Wild Hot Racing

  • Sarah hatte nach dem Anruf des Notarztes neue Energie. Ihre Schwägerin hatte mit Sarah´s Bruder, dem sie die Lage kurz geschildert hatte abgeklärt, dass sie die nächsten Tage noch in Köln bleiben und auf Tim aufpassen würde, wenn Sarah Wichtigeres zu tun hatte. Der kleine Mann war sowieso begeistert bei der Sache mit dem Löffel zu essen und er nahm auch zwischendrin problemlos ein Fläschchen, so dass dieser Stressor für Sarah schon wegfiel, immer als Milchbar zur Verfügung zu stehen. Nachdem sie Frau Krüger vom Anruf des Notarztes informiert hatte, die ihrerseits erleichtert aufatmete und versprach, um 16.00 Uhr ebenfalls am Flughafen zu sein, koordinierte Sarah mit der Rettungsleitstelle den Einsatz der zwei geforderten Helikopter.
    Für Yasser erging die Voranmeldung an das Kinderkrankenhaus in der Amsterdamer Straße und bei Ben war sowieso klar gewesen, dass er in die Uniklinik gebracht werden würde-dort war er schließlich schon bekannt und außerdem war das immer noch Sarah´s Arbeitgeber, auch wenn sie gerade in Elternzeit war. Während die größere Maschine, die natürlich auch schneller fliegen konnte, sich dem Kölner Flughafen näherte, war auch Brami´s Learjet auf dem Weg dahin und beinahe zeitgleich erbaten die beiden Flugzeuge vom Tower eine Landeerlaubnis. Der Ambulanzflieger wurde natürlich vorgezogen und während Brami´s Learjet noch eine Weile in der Luft kreiste, brachte der Pilot des ersten Flugzeugs die Maschine weich und ohne Erschütterungen herunter. Die beiden Helikopter, die ein wenig abseits auf ihren Einsatz gewartet hatten, flogen näher, kaum dass das Flugzeug zum Stehen gekommen war. Während die Spezialgangway ausgefahren wurde, kamen auch Frau Krüger, Sarah-die nur durch deren Polizeiausweis Zutritt zum Flugfeld erhalten hatte-und mehrere Beamte der Bundespolizei näher. Sie würden die Passagiere kontrollieren und dann entscheiden, was zu tun war. Allerdings war ihnen von ihrem Vorgesetzten eingeschärft worden, höchste Diskretion und Korrektheit an den Tag zu legen, da die Information, dass hier tunesische Staatsbürger, vermutlich ohne Papiere, ankommen würden, von oberster Stelle gekommen war.


    Semir hatte während des ganzen restlichen Fluges seinen Platz an Ben´s Seite nicht mehr verlassen und besorgt dessen Blässe und den schnellen Herzschlag auf dem Monitor betrachtet. Kaum war die nächste Infusion durch gewesen, hatte der Notarzt erneut eine angehängt, ohne dass das eine merkliche Veränderung seines Zustands hervorrief. Ben schlief nicht wirklich, aber durch das Opiat, das man immer wieder nachspritzte und die Erschöpfung hatte er kaum Kraft zu sprechen und so hielt Semir seine Hand und hoffte inständig, dass sie bald in der Uniklinik wären. Andrea hatte er auch kurz verständigt, dass sie bald zuhause wären und die hatte erleichtert aufgeatmet. Auch Yasser´s Mutter hatte auf dem Sitz neben der anderen Intensiveinheit Platz genommen und hielt tränenüberströmt die Hand ihres schwer verletzten Sohnes und man ließ sie gerne gewähren, auch wenn Yasser tief sediert war. Trotzdem war für kranke Kinder die Anwesenheit der Mutter unheimlich wichtig. Der Notarzt hatte die Information erhalten, dass Yasser in die Amsterdamer Straße gebracht werden würde und Dr. Amami versprach, sie dorthin zu begleiten-ein Dolmetscher an ihrer Seite war unheimlich wichtig und außerdem hatte er Yasser ja mit operiert, er konnte also den behandelnden Kinderchirurgen dort am besten Auskunft geben.
    Als sich die Gangway komplett nach unten gesenkt hatte, kam als Erster Khaled aus der Maschine spaziert. Sofort traten die Beamten der Bundespolizei zu ihm, um seine Papiere zu kontrollieren: „Freunde-das wäre nicht notwendig gewesen, dass ihr mir einen so großen Empfang bereitet!“ witzelte er und kramte seine Ausweispapiere hervor. Nun erschien auch schon Semir: „Mann-habt ihr nichts Wichtigeres zu tun, als meine Freunde zu drangsalieren!“ rief er ärgerlich, während er seinen Polizeiausweis hochhielt und die Chefin hob warnend die Hand: „Semir, die machen auch nur ihre Arbeit!“ sagte sie warnend und dann machten sie alle Platz für die Hubschraubernotärzte und eine Sarah, die nun nicht mehr zu halten war, die nun in die Maschine kletterten, um sich ihre neuen Patienten anzusehen. Im Gegenzug stiegen nun der Vater und die Kinder, sowie der verletzte Chauffeur aus. „Wir brauchen hier einen Rollstuhl!“ sagte die Chefin scharf, als sie sah, wie wacklig der ausgemergelte Mann auf den Beinen war. Nun holte einer der Beamten der Bundespolizei tatsächlich so ein Fahrzeug und während Khaled dolmetschte, stellten sie einige Fragen an den kranken Tunesier. Der Chauffeur hatte seinen Pass dabei, das war kein Problem, auch Dr. Amami konnte sich ausweisen und so wurden einfach und unbürokratisch die restlichen Mitglieder von Yasser´s Familie fotografiert, man schrieb den jeweiligen Namen unter das Foto und Kim Krüger versprach die Verantwortung für sie, während des Kölnaufenthalts zu übernehmen. „Das ist ein humanitärer Einsatz-diese Menschen sind keine Wirtschaftsflüchtlinge!“ beteuerte sie und hatte binnen Kurzem eine Schutzwohnung am Niehler Hafen, unweit des Kinderkrankenhauses als vorübergehendes Domizil für die Familie klar gemacht. Man organisierte ein Großraumtaxi und wenig später waren die Tunesier gemeinsam mit Khaled, aber ohne die Mutter schon unterwegs in die Wohnung, die von Dieter und Jenni inzwischen vorbereitet wurde.


    Sarah war in das Flugzeug gestürzt und mit Tränen in den Augen zu Ben geeilt. Der hatte blass und erschöpft seine Augen geöffnet und ein erleichtertes Lächeln war über seine Züge geflogen, als er seine Sarah auf sich zukommen sah. Die musterte zwar kurz den Monitor, den Stiffneck, die Vakuummatratze und die Thoraxsaugung, aber dann beugte sie sich völlig unprofessionell, dafür aber unglaublich zärtlich über Ben und küsste ihn sanft. „Ich bin so froh, dass du da bist-jetzt wird alles gut werden!“ sagte sie und nun begannen auch Ben die Tränen der Rührung in die Augen zu schießen. Kaum bemerkten die beiden, wie der begleitende Notarzt dem Hubschrauberarzt Übergabe machte und mit ihm das Protokoll, das er während des Flugs angefertigt hatte durchging, zu sehr waren sie emotional miteinander verbunden. „Sarah wo ist Tim-und wie geht´s ihm?“ fragte Ben bang, denn die letzten Monate war sein Sohn entweder bei Sarah oder bei ihm gewesen. „Dem geht´s gut, meine Schwägerin passt auf ihn auf und er hat jetzt Gefallen an nem Fläschchen gefunden!“ erklärte Sarah und nun musste Ben ihr dringend mitteilen, was ihn die ganze Zeit schrecklich beschäftigte: „Sarah-ich spüre meine Beine nicht mehr und ich kann gut verstehen, wenn du keinen Krüppel wie mich mehr haben willst!“ flüsterte er, aber Sarah schimpfte nun mit ihm, während sich seine Trage schon in Bewegung setzte: „Ich liebe dich, ob gehend oder im Rollstuhl-wir kriegen das Schatz!“ beschwor sie ihn und musste dann kurz zur Seite treten, um die Umlagerung mitsamt Vakuummatratze auf die Hubschraubertrage, die auf dem Rollfeld vorgenommen wurde, nicht zu stören.


    Während der zweite Hubschraubernotarzt nun in der Maschine seine Übergabe Yasser´s erhielt, ließ Semir zufällig seine Blicke schweifen und erstarrte in derselben Sekunde. War das nicht gerade Brami gewesen, der da um die Ecke gebogen war? Aber dann entspannte er sich wieder-das war doch fast nicht möglich-er hatte wegen der Überreizung sicher schon Halluzinationen, aber trotzdem würde er der Sache auf den Grund gehen!

  • Die beiden Patienten waren wenig später in den Helikoptern verschwunden und die Zurückbleibenden verteilten sich nun auf ihre Fahrzeuge. Sarah fuhr auf dem schnellsten Weg zur Uniklinik-an Bord noch den verletzten tunesischen Fahrer, der Notarzt holte seinen Wagen, der wie der Semir´s auf einem der Langzeitparkplätze stand und brachte, nachdem er sich noch herzlich von den beiden Piloten verabschiedet hatten, die wieder in ihren luxemburgischen Heimatflughafen flogen, seinen Assistenten nach Hause, um dann den wohlverdienten Feierabend zu genießen. Morgen würde er wieder Dienst in der Uniklinik haben und da nach seinem Patienten sehen! Semir steuerte ebenfalls die Uniklinik an, nur die Chefin fuhr Dr. Amami und die Mutter des Jungen zur Kinderklinik, um danach noch in der PASt vorbeizuschauen.


    Semir war nachdenklich zu seinem BMW gelaufen und hatte von unterwegs Andrea angerufen. In groben Zügen erzählte er ihr was geschehen war und Andrea blieb vor Entsetzen beinahe das Herz stehen. „Aber dir ist wirklich nichts passiert?“ fragte sie angstvoll, aber Semir verneinte. „Ich muss jetzt erst mal ins Krankenhaus, ich hätte zuhause keine ruhige Minute, aber mir fällt gerade ein. Könntest du mal mit den Kindern die Spielsachen, die sie doch demnächst auf dem Flohmarkt verkaufen wollten, zusammenpacken-ich hätte da dankbare Abnehmer!“ sagte er und dachte voller Rührung an die selbst gebastelten Spielsachen der tunesischen Kinder. Mit wie wenig waren die zufrieden und in welchem Überfluss im Gegensatz dazu, wurden die meisten deutschen Kinder-seine eingeschlossen- groß. Dennoch hatte diese Familie trotz aller Schicksalsschläge das Herz auf dem rechten Fleck, sie waren warmherzig und hilfsbereit und es war nur recht und billig, wenn die jetzt ein wenig Ablenkung und Geschenke bekamen!
    Als er im Auto saß, ging ihm trotzdem Brami nicht aus dem Kopf-das musste doch herauszufinden sein, ob dessen Learjet ebenfalls in Köln gelandet war! Bevor er den Motor anließ, rief er Susanne an und die versprach, das herauszufinden und ihm dann Bescheid zu geben. Mist-er hätte der Chefin von Ben´s Verdacht mit der Terrorzelle erzählen sollen, aber es war so viel geschehen in den letzten paar Stunden, dass er das völlig verdrängt hatte. Gut-morgen war auch noch ein Tag, da würde er das in Angriff nehmen, aber jetzt war wichtiger, dass Ben professionell versorgt wurde-hoffentlich konnte man an dessen Wirbelsäule noch was machen!


    Der Helikopter mit Ben war inzwischen auf dem Dach der Uniklinik gelandet. Wenig später stand die Trage in der Notaufnahme und ein ganzes Team kümmerte sich um den mehrfach traumatisierten Patienten. Zunächst lagerte man ihn mitsamt der Vakuummatratze, die sowieso der Uniklinik gehörte und vom Notarzt mit Nachweis ausgeliehen worden war, auf eine Untersuchungsliege um. Es war ein gutes Zeichen, dass er ansprechbar und orientiert war. Man schrieb ein EKG, nahm Blut ab, prüfte-soweit in der Matratze möglich- die Reflexe, die an den Beinen sehr schlecht ausfielen und beschloss dann, zunächst ein Ganzkörper-Notfall-CT vorzunehmen. Wenig später lag Ben auf dem Röntgentisch, immer noch geborgen in seiner röntgendurchlässigen Matratze und wie von Geisterhand fuhr er durch den großen Metallbogen, der ihn von Kopf bis Fuß scannte und Schichtaufnahmen seines ganzen Körpers anfertigte. Die Strahlenbelastung war zwar erklecklich, aber man sah im Augenblick keine andere Möglichkeit.
    Gerade als die Röntgenuntersuchung vorgenommen wurde, traf Sarah ein, die den tunesischen Chauffeur einfach einer Kollegin der Notaufnahme mitgab, die sich um ihn kümmern würde. Wie sie wusste, sprach die fließend Französisch und so war das Verständigungsproblem fürs Erste gelöst. Sarah eilte in den Schockraum und wartete gemeinsam mit den anderen ungeduldig, dass der Mann ihres Lebens aus dem CT kam. Die Unfall-und Wirbelsäulenchirurgen begannen schon gemeinsam mit dem Röntgenologen konzentriert am Monitor die Bilder auszuwerten, während die Schwestern und Pfleger Ben wieder auf die Untersuchungsliege hoben. „Der Stiffneck kann ab-die Halswirbelsäule ist in Ordnung!“ kam die Meldung und zu Ben´s Erleichterung nahm man ihm das unbequeme Gestell um den Hals ab. Allerdings waren gerade die Schmerzen wieder schlimmer und der Anästhesist der ihn betreute, gab ihm sofort wieder ein Opiat, was ihn dazu brachte, sich zu entspannen.
    Der Internist kam mit seinem Ultraschallgerät und während er seinen Brust-und Bauchraum schallte, legte ihm ein junger Pfleger einen Blasenkatheter, es kamen aber nur ein paar schmutzig braune Tropfen Urin. Ben hielt sich wie ein Rettungsanker an Sarah´s Hand fest-überall wurde an ihm herum geschraubt und nun wurden auch die Sonographiebefunde im Plenum besprochen. Die Laborwerte waren ebenfalls eingetroffen und kaum ein Wert war im Normbereich. Eigentlich war es anhand der Werte erstaunlich, dass Ben überhaupt noch wach und ansprechbar war, aber nun trat der Wirbelsäulenchirurg zu ihm und Sarah. „Herr Jäger, wir müssen jetzt vordergründig ihren Rücken operieren. Sie haben mehrere Frakturen der Lendenwirbelsäule. So wie es aussieht hat aber kein Knochenfragment den Wirbelkanal verletzt, wir gehen jetzt davon aus, dass sie die bestehende Lähmung infolge eines Blutergusses in diesem Bereich haben. Der muss dringend entlastet werden, sonst sind die Lähmungen vielleicht irreversibel. Leider sind ihre Nierenwerte sehr hoch, daher konnten wir ihnen zum CT auch kein Kontrastmittel geben und wir wissen auch noch nicht so genau, was in ihrem Bauchraum so vor sich geht. Wir werden sie deshalb in Narkose legen und zunächst einmal die Wirbelfrakturen behandeln, danach möchten die Viszeralchirurgen mit einer Optik in ihren Bauchraum schauen und eventuell sehen sich auch die Unfallchirurgen noch den Brustkorb näher an, an dem auf der linken Seite so ziemlich alles gebrochen ist, was möglich ist. Sie werden Blutkonserven brauchen und eigentlich müsste jetzt jeder Einzelne von uns sie über die speziellen Risiken der verschiedenen Eingriffe, der Narkose etc. aufklären. Ich würde jetzt allerdings dazu tendieren, sie einfach als Notfall laufen zu lassen, dann ersparen wir alle uns das und verlieren keine Zeit-ist das für sie in Ordnung?“ fragte er und Ben nickte müde. Auch Sarah sagte einfach: „Macht mit ihm was notwendig ist, damit er wieder gesund wird!“ und so war Ben wenig später auf dem Weg in die Operationsabteilung, während Sarah voller Bangen auf den Besucherstühlen davor Platz nahm. Kurz darauf setzte sich jemand neben sie und legte den Arm um sie: „Sarah-ich bin da und warte mit dir!“ sagte er einfach und nun barg Sarah ihren Kopf an Semir´s Schulter und brach erst mal in Tränen aus.

