Die Decke hatte man ihm schon zum Umlagern weggenommen, aber obwohl er ja noch Fieber hatte, war ihm trotzdem kalt und er erschauerte, als man nun auch noch sein Hemd hoch schlug. Er kam sich nackt und ausgeliefert vor und sowohl Sarah als auch die anderen Anwesenden bemerkten, was ihm gerade zu schaffen machte. „Herr Jäger-sie bekommen sofort eine warme Decke und genieren müssen sie sich auch nicht, aber wir müssen sie jetzt sachgerecht lagern, damit wir an die Leiste gut rankommen, denn sie sollten dann eine ganze Weile still liegen!“ erklärte die eine Schwester des Katheterlabors sachlich, was Ben innerlich zum Aufseufzen brachte. Die hatte keine Ahnung wie weh seine Wunden am Rücken taten, wenn er da direkt drauf lag und trotz Polsterung war der Tisch doch kalt und härter als sein weiches Bett. Auch der Internist war näher getreten und hatte ihn gemustert. „Ich möchte durch die linke Leiste eingehen, denn nachdem wir rechts ja die Drei-Etagen-Thrombose haben, besteht da die größere Gefahr, dass sich beim Vorschieben der Sonde ein Gerinnsel löst!“ erklärte er und die unsterile assistierende Schwester nickte, drehte das linke Bein ein wenig nach außen, hängte den Katheterbeutel nach rechts und legte als begleitende Maßnahme ein dichtes grünes Tüchlein über seine Scham und nun war Ben irgendwie wohler, auch wenn das eigentlich ein Blödsinn war, denn das medizinische Fachpersonal sah sicher täglich mehr nackte Menschen als er sich vorstellen konnte.
Unter sein rechtes Bein kam nun eine bequeme Knierolle und auch das linke wurde in dieser Position mit einem flachen Kissen unterstützt, bis der Kardiologe zufrieden war. Mit einem Lächeln holte die Schwester nun eine angewärmte grüne Decke aus dem Wärmeschrank, der sich draußen vor den Behandlungsräumen auf dem Flur befand. Ein wenig Komfort sollten die Patienten schon haben, denn die meisten froren, wenn man manchmal über einen längeren Zeitraum an ihnen herumbastelte und sie dabei still liegen mussten. Damit wurde nun sein Oberkörper bis unterhalb des Bauchnabels zugedeckt und auch über die beiden Beine kam jeweils eine Einzeldecke-falls der Leistenzugang schwierig wurde konnte man nämlich die beiden Beinstützen unabhängig voneinander bewegen. Die Raumtemperatur im Katheterlabor war nicht allzu hoch, weil alle die dort arbeiteten ja durch die Röntgenschürze und zusätzliche sterile Vermummung immer schwitzten.
Die steril gewaschene Schwester hatte inzwischen ihren Tisch vorbereitet und reichte nun dem Operateur, der zwei Paar Handschuhe übereinander trug, ein Schälchen mit farbigem Desinfektionsmittel in dem mehrere Tupfer schwammen und eine lange Kornzange. Der Kardiologe strich nun sachgerecht von außen nach innen die Leistenregion dreimal ab, zog dann das eine Paar Handschuhe aus und deckte dann gemeinsam mit der steril gewaschenen Schwester den ganzen Patienten mit großen sterilen Tüchern zu. Nur in dem Bereich der Leiste legte man ein gefenstertes Tuch dessen Ränder durchsichtig waren und klebten, so dass der Bereich in dem die Schleuse liegen würde, frei blieb. Nun tastete der Arzt zunächst mal nach der Arterie, weil Arterie und Vene dort-wie fast überall im Körper- direkt übereinander lagen. Falls es schwierig würde, das Gefäß zu punktieren, stand für alle Fälle ein Ultraschallgerät mit ebenfalls steril eingepacktem Schallkopf bereit, aber einem erfahrenen Kardiologen würde das vermutlich keine Mühe bereiten, auch wenn die meisten Gefäßzugänge für Herzkatheteruntersuchungen über die Femoralarterie liefen. Nun reichte ihm die Schwester eine Lokalanästhesie mit einer langen Nadel und mit der Warnung: „Vorsicht-jetzt piekts!“ infiltrierte er sorgfältig die gesamte Leistenregion. Ben spürte zwar schmerzhaft die Nadel mehrfach eindringen, aber dann wurde das ganze Gebiet taub und fühlte sich an wie Holz.
