Drogendezernat - 16:30 Uhr
Auf Bienerts Frage hin blickten sich die beiden Autobahnpolizisten kurz an. Sie wussten, dass sie ein Geheimnis, Jennys Vergewaltigung, nicht einfach weiter tratschen wollten. Aber der erfahrene Drogenfahnder hatte ihnen scheinbar ebenfalls reinen Wein eingeschenkt. Semir spürte nur einen kurzen, beinahe warnenden Blick von Ben, bevor er anfing zu reden. "Also, das ist folgendermaßen.", sagte er, strich sich kurz über die Lippen und verlagerte das Gewicht seines Oberkörpers ein wenig nach vorne, um aufrecht zu sitzen und konzentriert reden zu können. "Gestern mittag wurde Mark Schneider, ein Kommissarsanwärter, tot in seiner Wohnung aufgefunden." Bienert nickte kurz. "Davon hatte ich noch gehört... aber mich nachher nicht mehr erkundigt." "Jedenfalls hat eben dieser Mark Schneider eine Kollegin von uns...", er stockte kurz, ein kurzer Blick zu Ben, der nickte denn Semir hatte keinen Namen genannt... "...vergewaltigt, zwei Nächte zuvor. Eine Kollegin, die eng mit Kevin befreundet ist." Wieder ein Nicken seines Gegenübers, auch Thomas Bienert saß weiterhin aufrecht, und hatte eine denkende, konzentrierte Pose eingenommen, während Semir weiter erzählte. "Kevin wusste von der Vergewaltigung, und er wurde zur Tatzeit am Tatort gesehen. Und ich bin ehrlich, ich würde es ihm zutrauen, und könnte es ihm nicht verübeln, wenn er dem Kerl auf die Nase gehauen hat. Das Problem ist nur... der Typ ist jetzt tot. Laut medizinischem Bericht aufgrund eines gezielten Schlages auf die Brust, der Herzversagen auslöst. Ausserdem hat man in Hautabschürfungen an Kevins Hand Hautpartikel des Opfers gefunden. Er hat also sicher einmal zugeschlagen." Nun zog Bienert die Augenbrauen ein wenig nach oben und wiederholte: "Ein gezielter Schlag, der Herzversagen auslöst?" "Es handelt sich um eine spezielle fernöstliche Kampfkunst.", antwortete Ben und erntete ein dankbares Nicken von seinem Gegenüber, der davon noch nie gehört hatte... aber man musste ja nicht alles kennen. "Und Kevin beherrscht diese Kunst?", fragte er dann nach, doch Semir zuckte mit den Schultern. "Wir wissen nur, dass er sie kennt. Ob er sie beherrscht..." Er sah fragend zu Ben, der vor Wochen noch mehr Kontakt zu Kevin hatte, doch der zuckte ebenfalls mit den Schultern und schüttelte den Kopf.
"Jedenfalls hat dies bisher ausgereicht um den Haftrichter zu überzeugen. Hauptkommissar Plotz hat nicht gezögert, davon Gebrauch zu machen.", meinte Ben und seine Verachtung gegenüber Plotz war in seiner Stimme nicht zu überhören. Bienert hob beinahe entschuldigend die Arme: "Seid ehrlich... bei dieser Indizienlage... was hättet ihr getan?" Ein Gefühl, das Semir bereits hatte und das Ben sich einfach nicht zugestehen wollte. "Was denkt ihr? Ich kenne Kevin jetzt nicht in und auswendig...", fragte Bienert quasi die Fragen aller Fragen. Semirs Gesichtsausdruck drückte Zerissenheit aus, sein Kopf wog hin und her, doch Ben kam ihm mit aller Überzeugung zuvor: "Er hat ihn nicht umgebracht. Kevin wüsste, was das für Folgen hat, vor allem wo er jetzt Hoffnung hatte, seinen Dienst wieder fort zu setzen, wenn er deinen Auftrag erfüllt hätte." Er stieß Semir an die Schulter an. "Oder? Das ist doch eine andere Ausgangslage, als wenn er keine Hoffnung mehr auf den Polizeidienst gehabt hätte." Das war richtig. Der junge Polizist war nicht in einer "Nichts-mehr-zu-verlieren"-Position, als er Schneider aufgesucht hatte, was dem ganzen einen etwas anderen Sichtwinkel gab. "Plotz sagt ihr, ermittelt in dem Fall?", fragte Bienert nach, und erntete zustimmendes Nicken. Beinahe zynisch lachte der Drogenfahnder auf: "Ein sehr umsichtiger Kollege. Bekannt dafür, alle falschen Fährten auszuschließen, bevor er einen Fall abschließt." Seine Stimme triefte vor Ironie und machte den beiden Autobahnpolizisten weiter Hoffnung, dass es auch noch andere Möglichkeiten gab. "Hast du Kontakt zu ihm? Kontakt, mit dem du ihn beeinflussen kannst?", fragte Semir, denn er wusste um das Ansehen Bienerts. Viele Kollegen, auch ältere nahmen sich Bienerts Rat gerne zu Herzen, aber in dem Fall schüttelte er den Kopf. "Plotz würde eher Diät machen, als einen Rat zu befolgen." Ben grinste und war überrascht, dass der zwar auf ihn angenehm wirkende Bienert auch Humor hatte.
