Nach einer Weile öffnete Semir seine Augen wieder, denn Ben hatte sich an seiner Hand festgekrallt und man sah deutlich, dass Muskelkrämpfe durch seinen geschundenen Körper liefen. Voller Besorgnis musterte Semir seinen Freund und fragte dann Sarah: „Was hat er denn jetzt eigentlich? Gerade als du mir das erklären wolltest, habe ich die Verfolgung der Männer aufgenommen, die ihm das angetan haben, aber die haben auch mich ausgeknockt und sind weiterhin auf der Flucht!“ erklärte er zur Entschuldigung, warum er Sarah am Nachmittag am Telefon so abgewimmelt hatte. „Als ich nämlich gestern gegangen bin, hatte ich das Gefühl, ihn hätte es gar nicht so lebensbedrohlich schlimm erwischt, aber was ich jetzt sehe ist ja die reinste Katastrophe!“ sagte er bedrückt und machte sich beinahe Vorwürfe, dass er die Situation falsch eingeschätzt hatte. Andererseits hatte er doch wenigstens versuchen müssen Bruckner und seine Komplizen festzunehmen, denn es ging nicht an, dass die ohne Bestrafung davonkamen. Und das war natürlich nach wie vor sein Ziel-die mussten einfach wieder verhaftet und ihrer gerechten Verurteilung zugeführt werden.
Allerdings hatte er ja im Transporter, als die Verbrecher gedacht hatten er wäre noch bewusstlos, etwas gehört und hatte durchaus eine Vorstellung wohin die flüchteten und über Strzigowski´s Frau würde er schon herausbekommen, wo genau er suchen musste. Aber er hatte es im Gefühl, dass das nicht eilte-die Verbrecher würden in Polen erst eine Weile versuchen unterzutauchen und zu warten, bis die Wogen sich geglättet hatten. Auch brauchten sie neue Papiere, denn mit ihren Klarnamen würden sie in ganz Europa an jedem Flughafen festgenommen werden. Er hatte der Chefin auf der Herfahrt erzählt, was er vermutete und die hatte alle abgehenden Flüge Richtung Süden unter verschärfte Beobachtung stellen lassen und sogar am Warschauer Flughafen lagen die Beschreibungen und Fahndungsfotos von Bruckner und Dermold bei den Sicherheitsbehörden vor, so einfach kamen die nicht weg! Also hatte er jetzt zumindest eine Verschnaufpause und wenn er selber sich erholt hatte und Ben über dem Berg war, konnte er sich wieder der Verbrecherjagd widmen, aber jetzt und hier war er nicht Polizist, sondern Privatmann und besorgter Freund!
Sarah war aufgestanden und hatte sich ein wenig die Beine vertreten als Semir sie sozusagen als Händchenhalter abgelöst hatte. Sie grübelte was sie machen sollte. Inzwischen war es nach 22.00 Uhr geworden. Sollte sie nochmals bei Frau Brauner fragen, ob sie Tim abholen sollte, aber der würde dann-falls er schlief-wieder aus dem Traum gerissen werden. Außerdem hätte sie vermutlich zuhause auch keine Ruhe-die Sorge um Ben würde sie kein Auge zutun lassen, obwohl sie gerade ziemlich müde war. Sie ging kurz zur Toilette und vor die Intensiv und beschloss es einfach mal mit einer Nachricht zu versuchen. Immerhin hatte Frau Brauner ein Smartphone und so schrieb sie ihr, wie es denn ginge. Wenig später läutete ihr Handy und die nette Dame war dran: „Bevor ich mich da jetzt verkünstle Sarah und ewig an ner Nachricht rumschreibe-ich bin da nicht so geübt wie ihr jungen Leute, rufe ich gleich an: Also Tim schläft, Frederik besteht darauf vor dem Bett zu liegen und seinen Schlaf zu bewachen. Ich habe jetzt noch ein wenig gelesen, werde aber auch bald schlafen gehen. Falls es unlösbare Probleme geben sollte, dann rufe ich sie an und sonst schauen wir morgen weiter. Ich würde vorschlagen ihr Sohn bleibt jetzt einfach so lange bei mir, bis es seinem Papa besser geht und mit dem Zubehör-das regeln wir morgen. Sie können natürlich gerne kommen und entweder hier ebenfalls übernachten, oder ihn schlafend mitnehmen, aber ich würde ihn jetzt nicht rausreißen, der hatte nen aufregenden Tag und verarbeitet gerade im Traum die ganzen Hundeerlebnisse. Vielleicht schaffen sie es zum Frühstück zu kommen und uns auch ein paar Anziehsachen und vertrautes Spielzeug zu bringen, auch ein paar weitere Windeln wären nicht schlecht, aber wenn nicht, dann kriegen wir das auch so hin-nicht Frederik?“ fragte sie und sah ihren Hund liebevoll an, der ihr zum Telefonieren aus dem Schlafzimmer gefolgt war-sie würde trotz allen Vertrauens nie ein Baby mit einem fremden Hund alleine im Raum lassen-und der goldene Rüde wedelte kurz mit dem Schwanz und sah sein Frauchen freundlich an-fast als würde er lachen.