  • Brami hatte kurz überlegt, aber am Flughafen waren einfach zu viele Leute, dazu bewaffnete Bundespolizei-da würde er sich nach einem Anschlag nicht unerkannt aus dem Staub machen können. Er würde jetzt erst mal Quartier in dem Luxushotel nehmen, in dem er eine Suite reserviert hatte in der er auch Ersatzkleidung deponiert hatte. Seine Lakaien allerdings würden in den Räumen an der Rennstrecke nächtigen-das war ein Teil des Deals mit den Haug-Brüdern-sie beherbergten und verköstigten ohne nachzufragen die Männer, die er zu ihren Einsätzen in Europa mitbrachte. Sie wurden dafür bezahlt, Augen und Ohren zuzumachen und konnten davon ganz gut leben und bekamen noch ihr Rennsporthobby mitfinanziert. Außerdem war es eine perfekte Tarnung-man zog den Männern einen Mechanikeroverall an, gab ihnen einen Schraubenschlüssel in die Hand und verschmierte ein wenig Motorenöl, sofort bezweifelte niemand mehr, dass er einen harmlosen Facharbeiter vor sich hatte-und nicht einen gefährlichen Terroristen, der sich mit Waffenkunde und Nahkampftechniken besser auskannte, als mit Motoren. Während Brami sich also ein Taxi nahm, zückte er schon sein Telefon und beorderte Dietmar Haug zur Abholung an den Flughafen. „Übrigens war dieser Jäger leider doch nicht tot, sondern wurde gerettet und jetzt mit einem Ambulanzflieger nach Köln zurückgebracht-dieses Problem müssen wir noch lösen!“ sagte er ganz nebenbei und Dietmar wurde es ganz anders-verdammt, das war großer Mist-da führte die Spur direkt zu ihnen und außerdem war der auch noch Polizist! Er würde die beiden Männer abholen, aber dann mussten sie für die und die drei anderen, die gerade bei der Kartbahn ihr Lager aufgeschlagen hatten, ein anderes Versteck finden-aber er hatte da schon eine Idee! Wenig später stand er am Flughafen und bat die beiden Tunesier in fließendem Französisch einzusteigen und dann fuhr er zum neuen Versteck, in das Günther inzwischen auch die restlichen Männer gebracht hatte.


    Ben wurde inzwischen in die OP-Abteilung gebracht. Sarah war noch ein ganzes Stück mitgelaufen und hatte seine Hand gehalten, aber dann musste sie draußen warten-das machte ihr der begleitende Anästhesist unmissverständlich klar. „Sarah beim besten Willen-es macht keinen Sinn, dass du jetzt mitkommst, du hältst durch deine persönliche Befangenheit die Leute höchstens vom Arbeiten ab. Sei jetzt einfach Angehörige, ich passe auf deinen Freund schon auf!“ sagte er freundlich aber bestimmt und so hatte ihn Sarah widerstrebend losgelassen und auf den Stühlen vor dem OP-Bereich Platz genommen.
    Obwohl Ben ja in den letzten Tagen wesentlich Schlimmeres mitgemacht hatte, schlug sein Herz trotzdem vor Angst bis zum Hals. Er lag immer noch völlig flach auf seiner Spezialmatratze und so konnte er eigentlich nur die Decke sehen und das Gesicht des Narkosearztes, der seine Trage am Kopfende schob. Am Fußende war der Monitor angebracht, die moderne Thoraxsaugung hing seitlich an den Gittern und der Perfusor mit Noradrenalin und die Trägerlösung, die jetzt kontrolliert über einen Infusomaten in ihn tropfte waren neben der Sauerstoffbombe seine Begleiter. Wie sehr hätte er sich jetzt Sarah oder Semir als seelische Unterstützung gewünscht, denn er hatte einfach eine Scheißangst vor dem Kommenden. Ob er jemals wieder würde laufen können? Würde er noch starke Schmerzen haben? Irgendwie hatte er nämlich das Gefühl, er könne kein bisschen mehr aushalten jetzt-das Maß war einfach voll, so hatte er die letzten Tage gelitten! Was hatten sie jetzt eigentlich für einen Wochentag? Als er nachdachte flossen seine Gedanken so zäh, darum fragte er nach: „Wir haben heute Mittwoch!“ antwortete der Arzt freundlich und als Ben´s Blick auf eine Uhr fiel, unter der er gerade vorbeigefahren wurde, sah er dass es kurz nach Fünf war. Als sich nun die letzte Tür zur Schleuse öffnete, wurde sein Mund trocken-jetzt wurde es ernst, die nächsten Stunden würden entscheidend über sein weiteres Leben sein.


    Die Schleusenschwester hatte den Spezialtisch schon vorbereitet. „Wir sollen mit dem Umlagern noch warten, bis der Wirbelsäulenchirurg sich eingeschleust hat!“ sagte sie und so verharrte das kleine Trüppchen erst einmal. Man hängte den Sauerstoff schon mal um-ab sofort würde der aus der Flasche, die am OP-Tisch hing gespeist werden. Man legte den Katheterbeutel auf seine Köpermitte und als wenig später der Wirbelsäulenchirurg hinter der Schleusenschwester erschien, nickte er und sagte: „Ok, jetzt könnt ihr die Vakuummatratze belüften!“ und schon öffnete der Pfleger das Ventil, so dass zischend Luft in die Matratze strömte und die allmählich weich wurde. „Herr Jäger-wir haben jetzt einen wichtigen Auftrag an sie, deshalb haben sie auch noch kein Beruhigungsmittel bekommen. Ich möchte jetzt, dass sie ihre Muskulatur anspannen und sich ganz steif machen, während wir sie auf das Schleusenband legen!“ bat er und forderte nun den Narkosearzt auf, Ben´s Kopf senkrecht nach oben zu ziehen, damit während des Umlagerns nichts abrutschte. Ben bemühte sich, aber trotzdem entlockte ihm jede minimale Bewegung ein Stöhnen-seine Beine allerdings spürte er von der Hüfte abwärts nicht. Auch das Katheterlegen vorhin hatte er nur gesehen, aber nicht gefühlt-jetzt wusste er was es hieß, von der Hüfte abwärts gelähmt zu sein-ob er damit zurechtkommen würde, wenn das so bliebe? Er wusste es nicht, aber jetzt erübrigten sich auch die trüben Gedanken, denn gerade trat der Schmerz wieder in den Vordergrund und brachte ihn zum Aufstöhnen.Der übernehmende Narkosearzt war aus dem OP inzwischen auch zu dem Trüppchen getreten und bekam während das Schleusenband Ben langsam zum OP-Tisch beförderte, von seinem Kollegen Übergabe. Er nickte, sein prüfender Blick schweifte über den neuen Patienten und die Geräte und wenig später lag Ben auf dem gepolsterten OP-Tisch wieder flach auf dem Rücken. Man nahm das Hemdchen, das man nachlässig über ihn gelegt hatte, um sein Schamgefühl zu respektieren, weg und ersetzte es durch zwei angewärmte grüne Tücher. Ein grünes Häubchen streifte man noch über seine verschwitzten verstrubbelten Haare und schon ging die Fahrt in die Einleitung los. „Ich bin ihr Narkosearzt und werde gut auf sie aufpassen, aber jetzt dürfen sie gleich schlafen. Hatten sie schon mal Probleme mit einer Narkose oder sind Allergien bekannt?“ fragte er noch, aber Ben, dem immer mulmiger wurde, verneinte. Jetzt wurde der Transportmonitor noch umgehängt und wenig später rauschte das Propofol in Ben´s Vene und er schlief ein.

  • Zügig wurde er intubiert und bevor man ihn in den Saal fuhr, legte der Narkosearzt noch in der Leiste, die man wie den Bauch zuvor schnell rasierte, einen arteriellen Zugang, damit man den Blutdruck kontinuierlich kontrollieren konnte. Den ZVK verschob man auf später, aber der Anästhesieschwester gelang es einen zweiten Zugang am rechten Handrücken zu legen, der seit dem Vortag ein wenig schlanker geworden war, obwohl der ganze Arm durchaus noch dick, heiß und geschwollen war. So konnte man das Noradrenalin, mit dem man den Blutdruck stützte, langsam über den dünnen Zugang laufen lassen und hatte das dicke Schläuchlein am Hals für andere Infusionslösungen und Medikamente frei. Jemand hatte Fieber gemessen und die Temperatur betrug fast 39°C, also war irgendwo im Körper ein septisches Geschehen. Als man nun den Verband an Ben´s Brustkorb um die Thoraxdrainage löste, war sofort klar, wo da vermutlich die Ursache dafür war-neben der Einstichstelle floss der pure Eiter aus dem Patienten. „Trotzdem machen wir das jetzt erst mal sauber und kleben dann eine dichte Inzisionsfolie darüber-das müssen wir uns zuletzt ansehen. Jetzt ist es wichtig, dass wir keine Keime in den Operationsbereich am Rücken übertragen, aber die Entlastung des Rückenmarks hat jetzt oberste Priorität, denn mit jeder Stunde, wo das Hämatom und die Schwellung auf den Spinalkanal drücken, wird es unwahrscheinlicher, dass die Lähmung völlig reversibel ist!“ ordnete der Wirbelsäulenchirurg an und alle Anwesenden stimmten ihm zu. So säuberte und verklebte der Springer den Brustkorb wieder, desinfizierte seine Hände danach gründlich und dann fuhr man Ben in den Saal, um dort die Bauchlagerung des narkotisierten Patienten vorzunehmen.
    Die Lagerungshilfsmittel waren alle bereit, dazu fünf Personen, von denen jeder genau wusste, was er zu tun hatte. Unter dem Kommando des Narkosearztes, der den Kopf hielt und den Tubus, die Thoraxdrainage und die Zugänge im Auge behielt, drehte man Ben achsengerecht auf den Bauch. Unter die Brust kam ein spezielles Lagerungskissen, beide Arme wurden kopfwärts nach oben in Armhalter mit gepolsterten Ulnarisstützen gelegt, wobei das mit dem Gipsverband schwierig war, aber letztendlich doch klappte. Die Beine wurden an der Schienbeinkante unterpolstert, wieder soweit der Gips das erlaubte und eine dicke Rolle kam unter die Füße. Gerade in Bauchlage war es extrem wichtig, dass man auf physiologische Gelenksstellungen und gute Polsterung achtete, weil es da leicht zu Nervenschädigungen kam. Ben´s Stirn ruhte in einem Silikonring, so dass der Narkosearzt an den Tubus konnte, falls das nötig würde und nun ordnete man noch die Zugänge, den Katheter und den Thoraxschlauch, während die Wirbelsäulenchirurgen und der Assistenzarzt sich endgültig waschen gingen.


    Der Springer desinfizierte nun dreimal gründlich die ganze Rückenpartie von den Schultern bis zu den Oberschenkeln und steckte mit einer Kornzange auch einen mit Schleimhautdesinfektionsmittel getränkten Tupfer in den Anus, der dort bis zum Ende der Operation verbleiben würde um ein Aufsteigen von Darmkeimen zu vermeiden. Man legte noch einen breiten gepolsterten Gurt über die Oberschenkel, erstens um einen Sturz des Patienten vom Tisch zu verhindern und zweitens auch, um den am Platz zu halten, wenn man intraoperativ den OP-Tisch stark kippen musste. Inzwischen waren die Ärzte mit ihrer chirurgischen Händedesinfektion fertig und die instrumentierende Schwester reichte ihnen ihre Mäntel, die vom Springer hinten verschlossen wurden und alle zogen zwei Paar Handschuhe an-die unteren in grün als Indikatorhandschuhe, damit man eine Beschädigung sofort erkennen konnte. Ben`s Rücken wurde erst mit Inzisionsfolie abgeklebt, einer sterilen, durchsichtigen Klebefolie, um auch jeden eventuell noch vorhandenen Hautkeim fern zu halten, danach wurde der ganze Patient mit sterilen Einmaltüchern abgedeckt und nachdem der Operateur, der eine Lupenbrille trug, sich noch das Licht mit sterilen aufsteckbaren Handgriffen eingestellt hatte, begann man mit einem mehrere Zentimeter langen Schnitt die Haut über Ben´s Wirbelsäule zu eröffnen.
    Nach wenigen Millimetern sah man schon das von Blutergüssen unterlaufenen Muskelgewebe, mehrere Knochensplitter kamen ihnen entgegen, wobei man die kleineren entfernt und die größeren nur beiseite schob- die würde man später mit Metallstiften stabilisieren- und als man mit Bohrern und durch vorsichtiges Freipräparieren, um die austretenden Nerven zu schonen, endlich zum Spinalkanal gelangte, war dort sofort ein imponierendes riesiges Hämatom zu sehen, das man soweit möglich absaugte und ausräumte und danach eine Blutstillung vornahm. Sehr vorsichtig kontrollierte der Wirbelsäulenchirurg die Rückenmarkshaut, aber die war tatsächlich nicht verletzt und es trat auch kein Liquor, also Hirnwasser, aus.


    „Vielleicht haben wir Glück!“ sagte der Wirbelsäulenchirurg und begann nun mit Hilfe seiner Assistenten die gebrochenen Wirbel mit Osteosynthesematerial aus Metall zu versorgen. Ein spezieller Titanstab, ein Fixateur intern wurde neben der Wirbelsäule eingeschlagen und an dem die Knochenfragmente verschraubt. Den würde man, falls es möglich war, in etwa einem Jahr wieder entfernen. Ein hinzu gerufener Neurologe maß die Nervenströme an Ben´s Füßen, indem man elektrisch von oben her stimulierte und prüfte auch die Fußsohlenreflexe. „Babinsky wieder negativ!“ stellte er zufrieden fest und nun begann man, nachdem man drei Drainagen eingelegt hatte mit dem schichtweisen Wundverschluss. „Wenn er Glück hat und die Schwellung auch zurück geht, hat er die Chance, dass die Lähmung zumindest in großen Teilen reversibel ist!“ sagte nun der Wirbelsäulenchirurg und die Anwesenden nickten. Es waren fast vier Stunden vergangen und nun rief man die Viszeralchirurgen, damit die sich langsam für ihren Part fertig machten, wenn man Ben zurückgedreht hatte. Man klebte noch einen dicken Verband auf Ben´s unteren Rücken, entfernte den Desinfektionstupfer und dann wurde ein zweiter Tisch zum Umlagern danebengefahren.

  • Der Narkosearzt hatte während der Operation alle Hände voll zu tun gehabt. Erstens war der Organismus seines Patienten trotz der Infusionen, die er bereits erhalten hatte, immer noch ausgetrocknet, was man an den stehenden Hautfalten sehen konnte. Außerdem war der Kreislauf instabil und auch die roten Blutkörperchen waren in viel zu geringem Maße vorhanden, während die Leukozyten-vermutlich wegen der Infektion im Brustraum- massiv erhöht waren, wie auch alle anderen Entzündungswerte. Man hatte gleich nachdem der niedrige Hb bekannt war, mehrere Konserven eingekreuzt und nun hatte Ben intraoperativ bereits fünf davon bekommen, da Operationen an der Wirbelsäule fast immer mit einem hohen Blutverlust einhergingen und Ben zuvor schon sehr ausgeblutet gewesen war. „Wie mir der Notarzt mitgeteilt hat, hat ein tunesischer Praktiker gestern Abend unserem Patienten eine Frischbluttransfusion zukommen lassen-ich denke ohne die wäre er schon nicht mehr am Leben!“ hatte der Anästhesist seinen Kollegen erklärt, die schweigend nickten. Während der Wirbelsäulenoperation wurde am Tisch so wenig wie möglich gesprochen, da der Mundschutz nicht alle Keime aus der Ausatemluft zurückhalten konnte und man so eine Infektionsgefahr für den Patienten vermeiden wollte. Nach dem Wundverschluss allerdings tauschten sich die Ärzte durchaus aus und als man den zweiten Tisch bereit hatte, löste man die Fixierungen.


    Der Narkosearzt hatte mit dem Noradrenalin gespielt, um den Blutdruck in einem möglichst optimalen Rahmen zu halten. Während die Durchblutung des Gehirns und der Nieren eher höhere Drücke verlangte, waren die Operateure mit niedrigeren Drücken zufrieden, damit die Blutgefäße nicht so schweißten. Nun entfernte man die Lagerungshilfen und drehte Ben gemeinsam auf den frischen geraden Tisch. Die Wirbelsäule war nun von innen stabilisiert, darum musste man nun nicht mehr so aufpassen, dass man die Achsen korrekt hielt, aber trotzdem fassten alle Beteiligten äußerst vorsichtig mit an. Als Ben auf dem Rücken lag, sah er momentan ganz verändert aus, da die Schwerkraft das Gewebewasser hatte nach unten sacken lassen und sein Gesicht nun sehr geschwollen war, das würde sich aber von alleine geben. Nun legte der Narkosearzt noch eine Magensonde, denn für eine endoskopische Inspektion des Bauchraums mussten alle Hohlorgane möglichst leer sein, aber außer ein wenig Magensaft lief da nichts ab. Der Pfleger hatte Ben inzwischen wieder fixiert und den Bauch großflächig desinfiziert und nun stand das nächste OP-Team bereit und schlüpfte gerade in seine Mäntel.