Noch war das Deckenlicht an, denn das Katheterlabor hatte kein Fenster und so sah Ben noch aus dem Augenwinkel, wie der Arzt nun mit einer ziemlich dicken Nadel das Gefäß aufsuchte, was ihm dank seiner Erfahrung in Windeseile gelang. Nun legte er über einen Seldinger-Führungsdraht dorthinein eine sogenannte Schleuse-das war ein dickes Kunststoffschläuchlein, das aber mit einer Membrane versehen war, damit dort kein Blut herauslaufen konnte und als er die mit einer Annaht in Ben´s Leiste fixiert hatte, ließ er sich die Einführsonde mit dem vorne aufgesetzten zusammengefalteten Cavaschirmchen geben und nachdem er die durch die Membrane, die zusätzlich noch mit einer plastikummantelten Schutzhülle umgeben war, gefädelt hatte, wurde das Deckenlicht gelöscht und nur noch die Bildwandlerschirme, also die direkten Röntgengeräte und die Kontrollmonitore gaben ein geisterhaftes Licht von sich.
Die ersten Zentimeter schob der Kardiologe die Sonde blind nach oben, dann spritzte die assistierende Schwester immer wieder kleine Mengen Kontrastmittel durch den Zuspritzgang der meterlangen Sonde und so konnte man unter Röntgenkontrolle ihren Weg durch Ben´s Körper verfolgen. Ben bemerkte die Anspannung aller Beteiligten und auch Sarah´s Hand, die die seine tröstend umfasste, war vor Aufregung eiskalt und er merkte, wie sie unbewusst immer wieder den Atem anhielt. Je höher die Sonde kam, desto mehr Thromben in verschiedenen Größen sah man nämlich an den Gefäßwänden hängen. Es wäre fast ein Wunder wenn es gelänge durch das venöse System mitten durch Ben´s Körper, vorbei an den ganzen Bauchorganen und dann entlang der Wirbelsäule bis kurz vors Herz zu kommen, wo dann das Schirmchen, das eigentlich mehr aussah wie ein kleiner Metallquirl, entfaltet werden sollte, ohne dabei mechanisch einen Thrombus zu lösen. Auch der Anästhesist hatte die ganze Zeit den Monitor im Auge, denn falls es zu einer Komplikation kam, müsste er schnell reagieren, aber bisher blieb alles ruhig. Allerdings war es für den Kardiologen teilweise sehr schwierig die richtige Abzweigung zu finden und immer wieder wurde eine kleine Menge Kontrastmittel eingespritzt, wodurch man dann wieder die vor dem Katheter liegenden Gefäße und ihren Verlauf kurz sehen konnte, aber mit der nächsten Pumpwelle des Herzens wurde das Kontrastmittel dann schon wieder in Richtung Körpermitte gezogen und im großen Kreislauf verteilt. Was mit ein Problem darstellte war die Tatsache, dass Ben´s Niere ja sowieso schon geschädigt war und das Kontrastmittel für diese ebenfalls nicht gesund war. Man würde zwar nach dem Eingriff versuchen den Körper mit mehreren Liter Infusionslösung zu spülen, aber trotzdem versuchte der Arzt natürlich so wenig wie möglich von der schädigenden Flüssigkeit zu verwenden.
Mehrmals probierte er vergeblich eine Kurve zu meistern, aber nachdem das auf Höhe des Zwerchfells mehrfach nicht ging, veränderte man die Neigung des Tisches von außen und Ben fühlte sich, als wenn er aufgeklappt würde wie ein Klappmesser, als das Beinteil und das Kopfteil sich senkten. Ein Aufstöhnen begleitete diese Lagerung und der Narkosearzt beeilte sich, seinem Patienten nun einen Opiatbolus zukommen zu lassen-wenn er sich jetzt bewegte, konnte das sein Todesurteil bedeuten. Nicht nur die Gefahr des sich lösenden Thrombus bestand, sondern die Sonde mit dem Schirmchen daran konnte durch ihre Starrheit auch die Gefäßwand durchstoßen und im Mediastinum, wo sie sich jetzt in unmittelbarer Herznähe befand, lag ein empfindlicheres Organ neben dem anderen. Kam es zu einer arteriellen Verletzung, würde die Blutung vielleicht nicht zu stoppen sein, erwischte man die Luft-oder die Speiseröhre kam es zu meist tödlich verlaufenden Abszessen oder Luftembolien und so atmeten alle Beteiligten auf, als es dem Kardiologen endlich beim wiederholten Anlauf gelang an die richtige Stelle zur Schirmchenplatzierung zu gelangen. Bei der nächsten Kontrastmitteleinspritzung sah man die Herzklappe des rechten Vorhofs unmittelbar vor dem Schirmchen und das Herz beantwortete diese Irritation sofort mit einem Stolpern, das Ben unangenehm mitbekam. Aber als der Kardiologe jetzt seine Sonde einen Zentimeter zurückzog und nun vorsichtig mit viel Routine das Schirmchen entfaltete, das jetzt wie ein kleines Metallgitter einen Schutzwall vor dem Herzen bildete, in dem sich eventuelle Thromben fangen und dort mit der Zeit epithelisiert würden, atmeten alle Beteiligten auf und Ben hätte sich beinahe geregt, so bekam er die Erleichterung aller Zuschauer mit.
