Ausschnitte
»Ihr habt WAS?«, fragte Semir ungläubig, »13.000 Bilder? Dann bring mir doch auch einen Stapel her, da kann ich euch doch helfen.« – »Hältst du das für so eine gute Idee?«, zweifelte Alex. »Ach komm, mir ist doch jetzt schon langweilig, und es sind doch keine bewegten Bilder.« Alex willigte schließlich ein, sie konnten jede Hilfe gebrauchen. Er rief in der PAST an und bat einen der dortigen Beamten, den mittlerweile eingetroffenen Stapel auf die Anwesenden aufzuteilen und ihm seinen und Semirs Anteil ins Krankenhaus zu bringen. Es war bereits 20:00 Uhr geworden, aber da Semir keinen Mitpatienten in seinem Zimmer hatte, sah man das mit den Besuchszeiten nicht ganz so genau.
Sie überflogen jede Seite der ausgedruckten Fotos, wanderten mit den Zeigefingern von Bild zu Bild, machten Kreuze, wenn sie etwas entdeckten, was sie sich gerne näher anschauen wollten. Genauso verfuhren Kim Krüger und mehrere Streifenbeamte in der PAST. Die Seiten mit den Kreuzen legten sie auf die Seite, die würden sie später Hartmut zurückgeben, damit dieser die Filme zusammenzuschneiden konnte. Sie kamen gut voran und gegen 22:00 verabschiedete sich Alex von Semir und fuhr zurück in die PAST, um die dortigen Ergebnisse gemeinsam mit ihren eigenen in die KTU zu bringen. Dem Kriminaltechniker stand eine lange Nachtschicht bevor, denn es waren nicht wenige Filmsequenzen, die den Polizeibeamten verdächtig vorkamen.
Alex dagegen machte Feierabend und fuhr zu seiner Freundin, von der er sich am Morgen des Vortags verabschiedet hatte, kein ganzer Tag war vergangen, und doch hatte sich in der Zeit das Leben von Sascha und Claudia maßgeblich verändert. War es wirklich erst vierundzwanzig Stunden her, dass sie seinen Geburtstag vergnügt gefeiert hatten?
Insgesamt war der Transporter in den letzten vier Wochen neunzehn Mal auf dem Parkplatz hinter Saschas Werkstatt aufgetaucht und hatte dort jeweils zwischen zehn Minuten und drei Stunden gestanden, die Verweildauer richtete sich nach keinem System, sondern war rein zufällig. Aber in jedem Fall waren andere Fahrzeuge zu dem Transporter gefahren, manchmal sah man auch den Fahrer aus dem Transporter steigen. Erst vor ein paar Tagen war auch eine Gruppe Motorräder von der Kamera erfasst worden.
Am Sonntagmorgen um 7:00 Uhr legte Hartmut Alex das Ergebnis auf den leeren Schreibtisch und machte endlich Feierabend. Dort fand sie der Hauptkommissar, als er um halb neun sein Büro betrat. Hartmut hatte ganze Arbeit geleistet, jede Szene war unterlegt mit Datum und Uhrzeit und zeigte die Zeit vom Eintreffen des Transporters bis zum Wegfahren desselben. Er nahm sich vor, dem Kriminaltechniker später für seinen Wochenendeinsatz zu danken.
Von Neugier getrieben begann Alex bei den letzten Tagen, als die Motorräder sich dem Transporter näherten, und fühlte sich in seiner Ahnung bestätigt: Ein Motorrad hatte die von Claudia beschriebene auffällige Lackierung auf der Verkleidung. Der Transporter stand auf dem vorletzten Stellplatz des Parkplatzes. Drei Motorräder erschienen, hielten an, und – jetzt stutzte Alex erneut – der Fahrer, der von dem Bike stieg, trug einen blau-weißen Helm und ging zum Transporter. Deutlich auf der Aufzeichnung zu sehen war, dass er vom Fahrer des Transporters einen Briefumschlag entgegennahm. Vom Fahrer konnte Alex ein recht gutes Standbild ausdrucken, welches sicher für eine Fahndung ausreichend war. Der Motorradfahrer nahm seinen Helm leider nicht ab. Was war in dem Umschlag? Geld? Und wenn ja, wofür? Wurde Alex hier Zeuge der Beauftragung der Schläger oder ihrer Bezahlung?