    Sarah und Semir saßen immer noch wie auf glühenden Kohlen vor der OP-Abteilung und warteten darauf, dass man ihnen Auskunft gab, oder endlich ein Bett herausgefahren würde. Semir hatte Sarah von seinem Aufenthalt in Tunesien erzählt, von den Zuständen in dem dortigen Krankenhaus und ihrer Flucht. Auch die Gastfreundschaft von Yasser´s Familie hatte er erwähnt und Sarah versprach, sich bei denen noch persönlich zu bedanken. Die Minuten wurden zu Stunden und angstvoll beobachteten die beiden die Uhr, deren Zeiger quälend langsam nach vorne wanderte. Endlich öffnete sich kurz nach 21.00 Uhr die Tür und der Wirbelsäulenchirurg, dessen Haar verschwitzt und an den Kopf geklatscht war, setzte sich zu ihnen. „Also mein Part ist beendet-wir konnten ein großes Hämatom im Lendenwirbelbereich ausräumen, die gebrochenen Wirbel mit einem Fixateur intern stabilisieren und eine Verletzung der Dura hat nicht vorgelegen. Wenn dein Freund Glück hat, Sarah, ist die Lähmung ganz, oder zumindest teilweise reversibel. Allerdings wird es fast sicher noch zu einer postoperativen Schwellung kommen und ob tatsächlich etwas zurückbleibt, wird man erst in einigen Tagen bis Wochen sehen, aber du kannst zumindest verhalten optimistisch sein!“ teilte er ihr mit und nun begann Sarah, die sich schon lange wieder beruhigt gehabt hatte, erneut zu weinen, aber diesmal vor Erleichterung. „Jetzt schauen sich die Viszeralchirurgen gerade den Bauch von innen an-ich kann euch nicht sagen, wie lange das dauern wird!“ informierte sie der Chirurg noch, bevor er nach Hause ging. Er hatte eigentlich schon lange keinen Dienst mehr, aber es war für ihn selbstverständlich, dass er so einen Notfall noch persönlich versorgte-immerhin wurde behauptet, dass er der beste Wirbelsäulenchirurg des Universitätsklinikums war und Mitarbeiter und deren Angehörige wurden durchaus bevorzugt behandelt.
    Sarah und Semir lehnten sich zurück und Semir fragte: „Soll ich uns mal aus dem Automaten was zu trinken besorgen?“ und Sarah nickte müde. Hoffentlich ging weiterhin alles gut!


    Die Bauchchirurgen hatten inzwischen mit einem dicken Trokar direkt neben dem Nabel Ben´s Bauchwand durchstoßen und den Bauch mit Kohlensäuregas aufgeblasen. Man kippte den OP-Tisch stark kopfwärts, was bei Ben durch die Flüssigkeitsverschiebung sofort zu einem Blutdruckanstieg führte und das Noradrenalin reduziert werden konnte. Sorgfältig inspizierten die beteiligten Chirurgen das Innere des Abdomens und fanden viele Blutergüsse, die man soweit möglich absaugte, aber keine frische Blutung mehr. Ben´s Blutdruck rauschte inzwischen wieder ab und trotz aller medikamentöser Unterstützung schlug sein Herz rasend schnell und der Narkosearzt bestimmte: „Ihr müsst schnellstmöglich zum Ende kommen, sonst übersteht er das nicht und den Eingriff am Thorax müssen wir auch verschieben. Er ist gerade so instabil, wir lassen ihn nachbeatmet und bringen ihn erst einmal auf die Intensiv zum Stabilisieren. Morgen sehen wir weiter!“ sagte er und die Chirurgen beendeten so schnell wie möglich die Laparoskopie. Mit wenigen Stichen verschloss man zwei der drei kleinen Löchlein in Ben´s Bauch wieder, fädelte durch das dritte eine Easyflowdrainage um eine mögliche Nachblutung nicht zu übersehen, klebte einige Sterilpflaster darüber und brachte den Tisch wieder in Normalstellung, was erneut massive Blutdruckschwankungen zur Folge hatte. Der Springer hatte die Thoraxchirurgen verständigt, dass man heute Nacht keinen Eingriff mehr vornehmen konnte und so war wenig später Ben auf dem Weg zur Schleuse, wo ihn schon ein Intensivarzt und eine Intensivschwester mit einem Intensivbett mit Transportbeatmungsgerät und Monitoring erwarteten.
    Sarah war aufgesprungen, als sie ihre Kollegen von der chirurgischen Intensiv heranfahren sah. „Wir holen deinen Freund beatmet ab!“ informierte sie der Arzt, was aber eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre, denn die Gerätschaften sprachen für sich. Wenig später wurde Ben blass und zugedeckt bis zum Hals herausgefahren und Sarah und Semir folgten schweigend dem Bett bis vor die Intensiv. „Sarah, wir holen dich herein, wenn wir ihn versorgt haben!“ sagte der Intensivarzt freundlich und nun saßen die junge Frau und der Polizist erneut auf unbequemen Besucherstühlen und warteten. „Jetzt kann ich mit den Angehörigen meiner Patienten mitfühlen!“ bemerkte Sarah und Semir nickte schweigend und ließ vor seinem inneren Auge Revue passieren, wie viel Zeit er schon damit verbracht hatte vor Notaufnahmen und Operationssälen auf erlösende oder auch niederschmetternde Nachrichten zu warten-sicher schon mehr als Sarah, die ja normalerweise auf der anderen Seite der Tür am Schaffen war. Wieder zogen sich die Minuten wie Kaugummi, bis sie endlich herein gebeten wurden. Sarah trat an die Seite ihres schwer kranken und immer noch instabilen Lebensgefährten. „Halt durch Schatz!“ sagte sie und küsste ihn sanft auf die bärtige Wange. „Sarah-du kannst hier gar nichts tun-im Bauch wurden nur Blutergüsse gefunden, aber keine frische Blutung mehr, wie befürchtet. Wir legen ihm jetzt einen ZVK und lassen ihn dann ein wenig zur Ruhe kommen, damit morgen die nächste OP am Thorax vorgenommen werden kann. Er ist sediert und ich würde vorschlagen, du gehst jetzt auch nach Hause und ruhst dich ein wenig aus-wir passen gut auf ihn auf und informieren dich natürlich sofort, wenn sich etwas verändert!“ sagte der Anästhesist und Sarah nickte schweigend. „Aber ich wasche ihn morgen früh höchstpersönlich, gebt das bitte an die Frühschicht weiter!“ sagte sie dann noch im Hinausgehen und ihre Kollegin lächelte. „Ich richte es aus, da wird sich der Frühdienst aber freuen!“ sagte sie herzlich und nun verließen Sarah und Semir endgültig die Intensiv und kurz darauf das Krankenhaus. Sarah meinte sowieso beinahe zu platzen, so voller Milch waren ihre Brüste und während Semir nach einer herzlichen Verabschiedung und nachdem er sie zu ihrem Wagen gebracht hatte mit dem BMW nach Hause fuhr, erreichte Sarah wenig später ihre Wohnung und war redlich froh, dass Tim noch auf war und auch Hunger hatte. Sie nahm ihn mit ins Bett und obwohl sie es nicht für möglich gehalten hatte, schlief sie mit ihrem Sohn an der Brust wenig später ein und erwachte erst am Morgen.

  • Nachdem es draußen schon sehr kalt war-immerhin hatten sie Dezember-hatten Günther und Dietmar kurz überlegt, wo sie die fünf Tunesier mit ihren Waffen hinbringen könnten. Man brauchte eine geheime beheizbare Wohnung und da hatte einer der beiden Brüder eine Idee gehabt, denn an ihrem Schlüsselbrett hing fast vergessen bereits seit vielen Monaten ein Schlüssel, darunter ein Namensschild. Auf dem Weg zum Flughafen war Dietmar kurz an der Wohnung vorbeigefahren, aber wie er von unten bereits erkennen konnte, waren da keine Vorhänge an den Fenstern, anscheinend war sie noch nicht von Neuem vermietet. So hatte Günther die drei bis zu den Zähnen bewaffneten Männer mit mehreren Isomatten und Schlafsäcken eingepackt und Dietmar war mit den beiden anderen dazu gestoßen. Sie hatten noch beim nächsten Türken angehalten und einige Portionen Döner mitgenommen-Getränke hatte Dietmar im Wagen-und so begrüßten sich wenig später die fünf Tunesier, die sich aus den Terrorcamps in ihrer Heimat bestens kannten. Gemeinsam aßen sie und Günther und Dietmar fuhren dann zurück in ihre Wohnungen, damit sie sich auch nicht auffällig verhielten.


    Als Semir nach Hause gekommen war, war Andrea schon ins Bett gegangen-immerhin war es inzwischen kurz vor Mitternacht. Allerdings hatte sie gekocht und für Semir stand ein gefüllter Teller bereit, den er sich in der Mikrowelle warm machte und dessen Inhalt mit Genuss verspeiste. Immerhin hatte er seit dem Frühstück in Sousse nichts mehr gegessen und beim Anblick des leckeren Eintopfs hatte sein Magen zu knurren begonnen. Ein Bier vervollständigte sein Mahl, danach duschte er noch-immerhin war er seit zwei Tagen nicht aus den Kleidern gekommen und als er wenig später zu Andrea ins Bett schlüpfte, schmiegte sie sich an ihn und flüsterte: „Schön dass du da bist!“ um danach sofort weiter zu schlafen. Semir brauchte noch eine Weile, aber irgendwann war er auch weg und erwachte erst, als Andrea´s Wecker um 6.30 Uhr losging.


    Brami hatte in dem Hotel, in dem sich das Personal vor Servicebereitschaft beinahe überschlug-immerhin gab der Dauergast hervorragende Trinkgelder-seine Suite aufgesucht. In ihm hatte sich ein Druck aufgebaut, den er dringend loswerden musste und so rief er bei dem Escortservice an, der ihm seine Begleiterinnen in Köln immer beschaffte und orderte gleich zwei der jungen Frauen. Er nahm gemeinsam mit ihnen ein erlesenes Mahl ein, das der Zimmerservice wundervoll arrangierte, trank mit seinen Begleiterinnen erlesenen Champagner dazu und danach landete er –wie fast immer- mit den Damen im Bett und ließ sich nach allen Regeln der Kunst verwöhnen. Als er genug hatte, warf er die beiden mit einem großzügigen Trinkgeld kurzerhand hinaus, um danach in einen traumlosen Schlaf zu fallen. Der Tag des Attentats rückte immer näher und er freute sich schon darauf, die deutschen Wirtschaftsmogule in Angst und Schrecken zu versetzen-und diese Polizisten würde er auch noch kriegen!


    Ben hatte im Krankenhaus noch einen ZVK gekriegt und danach hatte man ihn einfach in Ruhe gelassen. Die Messwerte zeigten immer noch einen Flüssigkeitsbedarf an, also hatte man ihm noch mehrere Liter Infusion zukommen lassen, ohne dass allerdings auch nur ein Tropfen Urin im Beutel erschien. Man hatte zielgerichtet seine Elektrolytwerte ausgeglichen, ihm Glucoselösung angeboten, um seine Energiereserven aufzufüllen und fiebersenkende Medikamente verabreicht, denn die Temperatur war inzwischen bei fast 40°C angelangt. Man entschied sich ein Breitbandantibiotikum zu verabreichen, allerdings entnahm man zuvor noch einen Abstrich aus dem Sekret, das neben der Thoraxdrainage herauslief-wenn dieser Befund da war, konnte man überprüfen, ob die Antibiose richtig war, aber man musste sofort damit beginnen, wenn man sein Leben retten wollte. So wurde es Morgen und Sarah eilte, nachdem sie Tim nochmals gestillt und dann ihrer Schwägerin übergeben hatte, zum Krankenhaus.

  • Brami rief nach einem fürstlichen Frühstück gleich Günther Haug an. „Ihr findet mir jetzt bitte die Adressen der beiden Polizisten heraus. Um meine Landsleute werde ich mich selber in der Heimat kümmern-da ist das unproblematischer. Und natürlich möchte ich das Krankenhaus erfahren, in dem Ben Jäger liegt, also ihr wisst, was ihr zu tun habt. Meine Einsatzkräfte sollen die Füße still halten und sich bis zum Samstag nicht mehr in der Öffentlichkeit sehen lassen, denn dann schlagen wir zu-ich hoffe, ihr habt ein sicheres Plätzchen für meine Männer gefunden?“ fügte er noch hinzu, denn natürlich war er am Vortag noch von der Verlegung des Unterschlupfs informiert worden. Günther bejahte und kaufte unterwegs noch Lebensmittel für die nächsten Tage für die Terroristen, nahm auch Geschirr mit und wenig später erklomm er wieder die Stufen zum vierten Stock, in dem das Versteck lag.
    Dietmar hatte inzwischen ihre Unterlagen durchgesehen. Ben Jäger hatte da eine Adresse in Düsseldorf angegeben. Dietmar runzelte die Stirn-das konnte fast nicht sein, aber als er übers Internet herauszufinden versuchte, ob das ein Fake war, wohnte da zu seinem Erstaunen tatsächlich ein Jäger-Konrad Jäger. Kurz entschlossen suchte er die Telefonnummer heraus, unterdrückte seine Handynummer und rief dort an. „Könnte ich bitte Ben Jäger sprechen?“ sagte er freundlich in den Hörer, aber die Haushälterin Konrad´s, die rangegangen war, verneinte: „Ben Jäger wohnt schon lange nicht mehr hier!“ informierte sie den Anrufer. „Ich hätte eine wichtige Lieferung zu Weihnachten für ihn, habe aber den Zettel mit seiner Adresse verloren!“ log nun Dietmar und wenig später hatte er die aktuelle Wohnanschrift von Jäger. Er hatte zwar keine Ahnung, was Brami damit wollte, aber er wurde gut bezahlt dafür, nicht allzu neugierig zu sein.
    Als nächstes telefonierte er die Kölner Krankenhäuser ab und hatte ziemlich bald in der Uniklinik einen Treffer. „Chirurgische Intensivstation-Besuche nur für Angehörige!“ lautete die Information und nun versuchte er den Namen und die Wohnanschrift des kleinen Polizisten herauszubringen, von dem ihm die Terroristen und Brami erzählt hatten, aber ohne weiteren Anhaltspunkt war das ein hoffnungsloses Unterfangen und er gab nach einer Weile unverrichteter Dinge wieder auf.


    Sarah war inzwischen auf der Intensiv angekommen und auch sofort herein gebeten worden. „Wie geht´s ihm?“ fragte sie ihre Kollegen und den Stationsarzt besorgt. „Er ist septisch bei steigendem Volumen-und Katecholaminbedarf!“ informierte man sie. „Die Niere ist nach wie vor noch nicht angesprungen, er hat nachts noch zwei Konserven gebraucht, aber wir hoffen, dass die Thoraxchirurgen heute ran können, denn was da inzwischen aus dem Pleuraraum kommt, sieht nicht sonderlich gut aus!“ wurde sie informiert. „Außerdem hat man auf dem CT gestern schon eine beginnende Pneumonie gesehen, was bei einem Hämatothorax ja eine häufige Komplikation ist-wir werden nachher nochmals eine Röntgenaufnahme anfertigen und die Laborwerte abwarten, aber geplant ist auf jeden Fall, ihn heute zumindest am Brustkorb zu operieren. Die Extremitäten eilen nicht so, das können wir auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, aber der Thoraxeingriff ist eigentlich dringend nötig!“ sagte der Arzt und Sarah nickte, während sie an Ben´s Bett trat und ihm liebevoll die verschwitzten Haare aus dem blassen Gesicht strich. Er war mit einem feuchten großen Handtuch bedeckt und das ganze Zimmer roch durchdringend nach Pfefferminzöl-damit versuchte man mechanisch die Temperatur zu senken.
    „Ich werde ihn jetzt waschen!“ verkündete sie und ihre Kollegin, die ihn in der Frühschicht betreute, schenkte ihr ein herzliches Lächeln. „Geht in Ordnung-dankeschön. Du weisst ja, wo du alles findest und zum Drehen holst du mich dann, ja?“ sagte sie und verließ den Raum. Sarah zog sich über ihre Jeans und ihr T-Shirt-den Pullover hatte sie gleich mal abgelegt, denn es war ihr jetzt schon warm genug-eine Einmalschürze und bereitete dann zunächst einmal alles zum Rasieren vor. Obwohl Ben tief sediert war, sprach sie mit ihm: „Schatz-ich mache jetzt deinen Rauschebart ab. Der wächst ja schnell wieder nach, du wirst sehen, aber das ist im Augenblick sicherer und hygienischer, weil man den Tubus besser verkleben kann!“ erklärte sie ihm und begann mit ihrer Arbeit. Danach putzte sie seine Zähne und spülte und saugte den Mund dabei gründlich ab-sie musste ihm dazu allerdings einen Sedierungsbolus geben, denn das hätte er sonst nicht toleriert. Als Nächstes wusch sie ihm mit Hilfe eines Müllbeutels als provisorischem Haarwaschbecken die Haare. Danach widmete sie sich hingebungsvoll seiner kompletten Vorderseite, soweit sie durch die Gipsverbände überhaupt hinkam. Auf der linken Brustkorbseite gruselte es sie beinahe, denn man merkte schon beim vorsichtigen Darüberfahren mit dem Waschlappen, dass das Ganze völlig instabil war. Obwohl Semir seinen Freund in Sousse ja schon einmal ein wenig gewaschen hatte, war noch eine ganze Menge Saharasand und Schmutz auf ihm zu finden und sie wechselte mehrmals das Waschwasser. Dann verband sie die Thoraxdrainage frisch und war erschrocken, wie viel gelb-rahmiger Eiter sich da neben dem Einstich entleerte-die war nicht unter sterilen Bedingungen gelegt worden, das konnte man sofort unterschreiben, aber was halfs-ohne sie, würde er vermutlich schon nicht mehr leben!
    Mit Schaudern erinnerte sich Sarah daran, was Semir ihr über die Rekonstruktion der letzten Tage die Ben in Tunesien verlebt hatte, erzählt hatte. Es war sowieso ein Wunder, dass sie ihn noch in den Armen halten konnte-sie wollte nicht undankbar sein und vertraute auch der modernen Medizin. Als ihre Kollegin ihr noch beim Rückenwaschen geholfen hatte-der Verband über der Lendenwirbelsäule, der auch den beginnenden Dekubitus am Steiß mit bedeckte, würde bis zum Drainagenzug dran bleiben- und man das Laken und die Unterlage erneuert hatte, drehten sie ihn wieder auf den Rücken zurück und legten nur ein kleines Handtuch auf seine Körpermitte. Das Fieber war während der Waschung ein wenig gesunken und er hatte auch das Drehen ganz gut vertragen, ohne mit dem Blutdruck merklich zu reagieren. „Ich denke das wird heute klappen mit der OP!“ vermutete ihre Kollegin und Sarah nickte und setzte sich, nachdem sie die Waschutensilien aufgeräumt hatte, nun neben ihren Geliebten und hielt seine Hand. „Tim isst jetzt schon mit dem Löffel und trinkt ein Fläschchen!“ erzählte sie ihm, obwohl sie wusste, dass er das in seinem augenblicklichen Zustand nicht erfassen konnte, aber vielleicht drang der Klang ihrer vertrauten Stimme und die liebevolle Berührung zu ihm durch und gab ihm Kraft-und die würde er brauchen!

