KTU - 14:30 Uhr
Hartmuts altmodische Uhr, die in seinem Büro hing und so laut tickte, als würde jemand mit einem Vorschlaghammer auf den Amboss hauen, machte Ben fast wahnsinnig... oder kam sie ihm nur so laut vor, weil es still war im Raum, der vollgestopft war mit Elektronik? Die beiden Polizisten saßen oder standen herum, manchmal sah Semir Hartmut über die Schulter, der versuchte einige Daten aus dem defekten Handy zu retten. Das moderne Gerät hatte den Sturz des Motorrades doch nicht überlebt, der Riss in dem Glas stellte sich als Totalschaden heraus. Doch wenn es jemand schaffte, aus den Datenfragmenten noch etwas zusammen zu basteln, dann war es Hartmut Freund, der rothaarige Genie der KTU und guter Freund, der beiden Autobahnpolizisten.
Ben konnte nicht still sitzen. Die Sorge um Kevin saß ihn im Nacken, aber viel mehr quälten ihn die Gedanken um die letzte Nacht. Konnte er Kevin jemals nochmal unter die Augen treten? Oder machte er sich einfach zu viel Gedanken, und es lief gar nichts zwischen Jenny und dem jungen Polizisten? Noch schlimmer war jedoch immer wieder ein Gedanke, bei dem er sich erwischte: Empfand er etwas für Jenny? War es doch nicht nur eine Mischung aus Trost und Einsamkeits- wie Kummerbewältigung bei beiden, dass sie im Bett landeten, sondern war da noch mehr? Ben war kein Kind von Traurigkeit, und es konnte durchaus passieren, dass er mit einer Bar-Bekanntschaft in seinem Bett landete, der er morgens noch Kaffee und Brötchen ans Bett brachte, um dann möglichst laute Rockmusik aufzulegen, um sie zum Gehen zu bewegen. Aber das war es diesmal nicht, in keinster Weise. Und dieser Gedanke machte ihm mehr als Angst, und er fragte sich, ob Jenny genauso fühlte.
Semir spürte, dass mit seinem Freund etwas nicht stimmte. Heute vormittag hatte er es noch auf ein schlechtes Gewissen geschoben, aufgrund von Bens Alleingang in der Disco... doch so lange würde der Polizist sich nicht mit einem schlechten Gewissen rumärgern, schon gar nicht nachdem sein alter Partner klar gemacht hatte, dass es im Prinzip in Ordnung war... wenn er nur vorher Bescheid gesagt hätte. Nein, da musste noch was anderes sein... etwas was tiefer ging, tiefer in Ben drinsteckte. Waren es vielleicht immer noch Schuldgefühle um Kevin... jetzt wieder verstärkt, seitdem immer klarer wird, dass Kevin doch unschuldig war.
Semir lehnte sich neben den hüfthohen Stehschrank, an dem auch Ben lehnte und zum Fenster hinausblickte, wo die Schmetterlinge zusammen in herrlichen Sonnenschein tanzten. "Was ist los mit dir?", fragte Semir irgendwann, doch Ben schüttelte nur den Kopf, sah seinen Partner gar nicht erst an. "Warum muss man dich eigentlich immer fragen? Warum kommst du nicht einfach mal und sagst, du Semir, mir gehts scheisse und ich sag dir jetzt warum." Die Offenheit seines Partners ließ Ben grinsen, und den Kopf doch zu Semir drehen. "Weißt du warum das so ist? Weils bei dir genauso ist, du Schwätzer.", sagte er und fühlte sich in direkter Umgebung seines Freundes sofort wieder wohler. Egal wie alleine er sich mit seinen Gedanken fühlte, sobald er spürte, dass Semir sich Sorgen um ihn machte, und seine Hand anbot, fühlte er sich wohler. Er vertraute Semir zu 1000%, und es gab keinen Grund ihm etwas zu verheimlichen... ausser dass Ben sich selbst schämte, für das was er getan hatte. Er räusperte sich ein wenig, bevor er sagte: "Glaubst du dass... dass Kevin und... Jenny zusammen... also bevor Kevin verhaftet wurde, dass die zwei...", druckste er ein wenig herum. Bevor er seinen Fehltritt, der vielleicht gar keiner war, gestand, wollte er Semirs Meinung darüber hören. "Du meinst, ob die beiden ein Paar sind?", half der ihm etwas aus der rhetorischen Klemme und bekam dafür ein scheues Nicken. Semir verzog den Mund zu etwas unentschlossenem, zuckte mit den Schultern und legte den Kopf schief: "Ich weiß nicht. Kevin ist so undurchdringbar wie eine 70er-Betonwand, aber ganz egal scheint Jenny ihm nicht zu sein, sonst hätte er Schneider nicht so zugerichtet." Mit der Antwort konnte Ben nicht alzu viel anfangen. "Warum fragst du das?" Nun lag der Ball wieder bei dem jungen Polizisten. "Naja... weil... also..."