Alex vergrößerte ein Standbild, auf dem sogar das Kennzeichen zu erkennen war: D-AE 53. Der dazu gehörende Halter war schnell ermittelt, es handelte sich um einen Andreas Eberhain, wohnhaft in Düsseldorf. Leider ergab die Abfrage im Polizeicomputer auch, dass dieser die Maschine vor acht Wochen als gestohlen gemeldet hatte. Der Halter war auch aktenkundig, allerdings lagen seine Taten - es handelte sich um Sachbeschädigung, Ruhestörung, Widerstands gegen die Staatsgewalt - über zehn Jahre zurück, seitdem galt er als unbescholtener Bürger, der bei Ford als Schichtleiter arbeitete.
Jetzt startete Alex die gesamte Aufnahme von vorne, beobachtete, wie unterschiedliche Fahrzeuge zu dem geparkten Transporter fuhren, mit dessen Fahrer etwas verhandelten und mit einer oder auch mal mehreren Personen den Parkplatz wieder verließen. Was lief da ab? Handelte es sich um eine Form von Leiharbeit, und die Arbeitskräfte wurden hier von ihren Arbeitsgebern in Empfang genommen oder wurden sie hier Zeuge eines Menschenhandels? Sie hatten Sascha Unrecht getan, so viel war sicher. Er sah nicht zu viele Krimis, hier lief einer direkt vor seinen Augen bzw. seiner Kamera ab.
Und bei den Aufnahmen vom letzten Dienstag stockte auch ihm der Atem. Er sah Sascha selbst. Was hatte er vor? Der wollte doch nicht etwa …doch! Der Werkstattbesitzer ging zielstrebig auf den Transporter zu und unterhielt sich mit dessen Fahrer. Das sah nicht nach einem harmlosen Plausch aus. Stellte er den Fahrer zur Rede? Fragte, was dieser dort trieb? Die Handzeichen konnten durchaus in diese Richtung gedeutet werden. Er wies den Fahrer auf den vorhandenen, großen und öffentlichen Parkplatz hin. Oh Sascha, hättest du dich da bloß herausgehalten. Aber er griff sich auch selbst an den Kopf. Hatten er und Semir ihm denn Glauben geschenkt am Freitag? Sind sie seinem Verdacht nachgegangen? Wären sie überhaupt seinem Verdacht nachgegangen, wenn Sascha nicht am selben Tag überfallen worden wäre? Nein. Sie hatten es als harmlos hingestellt, den Zettel mit dem Kennzeichen eingesteckt. Nur wenige Tage nach dem Gespräch mit dem Fahrer des Transporters lag Sascha mit lebensbedrohlichen Verletzungen in der Uni-Klinik, nachdem die Schläger allem Anschein nach von dem Fahrer des Transporters dazu beauftragt worden waren.
Alex schüttelte den Kopf und widmete sich der Liste aller festgestellten Kennzeichen und den Ausdrucken von Standbildern der beteiligten Personen. Versehen mit einer kleinen Notiz legte er den Zettel Susanne auf den Schreibtisch. Die Sekretärin der PAST würde sich am Montag an die Arbeit machen, die Halter der Fahrzeuge festzustellen und die Gesichter durch die Gesichtserkennung laufen zu lassen, vielleicht war ja ein Kunde von ihnen darunter.
Dann verließ Alex die PAST, um Andreas Eberhain zu besuchen, den Halter des an dem Überfall beteiligten Motorrades mit der auffälligen Lackierung. Sonntagnachmittag war ein guter Zeitpunkt, einen berufstätigen Mann zuhause anzutreffen. Und anschließend würde Alex endlich mal wieder etwas Zeit mit Lena verbringen, um selbst mal auf andere Gedanken zu kommen.