  • Wenig später kam die Visite und der Wirbelsäulenchirurg der ihn operiert hatte, ein Viszeralchirurg, ein Unfallchirurg, ein Thoraxchirurg, ein Neurologe und mehrere anästhesiologische Oberärzte drängten mitsamt einem Schwarm Assistenten ins Zimmer, einige mussten sogar auf dem Flur draußen stehen bleiben, weil sie in dem Raum keinen Platz mehr fanden. Der diensthabende Anästhesist stellte den Patienten vor und die jeweiligen Fachgebiete referierten dann nacheinander über den momentanen Stand der Dinge. Es wurde beschlossen Ben im Laufe des Vormittags am Thorax zu operieren, aber die Knochenbrüche an Arm und Bein momentan noch unversorgt zu lassen. Das würde Narkosezeit sparen und auf einen Tag mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. Man konnte ja sogar von außen sehen, dass die Achsen hinten und vorne nicht stimmten-das würde noch einiges an mühsamer, aber eben auch lange dauernder Puzzlearbeit geben!


    Yasser war noch am Vorabend in der Kinderklinik operiert worden. Dr. Amami hatte seinen deutschen Arztkollegen eine Übergabe gemacht und sich dann der Mutter angenommen, die nun gemeinsam mit ihm völlig fertig vor dem OP wartete. Er hatte etwas zu Trinken besorgt und ein paar belegte Brötchen aus der Cafeteria geholt. Sie wollte zwar zunächst vor lauter Aufregung nichts zu sich nehmen, aber er befahl ihr das regelrecht, denn sie würde ebenfalls ihre Kraft noch brauchen und so aß und trank sie zwar widerstrebend, aber immerhin. Zwei Stunden später kam eine Schwester aus der OP-Abteilung und sagte mit einem Lächeln im Gesicht: „Yasser möchte seine Mama sehen!“ und als Dr. Amami das übersetzte, sprang die Frau mit einem glücklichen Gesichtsausdruck auf und folgte eilig der Schwester in den Aufwachraum, wo Yasser zwar blass und mit vielen Infusionen, aber trotzdem guter Dinge auf seinen Besuch wartete. Er würde nicht einmal auf die Intensivstation müssen, denn man hatte die Schäden, die die Kugel angerichtet hatte, problemlos reparieren können. Aus dem dünnen Bäuchlein ragten zwar noch zwei Drainagen, aber der Junge hatte dank Schmerzmitteln keine Schmerzen und schlief nun, beschützt von seiner überglücklichen Mutter, seinen Narkoserausch aus. Dr. Amami sprach danach noch mit seinen Kollegen und es wurde ein Eltern-Kind-Zimmer organisiert in dem auch die Mutter ein Bett hatte und als sich der Arzt später mit der Angabe seiner Telefonnummer, falls es Verständigungsprobleme geben sollte, verabschiedete, um wie vereinbart mit dem Taxi zu der nahe gelegenen Schutzwohnung zu fahren, wo auch für ihn ein Bett bereit stand, hatte er gute Nachrichten für den Rest der Familie.
    Er löste sozusagen Khaled ab, der als Dolmetscher noch geblieben war, jetzt aber froh war, endlich in seine Wohnung zu dürfen. Jenni und Bonrath, die ebenfalls gewartet hatten, obwohl sie schon lange frei hatten, fuhren noch Khaled nach Hause und auch der inzwischen in der Uniklinik versorgte Chauffeur war ganz unkonventionell mit einer Polizeistreife-organisiert von Semir und Frau Krüger –eingetroffen und nun waren alle miteinander nach einem aufregenden Tag früh zu Bett gegangen. Der tunesische Arzt hatte gesehen, dass Jenni dasselbe Handymodell wie er hatte und hatte sich noch über Nacht ihr Ladegerät ausgeliehen, das sie zufällig im Wagen hatte. Seiner Frau, die aus allen Wolken gefallen war, dass er jetzt in Deutschland war, hatte er ebenfalls Bescheid gegeben und so stand einem entspannten Schlaf nichts mehr entgegen.


    Die Haug-Brüder hatten Brami von den Ergebnissen ihrer Ermittlungen berichtet und der hatte nach kurzer Überlegung befohlen: „Einer von euch kommt mit mir zu der ermittelten Adresse von Jäger!“ und Günther hatte sich widerstrebend gefügt. Sie waren mit Günthers unauffälligem Wagen, der passenderweise getönte Scheiben hatte, dorthin gefahren und auf Geheiß Brami´s hatte sich der Deutsche als Paketdienst ausgegeben. Sarah´s Schwägerin hatte nichtsahnend die Tür geöffnet und sah sich wenig später zwei Männern, von denen einer eine Waffe gezückt hatte, gegenüber. „Pack ein paar Sachen für dich und das Kind ein!“ herrschte Brami sie an, während Tim, der die angespannte Situation spürte, zu weinen begann. „Und bring das Balg zum Schweigen, sonst knall ich euch beide ab!“ fügte er hinzu, um allerdings kurz darauf hinzuzufügen: „Wenn du dich ruhig verhältst wird euch nichts passieren!“ denn lebend waren die Angehörigen im Augenblick viel mehr ein Druckmittel als tot. Er würde schon dafür sorgen, dass bis zum Wochenende die Polizei die Füße still hielt und was danach kam, da machte er sich noch keine Gedanken darüber. Klar war, dass er die Frau nicht am Leben lassen konnte, denn sie konnte ihn identifizieren, aber vielleicht würden zuvor seine Männer noch ihren Spaß mit ihr haben, bevor er sie verschwinden ließ!

  • Auch Semir war einigermaßen erholt nach seiner doch recht kurzen Nacht aufgewacht. Nach dem Frühstück mit seiner Familie fuhr er erst noch im Krankenhaus bei Ben vorbei und wurde auch gleich auf die Intensivstation gelassen. Sarah hatte schon gesagt, dass er der beste Freund ihres Lebensgefährten sei und auch jederzeit Auskunft bekommen dürfe. Semir trat an Ben´s Bett, der zwar wesentlich sauberer als gestern wirkte, aber immer noch blass, krank und fiebrig aussah. „Hallo Großer!“ sagte er liebevoll und berührte ihn kurz am Arm, ohne dass er in irgendeiner Weise reagierte. Sarah erklärte, dass gerade die Visite da gewesen war und er im Laufe des Vormittags am Brustkorb operiert werden würde. „Dann wünsche ich ihm viel Glück, dass die OP gut verläuft-ich werde jetzt mit der Chefin das tun, was er mir aufgetragen hat, nämlich die Hintergründe des Mordversuchs aufdecken und die Männer verhaften, die letztendlich dafür verantwortlich sind, wie er daliegt!“ sagte Semir entschlossen und verabschiedete sich, um zur PASt zu fahren.


    Dort erwartete ihn die Chefin schon. Semir hatte inzwischen auch seine Nachrichten auf dem Smartphone gelesen-gestern hatte er da vor Erschöpfung einfach nicht mehr drauf gesehen. Susanne hatte ihm geschrieben: „Dieser Said Brami ist gestern am Nachmittag tatsächlich in Köln gelandet-kurz nach eurer Maschine. Danach verliert sich seine Spur, aber ich bleibe dran!“ hatte sie ihm gemailt und Semir dachte nur: „Also doch-habe ich mich nicht getäuscht!“ und ging nun flotten Schrittes ins Büro der Chefin.


    „Guten Morgen Gerkhan-wie geht´s Jäger?“ fragte die und Semir zuckte mit den Schultern. „Ich komme gerade vom Krankenhaus!“ teilte er ihr mit. „Er wurde bis in die Nacht hinein operiert, dann hat man eine Pause gemacht, um ihn auf der Intensivstation zu stabilisieren, aber heute gehts weiter!“ sagte er. „Er ist intubiert und beatmet, aber seine Lebensgefährtin ist bei ihm und gibt mir sofort Bescheid, wenn sich was ändert-also können wir uns jetzt daran machen herauszufinden, ob Ben´s Verdacht begründet ist!“ offerierte er und erzählte dann der Chefin, was Ben für Vermutungen bezüglich der Terrorzelle, den Haug-Brüdern und des Anschlags auf den Wirtschaftsgipfel hatte. Die Chefin hörte angespannt zu und lehnte sich in ihrem Stuhl nach vorne. „Wenn das stimmt, Gerkhan, dann bekommen sie und Jäger eine Belobigung, denn uns ist es die ganzen Tage nicht gelungen, irgendeinen der Terroristen aufzustöbern. Wir verständigen jetzt gleich die Staatsanwaltschaft und das SEK und dann fahren wir zu dieser Kartbahn!“ sagte sie mit geröteten Wangen voller Entschlossenheit. „Anscheinend war es doch nicht verkehrt, Jäger dort inkognito ermitteln zu lassen!“ fügte sie dann noch hinzu, aber da enthielt sich Semir jeglicher Äußerung dazu. Wenn Ben da nicht eingeschleust worden wäre, würde er jetzt nicht so da liegen und ein kleiner tunesischer Junge würde jetzt auch nicht um sein Leben kämpfen.


    „Haben sie übrigens etwas vom kleinen Yasser gehört?“ fragte er und die Chefin nickte. „Ich habe heute Morgen sogar schon im Kinderkrankenhaus angerufen und in der Schutzwohnung vorbei geschaut, um diesem Arzt und den anderen Frühstück zu bringen. Dem Jungen geht es den Umständen entsprechend gut-er liegt mit seiner Mutter auf der Normalstation in einem Mutter-Kind-Zimmer und seine Familie wird ihn heute schon besuchen können-wir werden die nachmittags hinbringen lassen.“ erklärte sie in kurzen Worten und nun fiel Semir auch die Sache mit den Spielsachen ein. Die Kinder hatten da schon was hergerichtet und Andrea hatte auch noch Winterkleidung dazu gelegt, wo die Mädels entweder raus gewachsen waren, oder was sie nicht anziehen wollten, was bei Ayda gelegentlich vorkam-die musste man inzwischen zum Einkaufen schon mitnehmen. „Meine Familie hat übrigens Kleidung und Spielsachen hergerichtet, wenn ich Andrea die Adresse gebe, wird sie die Sachen sicher hinbringen, die hat nämlich gerade Urlaub!“ sagte Semir und über das Gesicht der Chefin glitt ein kleines Lächeln. „Da haben wir wohl alle dieselbe Idee gehabt!“ sagte sie und berichtete, dass sowohl sie, als auch Jenny und Bonrath warme Kleidung für die Kinder und den Vater gebracht hatten. Dieser tapferen Familie würde es nicht schlecht ergehen in Köln-sie würden denen zeigen, dass auch Deutsche gastfreundlich sein konnten!


    So erledigte die Chefin einige Telefonate, Isolde Schrankmann wurde vom Einsatz informiert und versprach, später auch zur Kartbahn zu kommen und so trafen 45 Minuten später mehrere dunkle Fahrzeuge mit getönten Scheiben am vereinbarten Treffpunkt in der Nähe des Geländes ein. Semir und die Chefin legten ihre schusssicheren Westen an und die schwarz vermummten Männer des SEK besprachen mit Semir, der dort ja immerhin schon einmal gewesen war, anhand der Satellitenansicht der Gebäude das Vorgehen. Wenig später fuhren Semir und die Chefin vor dem Haupttor vor, während die anderen Männer das Gelände unauffällig umstellt hatten. Auf das Kommando: „Zugriff!“ wurden zunächst einmal die Überwachungskameras mit gezielten Schüssen außer Betrieb gesetzt, das Tor, das mit einer dicken Eisenkette gesichert war, wurde aufgebrochen und von allen Seiten kletterten bis zu den Zähnen bewaffnete Polizisten über den Zaun. „Vorsicht-wir haben es hier vermutlich mit skrupellosen Terroristen zu tun, die schwer bewaffnet und ausgebildete Kämpfer sind!“ hatte Semir gewarnt, aber es kam keinerlei Lebenszeichen von innen. Systematisch durchsuchten sie die Gebäude, um wenig später enttäuscht festzustellen, dass die Vögel leider ausgeflogen waren. Man sah zwar die Aufenthaltsräume, in den Vorratsschränken waren viele typisch tunesische Lebensmittel und Gewürze, was schon darauf hindeutete, dass Ben´s Vermutung richtig gewesen war, aber sonst fanden sie auf den ersten Blick keinen Hinweis auf den Verbleib der Verbrecher, falls das überhaupt zutraf und hier nicht doch nur harmlose Mechaniker gearbeitet hatten. Auch die inzwischen eingetroffene Schrankmann war enttäuscht und während das SEK bis auf vier Männer, die sie weiterhin unterstützten, wieder abzog, beorderte man Hartmut mit seiner Truppe zur Spurensicherung herbei-vielleicht fand der einen Hinweis, wo die Bewohner abgeblieben waren.


    Danach fuhren Semir und die Chefin mit ihren vier Begleitern noch zu den ermittelten Wohnadressen der beiden Haug-Brüder, aber auch da trafen sie niemanden an. Die Fahndung-auch nach deren gemeldeten Fahrzeugen- wurde ausgerufen und zu guter Letzt machten sich nun die Chefin und Semir auf zum Hotel, von dem inzwischen die Meldung Brami´s eingegangen war. Aber auch da war in der reservierten Suite niemand mehr-der Industrielle war mit kleinem Gepäck gleich nach dem Frühstück abgereist.


    Inzwischen ging es schon auf Mittag zu und enttäuscht trafen sich die Chefin, Semir und die Staatsanwältin im Büro Kim Krüger´s wieder, um das weitere Vorgehen zu besprechen. In diesem Augenblick klingelte Semir´s Telefon und als er ranging wurde er nach wenigen Sekunden blass und sagte nur: „Oh mein Gott!“ woraufhin ihn Kim Krüger und die Schrankmann fragend ansahen.