„Halt Ben, ruhig!“ schrie Sarah angstvoll auf, denn erst wenn die Sonde entfernt war, war die Gefahr vorüber und so lag er noch einen kurzen Moment still, währenddessen der Kardiologe, dem im Gegensatz zu Ben, dem immer noch kalt war, die Schweißperlen auf der Stirn standen, die Sonde zurückzog und ans Tageslicht beförderte. Man machte das Deckenlicht an und nun entfernte der Internist noch die Schleuse und drückte eine Weile fest auf Ben´s Leiste, um einen Bluterguss zu verhindern, was dem extrem unangenehm war. Allerdings hatte Sarah nun vor Erleichterung Tränen in den Augen und so beschwerte Ben sich nicht, dem irgendwie erst jetzt durch die Reaktion seiner Behandler bewusst wurde, in welcher Gefahr er in den letzten Stunden geschwebt hatte. „Schatz-du hast es geschafft!“ sagte seine Frau erleichtert und als er wenig später in seinem Bett lag und nun schon wesentlich befreiter auf die Intensiv zurückgefahren wurde, wo man dann noch eine dokumentierende Röntgenaufnahme machte, worauf erstens das Schirmchen und seine korrekte Lage deutlich zu sehen waren und man auch feststellte, dass er keinen sogenannten Pneumothorax hatte, also einen Lufteintritt in den Pleuraraum, der als Komplikation nach diesem Eingriff entstehen konnte, war er selber froh.
Nun wickelte man das rechte Bein erneut bis obenhin, lagerte es auf eine Schiene, aber man legte nun unter seine Matratze eine zusammengerollte Zudecke, so dass er eine schiefe Ebene erhielt und wenigstens nicht das ganze Gewicht auf dem wunden Rücken ruhte. Auch die Atemmaske schnallte man ihm wieder auf und er bekam vor Erschöpfung kaum noch mit, wie nun Liter um Liter an Infusionslösung angehängt wurde, um die Niere zu spülen. „In ein paar Stunden beginnen wir trotzdem wieder mit der Dialyse-wir haben vermutlich noch nicht alle Reste der Riesenmoleküle ausgewaschen und außerdem entlastet es die Niere, wenn sie nicht die ganze Filterarbeit machen muss!“ beschloss der Intensivarzt und Sarah, der ihre Kollegen gerade einen Kaffee und ein paar Kekse ans Bett gebracht hatten nickte zustimmend. Sie hatte jetzt wieder Hoffnung geschöpft und während Ben nun tatsächlich einschlief, lehnte auch sie sich in ihrem bequemen Stuhl zurück und ruhte sich aus.
Hildegard hatte inzwischen Konrad überredet mit ihr und Tim noch zur Tierklinik zu fahren und so ging Konrad wenig später mit einem wedelnden Lucky an der Leine nach draußen-ja, ja Hildegard konnte sehr überzeugend sein. Sie und Jo hatten immer schon Hunde gehabt und Ben hatte seinem Vater nach jedem Besuch dort zugesetzt, dass er unbedingt auch einen Hund wollte. „So-du bist also der Lebensretter meines Sohnes!“ sagte Konrad nachdenklich und setzte sich auf eine Bank, woraufhin Lucky kurz seinen Kopf auf seinen Oberschenkel legte und ihn treuherzig ansah. Auch dieser nette Mann roch intensiv nach Herrchen und deswegen mochte Lucky ihn sofort.