"Ich habs!!", kam die aufgeregte Stimme vom Computer, und Hartmut klatschte erfreut in die Hände. "Nennt mich Gott. Ich habe die komplette Anrufliste wieder hergestellt. Und einige Whatsapp-Nachrichten konnte ich wiederherstellen." Semir und Ben sahen sich kurz an, Ben wurde unterbrochen und war scheinbar dankbar dafür, denn er wendete sich sofort Hartmut zu. "Und was steht drin?" Hartmut klickte mehrere Fenster auf, die teilweise kryptische Zahlen, teilweise Nachrichten und verständliche Anruflisten enthielten. "Schneider ist Wurmfutter, Job erledigt." lasen sie. "Ich übernehme seinen Posten im 99Grad.", war eine Antwort. Alltagsgespräch. "Im Knast läufts okay, aber nicht berauschend. Haha Wortwitz" Mit dieser Nachricht konnten die beiden Polizisten erst nicht so viel anfangen.
Dann sahen sie sich die Anruflisten des toten Dealers an. Die Zentrale der Polizei wurde mehrfach angerufen. "Hat sich scheinbar immer weiterleiten lassen, dort wo er seinen Mann sitzen hatte.", murmelte Semir in Gedanken. "Bekommst du das nicht raus?", fragte sein Partner eifrig an das Technik-Genie, doch der schüttelte nur den Kopf. "Dafür hätten wir eine Live-Überwachung zum Zeitpunkt der Anrufe gebraucht. So bekommen wir das nicht raus." "Tolles Genie.", frozzelte Ben und kassierte einen Faustschlag auf den Arm von Hartmut. "Auf jeden Fall hatte Harry Verbündete bei der Polizei.", sagte Semir und wurde dann auf mehrere Anrufe auf eine andere Nummer aufmerksam. "Das ist doch die JVA, die er angerufen hatte. Warum sollte er dort anrufen.", sagte er laut und sah Ben fragend an. "Hmm... im Knast läufts okay, aber nicht berauschend... sollten die dort auch verticken?" "Ist das nicht zu auffällig?" Bens Stimme stockte plötzlich... und ihm fiel der Drogenfahnder ein. "Verdammt... Bienert wollte doch unbedingt, dass Kevin in der Gang ermittelt." "Ja und?" "Wenn Kevin Bienert im Gespräch im Knast erzählt hat, dass er mitbekommen hat dass diese Gang auch hinter dem JVA-Mauern aktiv ist... dann hätte Bienert doch Interesse daran ihn drin zu lassen. Vielleicht sind dort sogar alte Gang-Kollegen von ihm drin.", sagte Ben hastig. "Du meinst, Bienert hätte uns etwas verschwiegen?" Der junge Polizist zuckte mit den Schultern, und Semir begann nachzudenken. Er würde es dem Kollegen eigentlich nicht zutrauen, er kannte aber auch dessen Ehrgeiz und gepaart mit Kevins Willen, wieder Polizist zu werden... schien alles möglich.
"Hartmut, speicher die Sachen ab und schick sie uns per Mail. Wir melden uns wieder. Danke Einstein.", sagte Semir schnell, und die beiden Polizisten eilten zum Dienstwagen. Hartmut, der dem Gespräch wenig, bis gar nicht folgen konnte aufgrund von Informationsmangel, sah den beiden nur kurz hinterher.
JVA - 15:00 Uhr
Philipp zitterte... er zitterte am ganzen Körper, und hätte er sich nicht mehrmals in die Hand gebissen, hätten seine Zähne unüberhörbar aufeinander geklappert. Sofort als er die Stimmen, beide waren ihm bekannt, gehört hatte, hatte er sich in den hintersten Teil der Bibliothek zurückgezogen. Und was er hörte, jagte ihm noch mehr Angst ein. Kevin ein Polizist, der "Boss" möchte ihn tot sehen, und Jerry soll das bei einem Boxkampf bewerkstelligen. Oh mein Gott... niemand durfte je erfahren, dass er hier war und dies mitgehört hatte. Er sah sich bereits als toter Mann, und versuchte die Luft anzuhalten um möglichst keinen Ton von sich zu geben.