  • Sarah war neben Ben gesessen und hatte seine Hand gehalten. Ihre Kollegin kam von Zeit zu Zeit, hängte Antibiotikakurzinfusionen an, erneuerte Perfusoren und half Sarah ihn immer wieder ein wenig anders zu lagern, damit er sich nicht noch mehr wund lag. Endlich kam gegen 11.00 Uhr der Abruf zum OP. Sarah half noch das Transportbeatmungsgerät anzuschließen-alles andere hatte man schon vorbereitet- und lief dann mit dem Stationsarzt und ihrer Kollegin bis zur OP-Abteilung. Mit einem zarten Kuss auf die Wange verabschiedete sie sich von Ben: „Machs gut-ich drück dir die Daumen-ich liebe dich!“ flüsterte sie, während das Bett hinter der Schiebetür verschwand.
    Kurz überlegte sie, aber dann beschloss sie, ein wenig zu Tim und ihrer Schwägerin zu fahren. Ben hätte im Augenblick nichts davon, wenn sie vor der OP-Abteilung wartete, es war wichtiger, dass sie wieder da war, wenn er zurück kam. Sie würde deshalb kurz nach Hause fahren, ihre schon wieder prallen Brüste von Tim erleichtern lassen, gemeinsam mit Lisa etwas essen und dann wiederkommen. Ihr Telefon hatte sie beim Betreten der Intensiv ausgeschaltet, weil dort die Verbindung durch die teilweisen Stahlwände sowieso nicht funktionierte. Sie vergaß auch einfach es wieder einzuschalten, sondern setzte sich in ihren Wagen und fuhr nach Hause.
    Zügig näherte sie sich ihrem Heim. Einen Gedanken hatte sie im Krankenhaus, aber der andere war schon bei ihrem Sohn, dem gegenüber sie ein schlechtes Gewissen hatte. Seit seiner Geburt waren immer entweder sie oder Ben bei ihm gewesen und jetzt hatte sie beinahe das Gefühl, ihn im Stich zu lassen. Natürlich war der bei ihrer Schwägerin in guten Händen und die betreute ihn routiniert und liebevoll, aber sobald es möglich war und Ben auf Normalstation war, würde sie ihn einfach ins Krankenhaus mitnehmen und sie würden möglichst viel Zeit als Familie miteinander verbringen. Aber erst einmal musste Ben das überleben und bei dessen Keimbelastung würde sie einen Säugling auch nicht mit auf die Intensiv nehmen. Trotz Stillen war dessen Immunsystem noch nicht ausgereift genug und er lief Gefahr, sich dort eine üble Infektion einzufangen und das würde Ben ihr nie verzeihen, wenn seinem Sohn durch ihre Unvorsichtigkeit etwas geschah!
    Sie stellte das Auto direkt vor dem Haus ab, wo gerade ein Anwohnerparkplatz frei war-lange würde sie sich ja nicht aufhalten-und lief zügig die Treppe hinauf. Während sie die Wohnungstüre aufschloss, lauschte sie schon auf etwaige Geräusche, vielleicht ein Glucksen oder Krähen von Tim, der ein rundherum fröhliches Kind war-na ja, so lange ihn nicht seine Zähne oder der Hunger plagten, aber alles blieb still. Sie trat in den großen Wohnraum und da beschlich sie schon ein komisches Gefühl. War Lisa mit Tim ein wenig rausgegangen? Aber der Kinderwagen war im Flur gestanden und Tim war doch schon ziemlich schwer, ihn länger herumzutragen war recht anstrengend. Sarah rief laut: „Lisa? Tim?“ und trat dann in das Kinderzimmer. Dort sah alles nach einem überstürzten Aufbruch aus. Schranktüren standen offen, aber von ihrem Sohn und seiner Betreuerin keine Spur. Sie kontrollierte die übrigen Räume, während ihr Atem immer schneller ging. Bereits in diesem Augenblick wusste sie, dass etwas Schreckliches geschehen war. Am Küchentresen fehlten Tim´s Fläschchen und die Fertignahrung und als Sarah nun mit zitternden Fingern nach ihrem Handy griff, um ihre Schwägerin anzurufen, was denn los sei, stellte sie erst fest, dass das ja noch ausgeschaltet war. Sie starrte auf das Display, während es sich hochfuhr und sah sofort, dass eine Nachricht von Lisa eingetroffen war-und zwar bereits um 9.15 Uhr. Als sie sie öffnete, meinte sie, ihr Herz würde aufhören zu schlagen. „Tim und ich sind entführt worden-die Polizei soll bis Sonntag die Füße still halten, sonst werden wir dafür bezahlen!“ stand da und nun sank Sarah auf das Sofa und starrte fassungslos auf ihr Smartphone. Ihre Knie waren wie Wackelpudding, aber sie wusste nur eines-sie musste sofort Semir verständigen-er würde wissen was zu tun war und deshalb wählte sie mit bebenden Fingern seine Nummer und lauschte auf das Tuten, bis er Sekunden später ranging.

  • Nachdem Semir seinem Entsetzen Ausdruck verliehen hatte, als Sarah ihm erzählt hatte, welche fürchterliche Entdeckung sie gemacht hatte, sagte er zu ihr: „Bitte fass nichts an-wir kommen sofort zu dir und bringen die Spurensicherung mit-und gib mir bitte die Telefonnummer deiner Schwägerin durch!“ was Sarah gleich erledigte. Semir drehte sich zur Chefin und zur Schrankmann um und erzählte in kurzen Worten was passiert war. „Oh Gott, die schrecken auch vor nichts zurück!“ meinte Kim Krüger und erhob sich schon und griff nach ihrer Jacke. Semir war derweil zu Susanne gelaufen und hatte um eine Handyortung gebeten. Nach kurzer Zeit teilte die ihm mit. „Im Augenblick ist das Handy aus-als es sich das letzte Mal ins Netz eingewählt hat, war das um 9.15 Uhr und zwar in der Nähe der Messe!“ teilte sie ihm mit, während sie ihm den Bereich auf der Karte zeigte und als Semir auch sie informierte-zugleich aber um Stillschweigen bat, wurde sie blass.
    Kim Krüger hatte unterdessen Hartmut zurückbeordert: „Herr Freund-wir haben einen vordringlicheren Auftrag für sie. Lassen sie ihre Truppe weiter das Gelände der Kartbahn durchkämmen, aber kommen sie bitte mit ihrer Ausrüstung zur Wohnung Ben Jäger´s -sein Sohn ist mit seiner Betreuerin entführt worden, da brauchen wir unseren besten Mann vor Ort!“ erklärte sie ihm und Hartmut versprach geschockt sofort zu kommen.


    So trafen wenig später eine Menge Menschen bei Sarah ein, die nur in Semir´s Arme fiel und haltlos zu weinen begann. Die Chefin checkte nochmal persönlich das Handy und begann sich mit Handschuhen vorsichtig umzusehen, bis wenig später auch Hartmut mit seiner Ausrüstung eintraf. Sarah hatte sich ein wenig beruhigt und fragte nur verzweifelt: „Warum nur? Weder Tim noch Lisa haben irgendeine Verbindung zu den Verbrechern-das sind doch dieselben, die Ben das angetan haben, denke ich-aber wer vergreift sich denn an einem unschuldigen Kind?“ wollte sie wissen, doch Semir zuckte die Schultern. „Die Motive weiss man nicht-ich glaube aber fest daran, dass Tim bis zum Wochenende nicht in Gefahr ist-die wollen den als Druckmittel und du hast ja gesagt, dass Nahrung, Kleidung und Windeln fehlen. Das deutet nicht daraufhin, dass sie ihm etwas antun wollen!“ beruhigte er sie und fügte im Geiste dazu: „Im Moment“, denn nach dem Wirtschaftsgipfel war den Verbrechern das Wohl des Kindes vermutlich egal.


    Während Sarah kurz zur Toilette ging wandte Semir sich an Isolde Maria Schrankmann und die Chefin und sah sie fest an: „Sie selbst wissen, wie es sich anfühlt, wenn ein Kind entführt wird. Wenn wir das dem LKA und dem BKA mitteilen sind wir raus. Die übernehmen die Ermittlungen, aber denen ist es prinzipiell egal, was mit dem Baby und der jungen Frau passiert-die wollen vordergründig den Wirtschaftsgipfel schützen und die nationale Sicherheit gewährleisten. Genauso ist es mit der Presse-für die wäre es ein gefundenes Fressen-eine Kindesentführung! Ich bitte sie beide inständig, mich und unsere eingespielte Truppe die Ermittlungen übernehmen zu lassen-ich verspreche, die anderen Behörden zuzuziehen, wenn ich nicht mehr weiter komme-keiner weiss besser als sie, wie wichtig mir dieser Fall ist-aber ich denke, wir werden ohne Einmischung von außen viel besser und flexibler reagieren können.“ bat er und nach kurzem Zögern stimmten die beiden Frauen zu. „Sie wissen, dass wir hier alle miteinander unseren Posten riskieren?“ fragte die Staatsanwältin und Semir nickte: „Dessen bin ich mir bewusst, aber lieber werde ich degradiert oder entlassen, als mit der Schuld zu leben, nicht alles versucht zu haben das Kind meines besten Freundes zu befreien!“ und nun war das beschlossene Sache. Gerade wollte Semir sich aufmachen die Nachbarn zu befragen, da läutete Sarah´s Handy und gebannt sahen nun alle auf das Display.

  • Im Krankenhaus hatte man Ben im OP erst einmal umintubiert. Man brauchte nun einen sogenannten Doppellumentubus, damit man die beiden Lungenhälften unabhängig voneinander beatmen konnte. Der Einfachheit halber fädelte man den Spezialtubus über ein Bronchoskop und während man Ben relaxierte, also jegliche Muskelspannung medikamentös aufhob, wurde er erst mit reinem Sauerstoff für einige Minuten beatmet, damit sein Blut aufgesättigt war und man zog dann den liegenden Tubus heraus. Sofort öffnete daraufhin der Arzt seinen Mund mit dem Laryngoskop und schob dann unter direkter Sicht über die Tubusspitze den Schlauch mit dem schlanken Ende in den linken Hauptbronchus. Dort blockte die Anästhesieschwester den Bronchialcuff und während der Anästhesist das Bronchoskop vorsichtig zurückzog, kontrollierte er die korrekte Lage. Nun blockte man auch den Trachealcuff und so waren nun beide Lungenhälften voneinander unabhängig zu beatmen. An den Teil des Tubus der nach links ging hängte man nur das Transportbeatmungsgerät, während man an den Tubusschenkel der die rechte Seite versorgte das Narkosegerät anschloss und das Narkosegas-Sauerstoff-Gemisch insufflierte. Man verklebte den Spezialtubus noch sorgfältig im Mundbereich und bemerkte wohltuend, dass der Bart verschwunden war. Das war einfach ein Sicherheitsaspekt-wenn dieser Tubus intraoperativ verrutschte, war das eine Katastrophe und konnte den Patienten das Leben kosten!


    Nun wurde Ben auf die Seite gedreht und man stützte und polsterte seinen Körper gut ab, hängte den linken Arm in seinem Gipsverband nach oben, so dass der linke Thorax von allen Seiten gut zugänglich war. Man fixierte Ben in dieser Lage, entfernte den Verband der Thoraxdrainage, den Sarah erst morgens erneuert hatte und der schon wieder von Eiter durchtränkt war und strich den Brustkorb vom Hals bis zur Hüfte und soweit man seitlich durch die Lagerungskissen hinkam, mit Desinfektionsmittel mehrfach ab. Die Thoraxchirurgen hatten sich steril gewaschen-auch wenn das Operationsgebiet von Keimen durchseucht war-trotzdem wollte man keine Fremdkeime einbringen und so wurde Ben nun abgedeckt und jetzt bekam der Anästhesist den Auftrag, die linke Lunge langsam zusammenfallen zu lassen, damit man die alte Thoraxdrainage entfernen und den Brustkorb von innen inspizieren konnte. So geschah es, aber es war ein schwieriges Unterfangen, denn der Kreislauf des Patienten reagierte stark auf die Umverteilung der Belüftung. Man brauchte nun für die rechte Lunge höhere Beatmungsdrücke und es dauerte eine Weile bis sich Ben soweit stabilisiert hatte, dass der Narkosearzt nickte und sagte: „Ihr könnt anfangen!“


    Die CT-Bilder des Thorax wurden an den großen Bildschirm an einer Seite des OPs projeziert und die drei Operateure machten nun einen beherzten, relativ großen Schnitt und entfernten durch Sägen und Spreitzen einen Teil der Rippen, um von der Seite Zugang zum Lungengewebe zu bekommen. Als sie die Pleurahöhle nun unter Sicht eröffnet hatten, konnten sie eine Menge Eiter absaugen und der leitende Chirurg seufzte. „Na klasse-ein Pleuraempyem-das wird ihn noch eine Weile beschäftigen!“, während er sich schon vorsichtig bis zur Lunge vorarbeitete. Immer wieder kam frisches und altes Blut und der Anästhesist musste erneut eine Blutkonserve anhängen. Durch die schweren Prellungen und Knochenbrüche war die Lunge an einer Stelle verletzt und die Ärzte mussten einen kleinen Teil resezieren. „Gut-wenn sonst alles heilt wird ihn das später nicht stören, der Bezirk ist so klein, dass er den nicht vermissen wird, aber die Blutungen hätten nicht aufgehört.“ referierte der Oberarzt, denn der zweite Helfer am Tisch war Assistenzarzt im ersten Jahr und durfte außer Haken halten noch nicht viel machen, aber er lernte bei solchen Operationen vor allem durchs Zusehen. Der Operateur nahm eine sorgfältige elektrische Blutstillung vor, fasste dann mit der ganzen Hand von innen in den Brustkorb und tastete nach spitzen Knochenvorsprüngen. Das ging, weil die Lunge ja auf der linken Seite zusammengefallen und so Platz im Thorax war. Man konnte durchs Mediastinum das Herz sehen, das schnell aber regelmäßig und kräftig pumpte und der Arzt konnte mit Instrumenten eine Rippe wieder an Ort und Stelle schieben, die nach innen gespießt hatten. Nur sie würde man mit einer Cerclage stabilisieren, aber sonst heilten Rippen-und Sternumfrakturen von alleine meist ohne Probleme. Nun ging man daran den Brustkorb schichtweise dicht mit vielen Nähten zu verschließen, die entfernten Rippenstücke wieder an Ort und Stelle zu bringen und zu verdrahten und legte in den Pleuraspalt eine neue, dickere Saugdrainage.


    Der Thoraxchirurg nickte dem Anästhesisten zu: „Du kannst!“ sagte er und nun ließ der Narkosearzt die Luft wieder in die linke Lunge strömen. Die Drainagensaugung nahm mit einem frischen Pleur-Evac-System ihre Arbeit auf und wenig später hatte sich die Lunge entfaltet. Es kam auch kaum mehr Blut aus der Saugung und man eröffnete nur noch kurz die Haut über der einen verschobenen Rippe und stabilisierte die Bruchenden mit Cerclagedrähten, damit die nicht mehr nach innen rutschen konnten. Auch diesen Hautschnitt vernähte man und nun wurde, während der Narkosearzt die Narkose ausleitete, noch ein Verband gemacht und Ben wieder auf den Rücken gelagert. „Ich versuche ihn aufwachen zu lassen-es besteht eigentlich kein Anlass ihn weiter zu beatmen!“ beschloss der Anästhesist und die Thoraxchirurgen nickten. So wurde Ben nun zunehmend wacher und als sein Hustenreflex wieder funktionierte zog man kurzerhand den Spezialtubus heraus. „Guten Morgen Herr Jäger!“ sagte der Narkosearzt freundlich, aber Ben sah ihn nur kurz orientierungslos an, um dann seine Augen wieder zu schließen und die Narkose auszuschlafen.


    Er wurde in die Schleuse gebracht und die Intensiv zur Abholung angerufen. Der Stationsarzt und die betreuende Schwester waren erfreut, dass man ihn hatte extubieren können. Als man ihn zurück an seinen Bettplatz gebracht und dort verkabelt hatte, war er schon wesentlich wacher und weil er ausreichend Opiate in sich hatte war der Wundschmerz auch erträglich. Müde fiel sein Blick auf die Uhr und er fragte: „Welchen Tag haben wir heute?“ und als ihm geantwortet wurde „Donnerstag!“ da wusste er, dass ihm 20 Stunden seiner Erinnerung fehlten. Die Schwester, die sich schon gewundert hatte, dass Sarah nirgendwo zu sehen war, beschloss sie anzurufen-die würde sich freuen, dass ihr Partner extubiert und orientiert war und als er auf Nachfrage noch bestätigte, dass er seine Beine spürte, war sie selber ganz glücklich, dass sie nun so gute Nachrichten überbringen durfte.

  • Die Chefin, die Sarah´s Telefon auf dem Tisch abgelegt hatte sagte: „Das ist eine Kölner Festnetznummer!“ und als Sarah die Nummer erkannte wurde sie noch blasser als sie schon war: „Das ist das Krankenhaus!“ sagte sie geschockt-oh Gott, wenn jetzt mit Ben etwas war, würde sie es nicht ertragen können! „Geh nur ran!“ forderte Semir sie beruhigend auf. Egal welche Nachricht sie jetzt bekamen, das Schlimmste war immer die Unsicherheit und so drückte Sarah mit zitternden Fingern auf die passende Taste. „Sarah-hier spricht deine Kollegin Karin. Ich wollte dir nur sagen, dass dein Freund aus dem OP zurück ist und es möglich war, ihn zu extubieren. Momentan ist er noch ein bisschen müde, aber soweit ist alles gut verlaufen und stell dir vor, er spürt seine Beine!“ sprudelte die junge Schwester nur so ins Telefon. Sarah kamen vor Erleichterung fast schon wieder die Tränen. „Oh wie schön!“ rief sie. „Ich komme so bald wie möglich ins Krankenhaus!“ sagte sie und nun legte ihre Kollegin auf.


