anordnen, dass die Gipsverbände gespalten wurden, sowas durfte der Pfleger nicht alleine entscheiden. Allerdings hatte der diensthabende Arzt in der Notaufnahme wenig Lust, sich schon wieder mit dem Patienten zu befassen, der ihn gestern so beschmutzt hatte. Widerwillig versprach er, sich das später anzusehen-mit der Betonung auf später!

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!