"Jetzt stellt sich nur die Frage...", meinte der Drogenfahnder, streckte seinen Körper etwas und lehnte sich wieder zurück in seinen Bürostuhl. "... wie kann ich euch helfen? Warum kommt ihr zu mir?" "Eigentlich wollten wir von dir wissen, was Kevin an dem Abend erzählt hat... aber das hat sich ja dadurch, dass er für dich arbeitet, erledigt.", meinte Semir etwas resignierend, er befürchtete bereits, ohne gutes Ergebnis hier aus dem Büro rauszugehen. "Aber helfen könntest du uns trotzdem...", meinte Ben dann plötzlich und beugte sich nach vorne. "Man hat in Schneiders Blut Rückstände von Drogen gefunden. Speed." Sofort arbeitete Bienerts Gehirn, in diesem Gebiet war er absoluter Experte, und wie aus der Pistole geschossen meinte er: "Speed gibts nicht mehr alzu oft. Was in den 90er auf jeder guten Party angeboten wurde, ist heute beinahe ein Exot." "Wenn wir dir die genaue Zusammensetzung zukommen lassen... könntest du mal recherchieren, wo oder von wem Schneider das Zeug haben könnte? Vielleicht hast du da ein paar Kandidaten, die für den Verkauf in Frage kommen. Ich glaube nicht, dass er das selbst hergestellt hat." "Das ist eine gute Idee. An diese Infos kommst du sicher schneller ran, als wir.", pflichtete Semir ihm bei, und Bienert nickte sofort. "Ich werde sehen, was ich tun kann." Er sagte es sicherlich auch aus Eigennutz, den ihm nützte es natürlich, wenn Kevin schnell wieder auf freiem Fuß war.
"Weisst du... es geht uns nicht darum einen Mörder frei zu bekommen, nur weil er unser Freund ist.", sagte Semir nach einer kurzen Pause in Richtung Thomas Bienert. "Es geht uns darum, einem Freund zu helfen, der vielleicht unschuldig ist. Und wir wollen alle weiteren Möglichkeiten ermitteln, die in Frage kommen." Er erntete zustimmendes Nicken von dem erfahrenen Drogenfahnder. "Kevin kann froh sein, solche Freunde zu haben.", meinte er ehrlich. "Er wollte mich nach dem aufgeflogenen Drogendeal überreden, euch einzuweihen, was ich abgelehnt hatte. Es hat ihn ziemlich zu schaffen gemacht, euch so im Unklaren zu lassen." Diese Worte waren Balsam auf Semirs, und vor allem auf Bens Seele, der sich ziemlich viele Gedanken ob Kevins Verhalten gemacht hatte.
Semir nahm einen Anruf, der sich durch ein Klingeln bemerkbar machte, an. Er hörte Bonraths aufgeregte Stimme. "Semir? Wo steckt ihr denn... die Chefin will, dass ich euch anfunke, und ich kriege keine Antwort. Hier ist das Büro gleich zu klein..." Semir sah auf die Uhr und erschrak fast... sie waren schon seit über einer Stunde nicht mehr erreichbar ohne sich vorher abzumelden. "Oh... ähm... versuchts in 10 Minuten nochmal, wir sind gleich im Wagen." "Lass mich nicht hängen...", meinte der lange Kollege und legte auf. "Was ist?", fragte Ben und sein Partner steckte das Handy weg. "Die Chefin ist auf 180..." Der junge Polizist verdrehte die Augen. "Dann soll sie aufpassen, dass sie nicht geblitzt wird." Bienert und Semir grinsten, sie reichten sich die Hände und verabschiedeten sich.