    Das Lächeln das erst noch in Sarah´s Gesicht gestanden hatte, wich nun einem Ausdruck der Verzweiflung. „Oh mein Gott-noch nie hätte ich mir mehr gewünscht, dass Ben noch schlafen würde und ich mich nun nicht mit dem Gedanken auseinander setzen müsste, ob ich es ihm sage oder nicht, dass Tim entführt wurde. Wenn er sich jetzt so aufregt, dass er einen Rückfall kriegt werde ich mich schuldig fühlen, aber er würde es mir nie verzeihen, wenn ich ihn wissentlich anlügen würde!“ erklärte sie ihren inneren Zwiespalt. Auch Semir nickte und tat seine Meinung kund: „Ben kennt dich so gut Sarah-er würde es sofort merken, wenn du ihn anlügst-genauso wie er mich durchschauen würde. Uns bleibt nichts anderes übrig, als es ihm in aller Grausamkeit mitzuteilen, ich werde dich dabei aber unterstützen und mich danach direkt in die Ermittlungen stürzen. Chefin-könnten sie vielleicht statt mir die Anwohner befragen, ob die irgendwelche verdächtigen Beobachtungen gemacht haben?“ fragte Semir und Kim Krüger nickte. Selbstverständlich würde sie alles tun, damit sie die Entführer und vor allem das Baby und die junge Frau fanden.Die Schrankmann sah auf die Uhr und sagte: „Ich werde jetzt in die Staatsanwaltschaft zurückfahren und ihnen den Rücken frei halten, soweit möglich. Wenn sie irgendwelche neuen Erkenntnisse haben-bitte teilen sie die mir sofort mit!“ bat sie, während sie sich nun gemeinsam mit Semir und Sarah zu ihren Wagen begab. Semir bat Sarah in seinen BMW einzusteigen-er würde sie in dem Zustand in dem sie sich befand auf gar keinen Fall fahren lassen. Die Schrankmann stieg in ihr Fahrzeug und die Chefin würde dann mit Hartmut zurückfahren. So setzten sich die Wagen in Bewegung und Sarah bekam immer mehr Beklemmungen, je näher sie der Uniklinik kamen.
    Plötzlich stieg Semir in einer kleinen Seitenstraße abrupt auf die Bremse und griff aufgeregt zu seinem Telefon, so dass Sarah ihn verdutzt ansah. „Chefin-ich bin mir nicht sicher, ob nicht meine Familie ebenfalls in Gefahr ist-darf ich die bis ich diese Schweine gefasst habe ebenfalls in einer Schutzwohnung unterbringen?“ bat er und Kim Krüger versprach, das zu organisieren. „Ayda wird sich freuen, wenn sie morgen einen Tag schulfrei kriegt!“ überlegte Semir laut und rief als nächstes Andrea an, während er den Wagen wieder in Bewegung setzte. Dank Freisprechanlage war das möglich, aber nicht, wenn man das Handy in der Hosentasche trug. Wenig später waren sie an der Uniklinik angekommen und ihre Schritte wurden immer langsamer, während sie die Treppen zur Intensivstation hinaufstiegen.

  • In Semir´s Kopf waren die Gedanken weiter geflossen. Verdammt-sie hatten Brami und dessen Skrupellosigkeit unterschätzt! Aber wenn das so war, war auch Ben in Gefahr! Der Tunesier würde sicher nicht davor zurückschrecken, den zu ermorden, wenn er seiner habhaft wurde. Sobald sie die schreckliche Nachricht von der Entführung seines Sohnes und seiner Schwägerin überbracht hatten, musste er sich deswegen mit der Chefin kurzschließen-auch Ben brauchte Personenschutz. Semir warf einen Seitenblick auf Sarah. Die sah innerhalb weniger Stunden um Jahre gealtert aus. Er konnte es ihr so nachfühlen, denn auch seine Töchter waren schon entführt worden und die Gedanken und Sorgen die ihm damals durch den Kopf gegangen waren, waren immer noch präsent-es war das Schrecklichste, na vielleicht außer einer Todesnachricht- was man als Eltern erleben konnte: Zu wissen, dass die eigenen Kinder irgendwo in der Hand skrupelloser Verbrecher waren. Aber auch bei ihm war es gut ausgegangen und Ayda, Lilly und auch Andrea hatten mit Hilfe von Psychologen dieses Trauma überwunden. Es hatte ihm vorhin sehr leid getan, Andrea schon wieder mitteilen zu müssen, dass sie und die Kinder in potentieller Gefahr schwebten, aber es half ja nichts und als er ihr in kurzen Worten von der Entführung Tim´s erzählt hatte, war sie sofort dafür gewesen mit den Kindern übers Wochenende unterzutauchen. Irgendwie war sich Semir sicher-bis zum Sonntag, wenn der Wirtschaftsgipfel vorbei war, war auch die Gefahr vorbei. Er konnte nur hoffen, dass es bis dahin auf ihrer Seite keine Opfer gegeben hatte.


    Nun aber hatte Sarah auf die Klingel außen an der Intensivstation gedrückt und wenig später wurden sie herein gebeten. Sarah griff unbewusst nach Semir´s Hand als sie sich dem Zimmer näherten, in dem Ben lag. Der Stationsarzt hatte sie erspäht und kam gut gelaunt auf sie zu: „Hast du schon gehört? Dein Freund konnte extubiert werden und auch die Motorik und die Sensibilität in den Beinen scheinen soweit in Ordnung zu sein. Später kommt deswegen auch noch der Neurologe und schaut sich das an. Nur die Niere macht uns Sorgen-er hat zwar angefangen ein wenig auszuscheiden, aber die Betonung liegt auf ein wenig-ich denke wir werden später einen Shaldonkatheter legen und ihn andialysieren, in der Hoffnung, dass die Nierenfunktion dann anspringt. Aber jetzt freu dich erst mal-er ist zwar noch müde, erwartet aber sicher sehnsüchtig deinen Besuch!“ plapperte er, während Semir und Sarah stehen geblieben waren.
    Als nun aber nicht einmal die Andeutung eines Lächelns über ihre Lippen kam, bemerkte der Doktor auf einmal, dass da irgendetwas gar nicht in Ordnung war und er fragte ernst: „Sarah-was ist los? Warum wirkst du so bedrückt?“ und nun antwortete sie voller Verzweiflung: „Unser Sohn ist gemeinsam mit meiner Schwägerin entführt worden-vermutlich von denselben Männern, die für Ben´s Zustand verantwortlich sind. Ich weiss gar nicht, wie ich ihm das beibringen soll!“ sagte sie und wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. „Oh Gott-das ist ja schrecklich!“ rief der Arzt voller Empathie aus. „Willst du es ihm wirklich sagen? Denkst du nicht es wäre in seinem Zustand besser, wenn wir das vor ihm verheimlichen?“ wollte er wissen, aber Sarah und auch Semir schüttelten den Kopf. „Dann können wir ihn auch nicht besuchen-und das würde ihn genauso beunruhigen. Er wird es merken, dass wir uns Sorgen machen und sofort auf Tim kommen-immerhin ist er Polizist, wenn wir einfach kommen und nichts sagen-nein, es muss sein, obwohl das sicher seiner weiteren Genesung abträglich ist!“erklärte sie und der Arzt gab sich geschlagen. „Ich werde in ein paar Minuten mit einem Beruhigungsmittel zu euch kommen, dann können wir ihn absedieren, falls es notwendig ist!“ teilte er ihr mit. „Wenn du möchtest, bekommst du auch eine Tavor, ich glaube, die könntest du vertragen!“ meinte der Arzt dann noch aber Sarah schüttelte den Kopf. „Ich stille und werde nichts nehmen!“ sagte sie, deswegen musste sie sich sowieso als Nächstes Gedanken machen, aber jetzt stand ihr bevor, was ihr schon die ganze Zeit Bauchschmerzen bereitete.


    Sie atmete tief durch, ließ Semir´s Hand los und trat in das Zimmer. Ben lag blass auf dem Rücken und schien zu schlafen. Als er allerdings spürte, dass er nicht mehr alleine im Zimmer war, öffnete er die Augen und sagte müde: „Sarah was ist los? Ich habe euch auf dem Flur draußen reden gehört!“ und nun war ihr klar, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war. Sie trat an sein Bett, ergriff seine rechte Hand und sagte sanft: „Schön dass du wach bist, aber ich habe eine schlechte Nachricht!“ woraufhin er die Augen aufriss und sofort fragte: „Ist was mit Tim?“ und nun blieb Sarah nichts weiter übrig, als zu nicken. „Ja Ben-er ist zusammen mit meiner Schwägerin entführt worden!“ sagte sie und nun löste sich ein Ton aus Ben´s Brust, der klang wie ein waidwundes Tier. Semir, der kurz hinter Sarah stand lief es kalt über den Rücken. In diesem Laut lag der ganze Schmerz, den Ben aushalten musste und zugleich die Sorge um sein einziges Kind. „Oh nein!“ stöhnte er und während die Tränen über sein Gesicht liefen und der Puls und der Blutdruck in die Höhe schnellten, änderte sich in Sekundenschnelle seine Stimmung und aus tiefer Verzweiflung wurde Wut und Zorn. „Brami-ich werde ihn umbringen!“ stieß er kalt hervor „und wenn er Tim auch nur ein Härchen krümmt, wird er zuvor leiden, dass er wünscht, nie geboren zu sein!“ und nun starrten ihn Sarah und Semir fassungslos an.


    Brami und die Haug-Brüder hatten unterwegs Sarah´s Schwägerin noch die Nachricht schreiben lassen und dann hatte Brami das Handy an sich genommen, nicht ohne es zuvor auszuschalten und den Akku zu entfernen. Es würde ihnen sicher noch gute Dienste leisten, aber es durfte jetzt nicht mehr geortet werden, denn langsam näherten sie sich ihrem Versteck. Wenig später lief die ganze Truppe mit einem wachen Tim, der aus großen dunklen Augen die fremden Männer betrachtete, die Treppe hinauf und wenig später betraten sie die Wohnung, wo die Tunesier sich mit Würfelspielen die Zeit vertrieben. Brami sagte etwas auf Arabisch und der Anführer der fünf nickte. „Ich wünsche ihnen einen angenehmen Aufenthalt!“ grinste Brami, während er die Tasche mit Tim´s Ausrüstung abstellte. Lisa die als Teenager an der Volkshochschule mehrere Arabischkurse belegt hatte, lief es kalt über den Rücken. Sie hatte leider verstanden was er gesagt hatte und wusste nun, dass ihr Leben und ihre Unversehrtheit nur bis Sonntag gewährleistet war-danach würden sie und Tim den Männern gehören und was die mit ihr und dem Baby anstellen würden, konnte sie sich leider vorstellen, so brutal und mitleidlos wie die aussahen!

  • „Hubert hörst du das? Die Wohnung über uns ist wohl wieder vermietet-ich habe vorhin ein Baby weinen hören!“ sagte Hildegard und ihr Mann stimmte ihr voller Kummer zu. Ach wie sehr hätten sie sich gewünscht, dass dort einmal Andreas´ Kind leben würde-ein Enkelkind ganz nah bei sich. Sie hätten es geliebt und verwöhnt und nun war plötzlich alles ganz anders. Das Unfassbare war geschehen und ihr einziger Sohn war tot-und das nicht einmal durch eigene Schuld, sondern er war ermordet worden. „Hoffentlich machen diese beiden Polizisten, Herr Gerkhan und Herr Jäger wahr, was sie uns versprochen haben und bringen den oder die Mörder zur Strecke. Ich möchte im Gerichtssaal sitzen und zusehen, wenn er eine lebenslange Strafe bekommt-erst dann werde ich wieder ruhig schlafen können!“ sagte nun ihr Mann und Hildegard stimmte ihm zu. Ihre eigenen Rachegelüste gingen ehrlich gesagt noch weiter-vielleicht würde der Mörder bei der Festnahme getötet werden-das wäre ihr Wunsch, aber sie selber konnten auf jeden Fall überhaupt nichts dazu beitragen-alles was sie wussten hatten sie den beiden Polizisten gesagt und nun mussten sie auf die Arbeit der Polizei hoffen und vertrauen. Wieder rumpelte es über ihnen und das Baby begann zu weinen, verstummte aber nach einer Weile wieder. „Ob das wohl ein Junge oder ein Mädchen ist?“ sinnierte Hildegard. „Vielleicht gehe ich die nächsten Tage mal mit einem Brot und Salz nach oben und heiße unsere neuen Mitbewohner in unserer Hausgemeinschaft willkommen-sie haben ja leider noch keinen Namen am Klingelschild, aber das ist ja klar, wenn man kurz vor Weihnachten umzieht und dann auch noch einen Säugling dabei hat ist das aufregend genug, da kann man an solche Nebensächlichkeiten nicht auch noch denken!“ teilte sie ihrem Hubert verständnisvoll mit und der lächelte und sagte: „Ja, mach das!“, denn es wurde Zeit, dass seine Frau aus ihrem Loch kam-er freute sich, dass sie sich mal mit etwas anderem als dem Tod ihres Sohnes beschäftigen konnte, der doch immerhin schon zwei Monate zurück lag.


    Kim Krüger hatte telefonisch eine weitere Schutzwohnung klar gemacht und wenig später war Andrea mit den beiden Mädchen dorthin unterwegs. Frau Krüger hatte sie angerufen, die Adresse mitgeteilt und ihr versprochen, Jenni zu schicken-die würde aufsperren und ihr einen der Schlüssel aushändigen. Andrea hatte die nötigsten Lebensmittel gleich mit eingepackt und einige Spielsachen für die Kinder. „Juhuu-ich habe morgen schulfrei!“ jubilierte Ayda, während Lilly traurig war, denn im Kindergarten wäre Adventsfeier gewesen. Aber das Versprechen der Mama, dass die beiden ein schönes Spielzeug bekommen würden, wenn sie kein Theater machten, verbesserte ihre Laune und sie hatten auch gebannt zugehört, wie Andrea ihnen erzählt hatte, wie sie am Vormittag die Spielsachen und die Kleidung den armen Kindern gebracht hatte und die sich wahnsinnig gefreut hatten. „Mama-dürfen wir die auch mal kennenlernen und mit denen spielen?“ hatte Ayda gefragt und Andrea hatte genickt. Mehrmals sah Andrea in den Rückspiegel und fuhr auch ein paar Umwege, aber sie war sich sicher, dass ihnen niemand folgte und so kamen sie wenig später an der Schutzwohnung in einem unauffälligen Mietshaus an, wo Jenni schon auf sie wartete.


    Bei Ben im Krankenhaus war die erste Aufregung einer tiefen Verzweiflung gewichen. Vor Erschöpfung, Angst um seinen Sohn und auch Schmerzen weinte er nun wieder. „Verdammt Semir-ich sollte meinen Sohn befreien und stattdessen liege ich selber hilflos wie ein Baby da und kann einfach nichts tun. Du musst mir versprechen, dass du ihn findest! Und bring mir meine Waffe-sie liegt im Tresor in meiner Wohnung-du kennst die Kombination!“ befahl er und rang nach Atem. Der Arzt war besorgt ins Zimmer getreten und nach einem Blick auf den Monitor, wo die Sauerstoffsättigung wieder beängstigend gesunken war, zückte er eine Spritze mit Lorazepam, dem guten alten Tavor, einem angstlösenden Beruhigungsmittel. „Nein ich will nichts-ich muss nachdenken, wie ich meinem Sohn helfen kann!“ wehrte Ben ab, als der Arzt näher trat und er bemerkte, was der vorhatte. Bevor er allerdings weiter verhandeln konnte, hatte der Mediziner den Inhalt der Spritze in den ZVK entleert und obwohl er sich verzweifelt gegen den Schlaf wehrte, fielen Ben langsam die Augen zu, sein Blutdruck und sein Puls sanken und die Sauerstoffsättigung besserte sich ein wenig. „So viel Aufregung ist nicht gut für ihn!“ sagte der Arzt tadelnd, aber nun brach Sarah ihrerseits in Tränen aus und schrie ihn regelrecht an-die Nerven lagen blank: „Was sollen wir denn nur machen-unser einziges Kind ist entführt worden-da würdest du dich auch aufregen!“ rief sie und begann dann verzweifelt zu schluchzen. Semir, der betroffen und erschüttert daneben stand, nahm sie nun einfach in die Arme und wie heute schon einmal benässte sie seine Jacke und konnte sich erst gar nicht mehr beruhigen.
    Eine ältere mütterliche Kollegin, zu der Sarah einen guten Draht hatte, trat nun ins Zimmer und drückte sie auf einen Stuhl. Sie reichte ihr eine Tasse mit Hopfen-Melissentee und sagte begütigend. „Sarah-trink erst mal was und beruhige dich-es ist hier niemandem geholfen, wenn du jetzt zusammenbrichst. Klar ist das schlimm mit deinem Sohn, aber vertraue einfach auf die Polizei, die werden ihn schon finden!“ ermunterte sie die junge Mutter, die sich langsam beruhigte. Semir richtete sich auf, straffte seinen Rücken und ging zielstrebig Richtung Tür. „Genau das werde ich jetzt tun!“ sagte er mit fester Stimme und verließ das Krankenhaus, obwohl er im Moment keine Ahnung hatte, wo er ansetzen sollte.

