VerBrandt
Wohnung von Semir und Andrea (an einem Freitag um 8:30 Uhr)
Semir und Andrea wohnten nun seit mehreren Wochen gemeinsam in Semirs Drei-Zimmer-Wohnung in der Kölner Innenstadt. Es war eng für die vierköpfige Familie, aber sie hatte sich mittlerweile darauf eingestellt, nicht mehr ein ganzes Haus zur Verfügung zu haben. Auch Ayda und Lilly kamen gut mit der neuen Situation und dem einen Kinderzimmer zurecht, obwohl es immer wieder mal zu geschwisterlichen Zankereien kam. Viel wichtiger war ihnen doch, wieder mit Mama und Papa zusammen zu leben, denn die Trennung war auch an ihnen nicht spurlos vorüber gegangen. Dass Ayda bereits zur Schule ging und Lilly noch den Kindergarten besuchte, sorgte mitunter für Streit, den Andrea zu schlichten vermochte, indem sie den Kinderschreibtisch kurzerhand ins Wohnzimmer verfrachtete und so zumindest für eine gewisse räumliche Trennung der Mädchen während Aydas Hausaufgaben sorgte.
Noch oft dachte Andrea an das durch ihre Mitschuld "verlorene" Haus, und sie ertappte sich mitunter dabei, in der Zeitung verstohlen die Angebote von Häusern zu überfliegen. Aber obwohl der Verkauf ihres Eigenheims ein schönes Plus auf ihre Konten gespült hatte, zögerte sie noch, ihren Wunsch laut auszusprechen. Sie wollte die Sache mit Semir nicht überstürzen und sich Zeit lassen. Und ihr gefiel auch die Innenstadtlage der jetzigen Wohnung, das musste sie zugeben. Zwar vermisste sie den Garten, aber der machte auch immer viel Arbeit und kostete Zeit, Zeit, die sie nun auf der Dachterrasse über der Innenstadt von Köln verbringen konnten und welche Andrea in den vergangenen Wochen, die sie nun hier wohnte, mit einigen größeren und kleineren Kübelpflanzen in ein kleines grünes Paradies verwandelt hatte.
Zu den Nachbarn hatte sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Die, zu denen sie näheren Kontakt hatten, freuten sich mit Semir darüber, dass seine Familie zu ihm zurückgekehrt war. Nadine, die 16-jährige Tochter von Herrn und Frau Vogt, die die Wohnung unter ihnen bewohnten, war ganz vernarrt in Ayda und Lilly und hatte schon öfters stundenweise auf die beiden Mädchen aufgepasst.
Aber einen Nachteil hatte die Wohnung, auf den Andrea immer wieder unangenehm aufmerksam wurde: Es gab nur einen Stellplatz in der Tiefgarage. Und da stand, wenn Andrea und Semir gemeinsam zuhause waren, der Dienstwagen, damit Semir schnell startklar war, sollte er zu einem Einsatz gerufen werden, und nicht erst zwei, drei Straßen weit zu seinem Auto laufen musste. Diese Extra-Bewegung blieb Andrea vorbehalten, die darüber natürlich nicht immer erfreut war, insbesondere dann, wenn sie mit zwei Kindern und dem Wocheneinkauf nach Hause kam. Sie standen zwar auf der Warteliste für einen weiteren Garagenplatz, aber das könnte noch dauern, hatte ihnen ihr Vermieter vor drei Wochen gerade mal wieder versichert. So war oft das Fahrrad oder der Bus das Transportmittel ihrer Wahl, und wenn Andrea schon mal einen Parkplatz in unmittelbarer Nähe besetzen konnte, war sie nicht bereit, diesen so schnell wieder herzugeben.
An Robert verschwendete Andrea kaum noch einen Gedanken. Nachdem sie ihre Sachen und die ihrer Töchter aus dem Haus des korrupten ehemaligen Bauamtsmitarbeiters geräumt hatte, war diese Episode für sie abgeschlossen. Sie konnte immer noch nicht ganz begreifen, dass sie mal so viel für diesen Kerl empfunden hatte, dass sie sogar bereit gewesen wäre, ihr Familienglück aufs Spiel zu setzen.
Mit Semir hatte Andrea sich ausgesprochen, sie hatten ein paar Tage Urlaub zu zweit verbracht und waren sich über ihre Situation und ihre Liebe zueinander klar geworden. Sie hatten beschlossen, aus den beiderseitigen Fehlern zu lernen. Beide hofften, es würde ihnen gelingen, nicht zuletzt für ihre Kinder, wieder eine Familie zu werden.
An diesem Freitag verließ Semir morgens etwa eine Stunde nach Andrea seine Wohnung und stieg die Treppe zur Tiefgarage hinab, als sein Vermieter ihn abpasste.
»Herr Gerkan? Haben Sie mal fünf Minuten?« Semir warf einen kurzen Blick auf seine Uhr und nickte dann. »Es geht um Ihre Wohnung.«