Nachdem die beiden Männer fertig mit ihrer Besprechung waren, blieb der kleine Bankräuber noch mehrere Minuten starr sitzen. Was sollte er tun? Kevin warnen, der sich so für ihn eingesetzt hatte? Doch wie sehr konnte er dem vertrauen? Würde der sagen, von wem er die Info hatte? Gegen die Drogengang könnte auch Kevin alleine ihn nicht verteidigen. Nein, vergiss es... er wollte die letzten zwei Monate nur noch überleben, nur noch mit heiler Hauf auf eigenen Beinen rauskommen. Ihn interessierte es nicht, was hier passierte, das ging ihn alles nichts an, damit hatte er nichts zu tun. Einfach vergessen was war, einfach so tun als sei nichts gewesen.
Er musste sich anstrengen, um möglichst unfallfrei zu seiner Zelle zurück zu kommen und nicht wegen des Zitterns über die eigenen Füße zu stolpern. Philipp sah niemandem ins Gesicht, dem er begegnete, denn er bildete sich ein, dass man ihm die Lüge, das Verheimlichen von der Nase ablesen konnte. Als hätte er auf der Stirn stehen: "Ich weiß, dass ihr Kevin töten wollt."
Umso mehr erschrak er, als er erneut eine Stimme vernahm, als er zu seiner Zelle gelangte und sich endlich in Sicherheit wiegte. "Komm schon... du bist topfit, das sehe ich dir doch an.", hörte er Jerrys Stimme und Philipp überlegte, ob er sich füe die nächsten beiden Stunden im Klo einschließen sollte. "Jerry, weißt du wie lange ich nicht mehr in einem echten Kampf im Ring gestanden habe?", hörte er die monoton markante Stimme seines Zellenkumpel. Langsam, zitternd wie Espenlaub, trat der kleine Bankräuber in die Zelle und wurde von Kevin mit einem kurzen Nicken begrüßt. Natürlich fiel den beiden Männern sofort auf, wie zittrig der kleine Kerl war, und die Blicke fielen auf ihn, so dass dieser am liebsten im Betonboden versunken wäre. "Kalt draussen...", sagte er bloß, obwohl es ein herrlicher Sommertag war. Er steckte die Nase in ein Buch, das noch auf seinem Bett lag, wohlwollend ließ er die neuen Bücher unter seinem Shirt, damit nicht auffiel, dass er gerade aus der Bibliothek kam.
Zu seinem Glück nahm Jerry keinerlei Notiz seines Verweises und gab seinem Freund einen Stoß. "Jetzt geb dir nen Ruck. Ich hab dich angepriesen, hab erzählt wie du damals dieses Großmaul auf die Bretter geschickt hast. Yanek hatte schon ewig keinen Gegner, der ist eingerostet." "Mann Jerry..." Kevin klang ernst. "Der letzte Kampf war gegen Tony Becker. Du weißt was damals passiert war." Es war der Kampf, in dem Kevin den vollgepumpten Becker KO schlug, der später starb... der Auslöser für Peter Beckers schreckliche Rache an Janine. "Ich wollte eigentlich nicht mehr in den Ring... zumindest nicht, ausser zum Training." Jerry sah verständnisvoll drein, doch er spürte den tödlichen Atem seines Bosses im Nacken. Er hatte Schmerzen in der Brust vor Gram, als er sich vorstellte, Kevin gerade zu seinem Henker zu schubsen, und er litt schrecklich, ohne es zu zeigen. "Das ist nicht mehr als ein Trainingskampf. Für die Leute hier drin ne schöne Abwechslung."
Kevin schüttelte den Kopf und grinste: "Du kannst es echt nicht lassen, oder?" Auch Jerry begann zu grinsen und lachte auf: "Na los. Wir trainieren zusammen. Wäre doch gelacht, wenn ich dich nicht in 24 Stunden in Form bekomme." Der junge Polizist ließ sich von der Leichtigkeit seines Freundes anstecken. "Na schön.", sagte er, nahm Shirt und kurze Hose und die beiden Männer verließen die Zelle, wo sie einen Philipp zurückliessen, der sich gerade selbst zu hassen begann...