  • Semir rief im Hinausgehen noch die Chefin an-erstens um um Personenschutz für Ben zu bitten und zweitens in der Hoffnung, dass sie bei der Befragung der Nachbarn neue Erkenntnisse gewonnen hätte. „Gerkhan-da haben sie Recht-Jäger schwebt, wie wir alle und leider vor allem die Teilnehmer des Wirtschaftsgipfels in Gefahr. Ich veranlasse, dass ein uniformierter Beamter auf der Intensivstation Wache hält und zu Yasser ins Kinderkrankenhaus schicke ich auch eine Beamtin. Bei der Befragung der Nachbarn habe ich von einer älteren Dame bestätigt bekommen, dass heute früh gegen neun Uhr eine junge Frau, die sie in den letzten Tagen schon mehrfach gesehen hat, mit Tim auf dem Arm, begleitet von drei Männern, das Haus verlassen hat. Sie sind in einen dunklen Wagen gestiegen, aber an mehr konnte sich die Nachbarin, die das beobachtet hat, nicht erinnern-nur dass die Scheiben des Fahrzeugs getönt waren und anscheinend kein Kindersitz im Auto war, was die Frau skandalös fand. Mit Automarken kennt sie sich nicht aus und Susanne hat mir ein Bild Brami´s geschickt-sie hat bestätigt, dass der einer der Männer war. Nachdem die beiden anderen nach ihrer Aussage in keinster Weise fremdländisch wirkten, habe ich mir noch Bilder der Haug-Brüder aufs Handy schicken lassen, auch das war ein Volltreffer. Jetzt wissen wir zwar, dass unsere Vermutungen richtig waren, aber leider habe ich keinerlei Ahnung, wo sich die Gesuchten und vor allem Jäger´s Schwägerin und sein Sohn befinden. Susanne durchleuchtet derweil die Haug-Brüder und versucht ein mögliches Versteck heraus zu bringen, aber bisher haben wir nicht die geringste Spur!“ teilte sie ihm mit. „Und Hartmut-hat der wenigstens was entdeckt?“ fragte Semir, aber die Chefin verneinte. „Der ist, nachdem er mich an der PASt abgesetzt hat, wieder zur Kartbahn zurück gefahren, um seine Kollegen zu unterstützen. Außer der Suche nach Fingerabdrücken, die vermutlich sowieso nicht zu finden sind, war hier eh nichts zu tun und die Entführer haben sich auch nicht bemüht, ihre Identität zu verbergen, was ein schlechtes Zeichen ist, wie sie wissen.“ sagte Kim Krüger bedrückt und teilte Semir dann gleich noch die Adresse der Schutzwohnung mit, in der sich Andrea mit den Kindern aufhielt.
    Semir fuhr erst eine Weile ziellos in der Gegend herum, ohne auch nur den Hauch einer Idee zu haben, wo er nach den Entführten suchen sollte und machte sich dann zähneknirschend auf den Weg zur Schutzwohnung-wenigstens konnte er sich dann versichern, dass es seiner Familie gut ging. Die Fahndung lief-jetzt mussten sie vielleicht auch auf den Kommissar Zufall hoffen.


    Lisa hatte sich derweil in der Wohnung ein wenig eingerichtet. Die war eigentlich ausgeräumt, aber die Küchenzeile war drin geblieben. Dietmar Haug hatte einige Lebensmittel und Geschirr vorbeigebracht, noch einen Schlafsack, Isomatten und Decken, Müllbeutel und Getränke. Erleichtert stellte sie fest, dass er wenigstens keinen Alkohol mitgebracht hatte. Obwohl-vermutlich waren diese Terroristen sowieso strenggläubige Muslime und verachteten jegliches Rauschmittel. Ihre Motivation war entweder Geld oder eine verbrämte Ideologie und wie sie aus den Gesprächen entnahm, denen sie teilweise zu ihrer Überraschung folgen konnte-war also von den Kursen ihrer Jugend doch etwas hängen geblieben-war eher Letzteres der Fall. Die Männer pushten sich gegenseitig, wer am Samstag wohl mehr ungläubige Kapitalisten in den Tod schicken würde. Obwohl sie keineswegs alle Worte verstand, war ihr trotzdem nach kurzer Zeit klar, dass in einem Haus gegenüber des Hotels wohl eine Wohnung angemietet war, von der aus man den Konferenzraum in dem der Wirtschaftsgipfel stattfinden würde, mit schweren Waffen unter Beschuss nehmen konnte. Anscheinend fand die wichtige Konferenz in einem exponierten Anbau statt und die Waffen befanden sich bereits gut verborgen in einem Kellerverließ in dem anderen Gebäude und mussten am Tag des Anschlags nur noch zusammengebaut werden. Auch hatte sie mehrere Jacken mit der Aufschrift einer bekannten Kölner Securityfirma gesehen, daneben gefälschte Ausweise mit dem Konterfei der fünf Männer und noch einiger anderer-so würden die Terroristen anscheinend unauffällig dorthin gelangen und unter dem Vorwand, den Keller zu durchsuchen, an ihre Waffen gelangen. Ihr lief es kalt über den Rücken. Wenn die Männer wüssten, dass sie verstanden hatte, was sie redeten, dann würde sie und vermutlich Tim ebenfalls auf der Stelle getötet werden. So aber gingen sie davon aus, dass sie ahnungslos war und der Entführer im feinen Anzug, der anscheinend eine Respektsperson und der Auftraggeber aller anderen war, hatte denen versprochen, dass sie nach dem Anschlag in deren Besitz übergehen würde und an den lüsternen Blicken, die die Männer ihr hin und wieder zuwarfen konnte sie ahnen, was die dann mit ihr anstellen würden.
    Sie hatte schon aus dem Fenster gesehen, aber sie waren ganz oben in der Mansarde, die Häuser gegenüber waren kleiner und auch von der Straße aus würde wohl kaum jemand nach oben sehen, wenn sie versuchte auf sich aufmerksam zu machen. Vielleicht gelang es ihr in der Nacht zu fliehen, wenn die Männer schliefen, das war gerade ihre einzige Hoffnung. Nun war Tim, der ein Schläfchen auf einer Isomatte gehalten hatte, erwacht und weinte. Sie tröstete ihn, wickelte ihn und bereitete dann mit den mitgebrachten Utensilien auf dem Herd ein Fläschchen zu. Bald war der kleine Mann wieder still und sie versuchte ihn durch Vorsingen und Herumtragen ruhig zu halten. Oh mein Gott-ob sie das wohl alle überleben würden, oder würden ihre drei Kinder als Halbwaisen aufwachsen?

  • Im Krankenhaus hatte sich Sarah durch den Zuspruch ihrer Kollegin wieder einigermaßen beruhigt. Es war so entsetzlich selber überhaupt nichts unternehmen zu können, sondern einfach darauf angewiesen zu sein, dass der Polizei etwas einfiel, aber trotzdem mussten sie beide hier weiterleben-für Tim. Es durfte und konnte einfach nicht sein, dass ihrem geliebten Kind etwas geschah! Inzwischen war die Nachmittagsschicht eingetroffen. Ben schlief immer noch und seine Herzfrequenz sank inzwischen immer mehr.
    Die Frühdienstschwester, die während der Übergabe am Bett Sarah´s Griff zu ihren schmerzenden übervollen Brüsten richtig deutete sagte: „Komm Sarah-geh mit mir auf dem Nachhauseweg zur Entbindungsstation. Die haben dort Milchpumpen und die passenden Räumlichkeiten, dann pumpst du die Milch ab und die sollen die dann einfrieren, dann hast du was auf Vorrat wenn dein Kleiner wieder da ist und du mal weg willst!“ schlug sie vor und Sarah hätte beinahe trocken aufgelacht! Als wenn sie Tim nun noch nur eine Sekunde aus den Augen lassen würde, wenn sie ihn je wiedersah-aber nachdem ihre Kollegin ja nur Recht hatte, folgte sie ihr und musste auf der Wochenstation auch gar nichts selbst erklären, sondern ihre Kollegin übernahm das für sie. So fand sie sich wenig später in einem kleinen, gemütlich eingerichteten Zimmer wieder, in dem mehrere bequeme Stühle und ein Ledersofa standen. An den Wänden hingen Babybilder und eine Kinderkrankenschwester wies sie in die Bedienung der elektrischen Milchpumpe ein. Wenig später saß sie da und ihr Busen wurde Seite für Seite entleert und verschaffte ihr Erleichterung. Nachdem nur so kleine Fläschchen dort angeschlossen waren, musste sie das Auffanggefäß sogar pro Seite einmal wechseln-bei den Müttern der Neugeborenen kam noch nicht so viel! Als sie etwa zur Hälfte fertig war, kam eine weitere junge Frau, sehr blass aussehend, ins Zimmer und schloss ihrerseits eine Pumpe an. Mühsam pumpte sie ein paar Tropfen und sah neidvoll auf Sarah, die bald nicht mehr wusste, wohin mit der Milch und sich vorkam wie eine Kuh auf dem Bauernhof-es war schließlich ganz schön skurril, was sie hier machte.
    „Mein Gott-wenn es bei mir nur auch nur einmal so laufen würde, dabei würde mein Kleiner die Milch so notwendig brauchen!“ bemerkte sie und nun fragte Sarah, die halt doch nicht aus ihrer Haut konnte und sich immer für das Leid anderer Menschen interessierte, warum das so wichtig wäre. „Ich hatte eine vorzeitige Plazentaablösung und mein Sohn wurde notfallmäßig letzte Woche per Kaiserschnitt geholt. Er ist eine extreme Frühgeburt und liegt seitdem beatmet auf der Neonatologie. Er bekommt die Muttermilch mit der Nasensonde und mir bricht es beinahe das Herz, wenn ich sehe, wie winzig er ist. Ich hoffe nur, er überlebt das, es ist völlig egal wenn auch mit Behinderungen, aber wir haben uns so ein Kind gewünscht und nach vielen Jahren vergeblichen Hoffens hat es endlich geklappt. Und jetzt so eine Katastrophe!“ erzählte die Frau unter Tränen und nun wurde Sarah erst bewusst, dass auch andere Eltern um ihre Kinder bangten, wenn auch aus anderen Gründen. Welch Geschenk war es, ein gesundes Kind zu haben-sie hatte vielleicht auch vergessen, dankbar zu sein. Aber Tim würde gefunden werden-sie vertraute auf Semir, der würde ihr ihren Sohn zurückbringen.
    Sie war inzwischen fertig, räumte die Pumpe beiseite und verschloss die Fläschchen. „Ich würde ihnen ja zu gerne von meiner Muttermilch abgeben, aber das macht man heutzutage wegen der Gefahr übertragbarer Krankheiten nicht mehr. Außerdem braucht ihr Sohn auch genau ihre Milch-die ist total auf seinen kleinen Organismus abgestimmt und wenn sie nicht ausreicht, sind die heutigen Frühgeborenenfertignahrungen hervorragend ausgereift. Ich wünsche ihnen alles erdenklich Gute!“ sagte Sarah trotz eigenem Kummer herzlich, während sie den Raum verließ, um der Schwester die Fläschchen zur Kennzeichnung und zum Einfrieren zu bringen, was die auch sofort erledigte.
    Wenig später war sie wieder auf der Intensivstation angelangt und nun griff eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen, als sie den Notfallwagen vor Ben´s Zimmer stehen sah und geschäftiges Treiben darin herrschte.


    Semir war inzwischen bei seiner Familie eingetroffen und hatte gleich noch was von der nächsten Konditorei mitgebracht. Seine Töchter waren begeistert und vertilgten voller Appetit das als Weihnachtsmänner dekorierte Gebäck mit Creme und Marzipan. Andrea allerdings trank nur einen Kaffee-immerhin hatten sie vor nicht allzu langer Zeit erst zu Mittag gegessen. „Andrea-es tut mir leid, dass ihr schon wieder in einen Fall hineingezogen werdet, aber nachdem die Täter wirklich vor nichts zurück schrecken und wir nicht wissen, wie weit deren Arm reicht, ist mir einfach wohler, euch in Sicherheit zu wissen. Ich denke aber-spätestens am Wochenende ist der Spuk vorbei und ihr könnt wieder zurück in unser Haus!“ erklärte er ihr, aber Andrea war sehr nachdenklich, als er sie verließ. Manchmal zweifelte sie daran, ob es das wert war!


    Semir fuhr nun noch bei der Kartbahn vorbei, wo dermaßen viele Spuren zu sichern waren, dass das einige Zeit in Anspruch nahm. Als Hartmut ihn erblickte kam er ernst zu ihm: „Also eines wissen wir-Ben´s Vermutung, dass hier Terroristen und keine einfachen Mechaniker gewohnt haben, hat sich bestätigt. Ich konnte anhand der Fingerabdrücke beweisen, dass der gesuchte Terrorist, nach dem wir schon seit längerer Zeit fahnden, sich vor nicht allzu langer Zeit hier aufgehalten hat-seine Spuren sind überall!“ sagte er und zeigte Semir die Übereinstimmung auf seinem Tablet. „Hoffentlich finden wir bald einen Anhaltspunkt, wo sich Ben´s Sohn und seine Schwägerin aufhalten, denn diese Männer schrecken vor nichts zurück und ein Menschenleben bedeutet ihnen überhaupt nichts!“ sinnierte er bedrückt und machte dann mit der Spurensicherung weiter. Semir hätte schreien können-verdammt noch mal-wo sollte er nur ansetzen?

  • Nach einer kurzen Schrecksekunde stürzte Sarah ins Zimmer. „Was ist mit ihm?“ rief sie angstvoll und sah voller Entsetzen, dass man auf Ben´s Brust die aufklebbaren Defipaddels angebracht hatte. Mit denen musste niemand zum Defibrillieren neben dem Patienten stehenbleiben, sondern die waren über Kabel mit dem Gerät verbunden, welches das EKG auswertete und nach Einstellung reagierte. Jetzt sah sie auch erst, was die Ursache für diese Aktion war-Ben´s Herzfrequenz war unter 30 Schläge pro Minute gesunken-man nutzte aktuell den Defibrillator als externen Schrittmacher, um das Herz durch Elektrostimulation zum Schlagen zu bewegen, wenn die Pulsfrequenz nicht ausreichte. Gerade kam ihre Kollegin mit einem Laborausdruck wieder zum Zimmer herein, während der hinzu gerufene Nephrologe um den Eingriffswagen bat. „Der Kaliumwert liegt bei 7,2!“ sagte sie und nun war Sarah klar, was hier abgelaufen war, der Stationsarzt hätte es ihr gar nicht mehr zu erklären brauchen, was er aber trotzdem machte, während Ben in diesem Augenblick aufstöhnte, weil kontinuierlich Stromstöße schmerzhaft durch seinen Körper jagten. Zu gerne hätte Sarah nach seiner Hand gegriffen, während der Arzt erklärte was passiert war, aber sie legte ehrlich gesagt auch keinen gesteigerten Wert auf einen Schlag und ohne Isolierung würde sie das auch spüren-zwar nicht so stark wie Ben, aber trotzdem unangenehm. Sie sagte deshalb beruhigend: „Schatz ich bin bei dir-es wird gleich besser werden!“ was Ben nur mit einem erneuten Aufstöhnen quittierte und den Arzt veranlasste, ihm ein wenig Morphium zu injizieren.
    „Die Niere arbeitet immer noch nicht richtig!“ erklärte der Stationsarzt. „Er hat zwar begonnen das Volumen auszuscheiden, aber die harnpflichtigen Substanzen und die Elektrolyte sind dennoch in seinem Körper kumuliert. Nachdem das Kalium, wie auch das Calcium im richtigen Verhältnis mit einem stabilen Serumspiegel ja für eine fehlerfreie Herzaktion notwendig sind, kam es durch die Anflutung von Kalium jetzt zu verbreiterten Kammerkomplexen und extremer Bradykardie mit bis unter 20 Schlägen pro Minute. Atropin i.v. hat nur zu einer Beschleunigung auf 30 Schläge geführt, so dass wir jetzt den externen Schrittmacher angeschlossen haben, so unangenehm es für den Patienten ist. Ich hätte ihm auch vorübergehend einen internen Schrittmacher legen können, mich aber dagegen entschieden, weil wir durch die Rippen- und Sternumfrakturen nur die rechte Halsseite für alle unsere zentralen Zugänge zur Verfügung haben. Wenn ich jetzt durch die Carotis oder die Subclavia über eine Schleuse die Schrittmachersonde ins Herz vorschiebe, hat der Nephrologe keinen Platz mehr für den Shaldonkatheter und nur damit können wir ja die Ursache der Bradykardie beheben!“ erklärte er und Sarah nickte.
    Der Nierenspezialist hatte sich inzwischen das Ultraschallgerät bringen lassen und schallte nun die Gefäße der rechten Halsseite. „Ich gehe durch die Vena Carotis interna ein!“ beschloss er, als er das Gefäß im Schallbild darstellen konnte und begann nun gleich eine Haube und Mundschutz aufzusetzen und seine Hände chirurgisch dreimal zu desinfizieren. „Ich bitte aber um zwei Paar Handschuhe!“ sagte er dann noch und Sarah wusste, dass er damit normalerweise ausreichend isoliert war, um keinen Stromstoß abzubekommen. Sie zog nun ebenfalls mehrere Paar unsterile Handschuhe übereinander und fasste nun nach Ben´s rechter Hand. Auch wenn man ihm mit dem Morphium den größten Leidensdruck genommen hatte, waren seine Augen immer noch feucht vor Schmerz und Verunsicherung.


    Während der Nierenspezialist sich nun den sterilen Kittel und die Handschuhe anzog, erklärte er seinem Patienten, was er nun machen würde: „Herr Jäger-nachdem ihre Nieren im Augenblick leider nicht vollständig arbeiten und wir auch nicht wissen, ob sie sich wieder völlig erholen werden, müssen wir sie aktuell dialysieren, um den Elektrolythaushalt zu normalisieren und außerdem Harnstoff und Kreatinin aus ihrem Organismus zu entfernen. Wenn wir das nicht tun, ist das mit dem Leben nicht vereinbar und sie würden in Kürze sterben, deshalb frage ich sie jetzt auch nicht, ob sie einverstanden sind, sondern lege ihnen einfach mit Notfallindikation ein dickes zweilumiges Schläuchlein über den Hals in die obere Hohlvene. Darüber werden wir dann die Dialyse vornehmen und versuchen Kaliumserumspiegel zu erreichen, die ungefährlich sind und das Herz wieder geregelt schlagen lassen. Sie bekommen eine örtliche Betäubung in den Hals, aber es wird trotzdem ein wenig unangenehm werden!“ sagte er, während Ben vor sich hin zuckte, in dem Rhythmus, den der externe Schrittmacher vorgab. Er war zwar durch den Sauerstoffmangel und das Morphium ein wenig gedämpft, aber trotzdem hätte er vor Hohn beinahe laut aufgelacht-es würde ein bisschen unangenehm werden-als ob das nun noch eine Rolle spielen würde. Er hatte gerade das Gefühl an einem elektrischen Weidezaungerät angeschlossen zu sein und wusste jetzt, warum da die Tiere nicht zu fliehen versuchten!