Kevin's Zelle - 20:30 Uhr
Kevin fand es fast beeindruckend wie der kleine, etwas hibbelig wirkende Philipp in einer Gedankenwelt seiner Bücher eintauchen konnte. Seit zwei Stunden hatte er sich nicht bewegt, saß an seinem Tisch und las. Er hatte nicht mit zum Essen gehen wollen, und der suspendierte Polizist versuchte nicht, ihn zu überreden. Als er wiederkam, sah er ein Tablett und einen leeren Teller auf Philipps Bett stehen. "Bekommst du hier Sonderbehandlung?", fragte er, als er sich wieder aufs Bett fallen ließ. Sein Zellenkumpane sah ein wenig schüchtern drein. "Die... die Wärter bringen mir manchmal was... weil sie wissen, was im Essensraum manchmal passiert, wenn ich dort essen will." Kevin konnte es sich ausmalen, und fragte nicht mehr nach.
Eine halbe Stunde, bevor die Zellen geschlossen wurden, stand Thomas an der Tür. Er hatte ein Handtuch um die Schultern, kam gerade aus den Gemeinschaftsduschen. "Kannst du nicht schlafen?", fragte er unvermittelt in Kevins Richtung, der mit offenen Augen im Bett lag und die Decke anstarrte, während Philipp zusammenzuckte, und ein wenig ängstlich zu dem kräftigen Thomas blickte. Auch Kevin schaute kurz auf, sah dann aber wieder stumm zur Decke. Warum scheute er den Dialog mit Thomas, warum widerstrebte es sich ihm? War Jessy der Grund? Weil er sie nicht mehr besucht hatte... fühlte er sich deswegen ein wenig schuldig, und wollte das nicht vor dem Bruder des Mädchens zeigen?
Der jedoch ließ sich von Kevins Ignoranz nicht abwimmeln, kam in die Zelle und setzte sich auf die Britsche. Beinahe widerwillig setzte sich auch der Kommissar auf, und blickte zu dem Mann neben ihm. "Reicht ein einfaches Danke nicht?", fragte er, im Bezug auf Thomas' Hilfe am Nachmittag. "Ich wollte mich bedanken.", sagte der dann und ließ sein Gegenüber die Augenbrauen verwundert hochziehen. "Wofür?" "Für deine Hilfe. Dank dir kann ich Jessy einmal in der Woche für eine halbe Stunde sehen... und das tut ihr sehr gut." Kevin dachte nach... er hatte doch gar nichts... Ben. Ben hatte ihm vor Wochen, als sie zusammenarbeiteten angeboten mit einem befreundeten Staatsanwalt zu sprechen, und vielleicht ein regelmäßiges Treffen hinzubiegen, dass sich Thomas und Jessy sehen konnte, nachdem er erfahren hatte, dass es Jessy nicht besonders gut ging. Er hatte sein Versprechen gehalten, ohne Kevin davon noch einmal zu erzählen, vermutlich nach dem der junge Polizist suspendiert wurde. Er spürte so etwas wie Ergriffenheit, dass Ben sich trotzdem darum gekümmert hat, obwohl die beiden nicht unbedingt in tiefer Freundschaft auseinander gegangen sind. "Ja... ich... das hat mein Kollege hingebogen." "Der, der Andreas...", begann Thomas nachdenklich, aber Kevin kam ihm zuvor. "Der andere."
"Wenn du nicht schlafen kannst...", meinte Thomas nach einer kurzen Pause und hielt Kevin etwas hin, das wie zwei Zigaretten aussah. Dieser nahm die Dinge entgegen und betrachtete sie. "Gras?" "Keine Angst. Nichts gefährliches... aber es hilft am Anfang." Der Polizist sah ihn schief an. "Bist du irre? Wenn die Wärter mich mit dem Zeug erwischen, sitz ich noch länger als ohnehin schon." "Rauch es am Fenster, und niemand wird etwas merken. Wenn du heute nacht um 4 Uhr noch wach liegst, wirst du mir dankbar sein." Er klopfte Kevin auf die Schulter, erhob sich und verließ die Zelle.