Sarah fiel erneut ein Stein vom Herzen. Diese Frau war ein Geschenk Gottes an sie und ihre Familie und sie hatte wirklich das unbedingte Vertrauen, dass es Tim bei ihr gut ging. So schaute sie kurz bei ihren Kollegen im Stationszimmer vorbei, trank einen heißen Tee, wurde von denen noch genötigt wenigstens einen Joghurt zu essen und schob wenig später einen Mobilisationsstuhl, den man auch als Liege verwenden konnte, als ihr Nachtlager in den Raum neben Ben und sagte leise zu Semir, der immer noch besorgt seinen Freund musterte, der gerade ein wenig eingedöst war: „Also du wolltest wissen was Ben eigentlich hat, jetzt erkläre ich dir das grob: Aus irgendeinem Grund, den wir bisher noch nicht kennen, hat sich Ben´s Muskulatur begonnen aufzulösen. Man sagt zu diesem Krankheitsbild, das es in verschieden starken Ausbildungsformen gibt, Rhabdomyolyse. Durch den Abbau des Muskelgewebes kommt es im Körper zu massivem Gewebezerfall und der Organismus wird sozusagen mit den eigenen Abbaustoffen überflutet und vergiftet, was Leber und Niere schädigt. Um dir eine grobe Vorstellung davon zu geben-der Normwert der Creatininkinase im Blut, die immer nach Verletzungen oder Operationen leicht ansteigt, geht bis 170 U/l, Ben hat einen Wert der bei 80 000 U/l liegt. Dazu sind alle Leber-und Nierenwerte entgleist, der Elektrolythaushalt ist regelrecht zusammen gebrochen, er hat massive Durchfälle und der Organismus ist dazu noch stark übersäuert. Zu allem Überfluss hat er anscheinend auch noch eine Wundinfektion und durch eine Therapieversuch mit gemahlenem Kunstharz oral, eine Lungenentzündung!“ beschrieb sie Ben´s Krankheitsbild und Semir, dem es selber durch die Ruhe schon besser ging, starrte sie völlig entsetzt an. „Und was kann man dagegen machen?“ fragte er beinahe panisch, aber Sarah zuckte mit den Schultern: „Es gibt leider keine ursächliche Therapie-wir probieren die Symptome zu lindern und Mängel auszugleichen, man versucht ihm so wenig Medikamente wie möglich zu geben, um die Entgiftungsorgane nicht noch weiter zu belasten und sonst kann man nur abwarten und hoffen, dass der Körper sich selber regeneriert!“ dozierte sie, als würde sie von irgendeinem Fall reden, der sie persönlich nichts anging. Semir packte unbewusst Ben´s Hand fester, wie in dem verzweifelten Bemühen ihn festzuhalten. „Und wie stehen seine Chancen?“ fragte er leise, aber als er Sarah nun prüfend musterte, begannen deren Tränen zu laufen und sie zuckte nur mit den Schultern und wandte voller Kummer den Blick ab.