    Während der Nachmittag verging, versuchte sich Lisa so viel wie möglich auszuruhen und sich unauffällig zu verhalten, um in der Nacht für ihre Flucht fit zu sein. Sie beschäftigte sich liebevoll mit Tim, dessen sonniges Wesen nun immer wieder zutage trat, obwohl er natürlich ihre Anspannung bemerkte und sicher seine Eltern vermisste. Trotzdem lachte der manchmal, wenn sie ihn kitzelte, aber keiner der Terroristen verzog eine Miene oder musterte den kleinen Mann auch nur freundlich, wie man das doch sonst unwillkürlich tat, wenn ein Baby hinreißend lachte. Von denen war keine Gnade zu erwarten, diese Männer waren ideologisch dermaßen verbrämt, dass sie normale menschliche Gefühle anscheinend gar nicht mehr zuließen, sondern nur ihren Auftrag sahen, das Geld , das sie dafür bekommen würden und auch dass das in ihren Augen-wie sie den Gesprächen entnahm-ein weiterer Schritt war, der Menschheit zu zeigen, wer bald auch in Europa das Sagen hatte.


    Hartmut und seine Truppe hatten inzwischen die Durchsuchung und Spurensicherung in der Kartbahn abgeschlossen. Nun begann die Auswertung der Spuren in seinem Labor und akribisch fing er damit an, die Fundstücke, die sie mitgenommen hatten aufzulisten und in den PC einzugeben. Man hatte Fotos gemacht, den Inhalt der Mülleimer eingepackt-vielleicht würde man auf den zweiten Blick doch irgendeinen Hinweis finden, wo die Terroristen abgeblieben waren.


    Semir war inzwischen wieder abgezogen und nachdem er eine Weile ziellos durch die Stadt gefahren war und sich das Gehirn zermartert hatte, wo sich die Männer wohl alle verborgen hatten, fuhr er nun doch nochmals zu Ben´s Wohnung, deren Schlüssel immer noch an seinem Schlüsselbund hing. Obwohl der Personenschutz vermutlich inzwischen in der Klinik eingetroffen war, würde er Ben seine Waffe bringen. Der war wieder wach und sicher war sicher-nach diesen ganzen Verwicklungen würde er sich einfach wohler fühlen, wenn der sich selber auch noch schützen konnte!

  • Brami hatte sich von seinen Gehilfen abgesetzt. Mit den Terroristen zusammen wollte er auf keinen Fall hier in Deutschland, wo er ein beliebter Investor und Geschäftspartner war, gesehen werden. In seiner Heimat war das anders. Dort galt das Recht des Stärkeren-oder Reicheren-oder Einflussreicheren, während das hier in Europa eigentlich genauso war, man es aber nicht zugab und unter dem Deckmäntelchen von Gesetz und Ordnung agierte und die sogenannte Charity großgeschrieben wurde. Dabei war es doch hier nicht anders-wer die Macht hatte, würde das Recht auf seiner Seite haben und wer Geld hatte, hatte Macht. Um aber seinen Einfluss hier in Europa zu mehren und vor allem auch keine finanziellen Verluste zu erleiden, war es von absoluter Wichtigkeit, dass es kein Wirtschaftsembargo gegen sein Heimatland gab, denn das würde seine Gewinne schmälern und seinen Einfluss vermindern. Um bis zum Wochenende unterzutauchen, nahm er Kontakt mit einem befreundeten Geschäftsmann auf, der ihn schon lange in seine Villa am Kölner Stadtrand eingeladen hatte. Er wurde dort mit offenen Armen empfangen und für den nächsten Abend vereinbarten sie gleich ein Treffen mit förderungswürdigen Künstlern, die ihnen eine Kostprobe ihres Könnens abliefern würden, in der Hoffnung von dem reichen Tunesier in Zukunft gesponsert zu werden.
    Er hatte den Haug-Brüdern aufgetragen, die Terroristen in der kleinen Mansardenwohnung-und natürlich auch die Frau, solange sie ihm noch von Nutzen war-mit allem zu versorgen was sie benötigten, noch ein kleines Video zu drehen, auf dem sie mit dem Kind völlig unversehrt zu sehen war und ihm das auf eines seiner vielen Handys zu schicken. Das Telefon der Entführten hatte er ja an sich genommen-mit dem würde er das weiterleiten.
    Dietmar und Günther führten den Auftrag aus und tauchten danach ebenfalls unter. Brami hatte ihnen versprochen, dass er sie als seine treuen Verbündeten mit nach Sousse nehmen und ihnen dort helfen würde, ein neues Leben im Automobilbereich aufzubauen. Das was sie hier geschaffen hatten war hinfällig, seitdem die Polizei auf sie aufmerksam geworden war, aber ehrlich gesagt machte es ihnen schon lange keinen Spaß mehr und ihre familiären Bindungen waren nicht sehr ausgeprägt, außer ihrer Beziehung zueinander. Sie konnten es sich sehr gut vorstellen dem grauen Köln den Rücken zu kehren und einen Neuanfang im Urlauberland Tunesien zu machen-dort hatte es ihnen immer schon gut gefallen!


    Lisa war hochgeschreckt, als sich plötzlich der Schlüssel im Schloss gedreht hatte. Zwei der drei Männer die sie entführt hatten kamen schwer bepackt mit einigen Taschen. Sogar Babywindeln und Fertignahrung hatten sie dabei-allerdings hatten die Windeln die falsche Größe und die Nahrung war auch nicht das was Tim brauchte. Sie hatte allerdings so viel eingepackt, dass es die nächsten Tage reichen würde und außerdem hoffte sie ja, dass der Spuk heute Nacht schon vorbei war. Bevor sie sich wieder zum Gehen wandten, stellten die Entführer Lisa vor eine neutrale weiße Wand. „Nimm das Kind auf den Arm und lies dann vor, was auf diesem Zettel steht!“ befahl ihr Günther in strengem Ton und eingeschüchtert machte sie, was ihr befohlen wurde. „Wenn man weiter über ein Wirtschaftsembargo gegen Tunesien nachdenkt, werden das Kind und ich sterben. Lasst den Wirtschaftsgipfel in Ruhe vorübergehen und die Geschäftsbeziehungen der Länder weiter ausbauen, dann wird uns nichts geschehen und wir werden nächste Woche frei gelassen!“ las sie mit zitternder Stimme vor, denn die ganze Zeit war währenddessen eine Waffe auf sie gerichtet. Zufrieden schaltete Dietmar, der gefilmt hatte, sein Handy aus. Er würde später den Film an Brami schicken, der auch den Text vorgegeben hatte. Bis zum Wochenende war nun kein Kontakt mit den Entführten und den Terroristen mehr geplant-sie hatten ihren Part zu Brami´s Zufriedenheit erledigt und erwarteten sich reiche Belohnung.


    Ben schloss derweil im Krankenhaus seine Augen, als es an seinem Hals kalt und nass vom Desinfektionsmittel wurde, das der Nephrologe mit einer Einmalklemme und getränkten Tupfern großzügig verteilte. „Jetzt kommt ein kleiner Pieks!“ wurde dann angekündigt und tatsächlich bohrte sich wenig später eine spitze Nadel mehrfach in seinen Hals und infiltrierte das Punktionsgebiet von mehreren Seiten mit Lokalanästhetikum. Der Arzt hatte sich auch eine sterile mit Sonographiegel gefüllte Spezialhülle für den Schallkopf des Ultraschallgeräts geben lassen und versuchte nun unter Sicht das Gefäß mit einer ziemlich dicken Nadel zu punktieren. Erst war noch der Schmerz der Elektroschocks im Vordergrund, aber je tiefer der Nierenspezialist die Nadel in seinem Hals versenkte, desto schmerzhafter wurde das für Ben. Er hielt sich krampfhaft an Sarah´s Hand fest und stöhnte mehrfach laut auf, was ihr vor Mitleid schier das Herz zerriss. Endlich beim vierten Versuch gelang es dem Arzt das Gefäß zu punktieren und als sich der Führungsdraht, der durch die dicke Nadel nun bis ins Herz vorgeschoben und gleich wieder ein wenig zurückgezogen wurde, als dieses zu stolpern begann, einführen ließ, begann Sarah aufzuatmen. Die Nadel wurde entfernt und entlang des Drahtes noch ein kleiner Schnitt gemacht, damit der dicke Dialysekatheter durch die Haut geschoben werden konnte und endlich lag der an Ort und Stelle. Der Nephrologe nähte den Katheter an der Haut fest, befüllte ihn mit einer kleinen Menge Heparin-Kochsalzlösung, damit er nicht verstopfte, verband ihn und schon stand die Röntgenassistentin mit dem fahrbaren Röntgengerät bereit, die die korrekte Lage überprüfen sollte. Alle Anwesenden, auch Sarah, verließen das Zimmer, nachdem man gemeinsam die Röntgenkassette unter Ben´s Rücken geschoben hatte und wenig später war die Aufnahme angefertigt und nach der nur Minuten dauernden Entwicklung in der Röntgenabteilung die korrekte Lage des Shaldonkatheters bestätigt.
    Nun wurde das fahrbare Dialysegerät herein gefahren und an das Osmosegerät, das in jeder Intensiveinheit bereitstand und mit Unmengen Wasser die Dialyse erst ermöglichte, angeschlossen. Der Arzt hatte zuvor festgelegt welche Dialyselösung verwendet werden würde und man würde als Wichtigstes erst einmal das Kalium herausfiltern. Natürlich würde man auch den Harnstoff und das Kreatinin auswaschen, aber das hatte noch keine große Eile und würde im Verlauf der nächsten Tage erst langsam sinken. Das Einmalschlauchsystem war eingelegt und mit steriler Lösung und Heparin befüllt, damit das Blut nicht in den Schläuchen gerann. Nun schloss die Intensivschwester mit Mundschutz und sterilen Handschuhen das Gerät an und während Sarah wieder an Ben´s Seite Platz nahm, der immer noch von Stromstößen geschüttelt wurde, und tröstend nach seiner Hand griff, begann die lebensrettende Dialyse.
    Der uniformierte Bewacher war inzwischen eingetroffen, aber ihm war vor all den medizinischen Geräten ziemlich bang und so nahm er in einiger Entfernung auf dem Flur auf einem Stuhl Platz-er würde die Tür im Auge behalten, das musste genügen!

  • Als das Dialysegerät anlief, fiel Ben´s Blutdruck in den Keller. Zuerst versuchte man das noch zu kompensieren, indem man die Durchflussrate reduzierte, aber dann ordnete der Intensivarzt an: „Bitte Noradrenalin verabreichen!“ und in Windeseile bereitete die zuständige Schwester den Perfusor und die Trägerlösung vor. Überhaupt hatte man die Infusionen von Vollelektrolyt- auf reine Glukose-und Kochsalzlösungen getauscht, um dem Körper nicht noch mehr Elektrolyte zuzuführen, die dann von der Niere nicht abgebaut werden würden. Ben war währenddessen hundeelend, wenn nicht das ganze medizinische Personal um ihn herumgewuselt wäre und Sarah wie ein Fels in der Brandung seine Hand gehalten hätte, hätte er schon längst aufgegeben. Aber so hielt er sich trotz des schrecklichen Gefühls selber bei Bewusstsein und versuchte in den lichten Momenten nachzudenken, wohin man Tim und Lisa wohl gebracht hatte. Leider funktionierte sein logisches Denkvermögen nicht allzu gut, denn durch das Morphium und die Blutdruckschwankungen wurde sein Gehirn nicht besonders gut durchblutet und so dämmerte er immer wieder kurz weg, um Sekunden später hoch zu schrecken und das ganze Elend von Neuem zu erleben.
    Sarah war durch die Sorge um Ben und das Beobachten der medizinischen Geräte momentan so abgelenkt, dass sie einen kurzen Augenblick nicht mehr an die Entführung dachte. Ben´s Situation war so kritisch, dass sie befürchten musste, einen der beiden liebsten Menschen für sie auf dem Erdball zu verlieren und das würde sie nicht ertragen können! Man konnte sehen, dass die Herzfrequenz ohne Schrittmacherimpuls höchstens bei 20 Schlägen pro Minute lag, das war mit dem Leben ohne medizinische Hilfe nicht zu vereinbaren und auch so würde Ben das nicht lange durchstehen! Der Nephrologe wich deshalb nicht vom Bett und veränderte ständig die Einstellungen der Maschine. Sarah beobachtete derweil immer wieder den Urinbeutel. Der füllte sich mehr und mehr-wenn man anhand der Blutwerte nicht gemerkt hätte, dass die Niere zwar teilweise angesprungen war und Flüssigkeit ausscheiden konnte, aber es eben nicht schaffte, ihre anderen Tätigkeiten auszuüben, die gemeinsam mit der Leber die Entgiftung des Organismus war und Ben nicht am Monitor gehangen hätte, dann wäre er jetzt schon nicht mehr am Leben.
    Ben wurde immer instabiler und nun versuchte man ihm wieder Flüssigkeit anzubieten und tatsächlich, als innerhalb von zehn Minuten ein Liter isotone Kochsalzlösung in ihn gerauscht war, stabilisierte er sich ein wenig. Man kontrollierte am Blutgasgerät das auf der Intensiv stand und zugleich sozusagen ein automatisches Minilabor war die Blutwerte und entschied sich dann, ihm noch zusätzlich eine Blutkonserve anzubieten, denn durch die Dialyse-so schonend die modernen Geräte zwar waren- platzten trotzdem immer wieder Erythrozyten und verursachten dadurch einen Blutverlust und ein Absinken der Blutkörperchen. Allerdings wurde dadurch wieder der Kaliumspiegel angehoben, denn das Kalium aus den geplatzten Zellen reicherte sich wiederum im Serum an und beeinträchtigte das Herz. Als Ben einen Augenblick später wieder ein wenig mehr bei sich war, flüsterte er: „Irgendwie werden meine Arme und Beine ganz taub!“ und Sarah fiel nun beinahe selber in Ohnmacht. Was um Himmels Willen war nun passiert? Hatte es wieder einen Bluterguss in den Rückenmarkskanal gegeben? Aus den Drainagen am Rücken, am Bauch und am Thorax floss durch die unbedingt notwendige Heparingabe wieder vermehrt Blut und Sarah befürchtete, dass man jeden Moment die Dialyse abbrechen würde und dann war Ben dem Tode geweiht. Stattdessen rief man allerdings den Neurologen und den Wirbelsäulenchirurgen, die sich nach einer kurzen Untersuchung einig waren: „Das ist kein Lokalbefund, sondern die Nervenimpulsweiterleitung ist im ganzen Körper durch den entgleisten Elektrolythaushalt gestört. Wenn es gelingt da wieder einigermaßen normale Werte zu erreichen, wird sich das Taubheitsgefühl von selber geben!“ klärten sie Sarah und Ben-soweit er das in seinem Zustand überhaupt erfassen konnte-auf und gingen wieder ihrer anderen Arbeit nach. Durch die Einmischung in ihr Betriebssystem begann die Niere, vermutlich gesteuert über die Hypophyse im Gehirn, die ja die Urinausscheidung zentral durch Hormonausschüttung regulierte, polyurisch zu werden, was bedeutete, dass Unmengen von Urin produziert wurden und man kaum hinterherkam, die Flüssigkeit nachzuschütten. Auch dadurch war es extrem schwer die Dialyse zu steuern und die Katecholamine zur Kreislaufunterstützung zu regulieren. Ben beschäftigte also außer zwei Ärzten gleich noch mehrere Pflegepersonen und in dem Zimmer herrschte ein reges Kommen und Gehen.


    Brami hatte nicht an sich halten können und nachsehen müssen, ob er diesen Ben Jäger nicht vernichten konnte. Er hatte sich auch gar keine Mühe geben müssen auf die Intensivstation, auf der der lag zu kommen. Entgegen seiner sonstigen Gepflogenheit nur im Anzug herumzulaufen, hatte er jetzt legere Freizeitkleidung an und seine Waffe im Holster. Er warf sich einen herumliegenden Ärztekittel über, band sich einen Mundschutz vor, was im Krankenhaus viele Ärzte machten, wenn sie erkältet waren und ging unauffällig zu dem Zimmer, das ihm an der Patienteninformation mitgeteilt worden war. Niemand hatte daran gedacht, Ben´s Aufenthalt zu anonymisieren und der aufpassende Beamte saß ein Stück entfernt gelangweilt auf dem Flur und las in einer Zeitschrift. Als Brami allerdings nun den Menschenauflauf im Zimmer sah, machte er unauffällig kehrt und verschwand wieder. Seine Stunde war noch nicht gekommen, aber er würde den Polizisten schon noch kriegen, da war er sich sicher!

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!