Semir's Haus - 16:45 Uhr
Andrea sah nicht gut aus. Sie war bleich, sie hatte Tränenspuren im Gesicht und saß nun in ihrem Wohnzimmer auf der Couch. Lilly hatte sie nach oben zum Spielen geschickt, sie wollte, dass Aydas Schwester so wenig wie möglich von der Tragödie mitbekam. In ihrer Hand hielt sie ein Taschentuch, und sie war so froh, dass Semir endlich nach Hause kam. Doch als sie die schlechten Neuigkeiten, den Fund von Aydas Haarspange am Spielplatz erfuhr, konnte sie ihre Emotionen, auch vor Ben, nur sehr schwer unterdrücken. Mehrere Minuten lag sie in Semirs Armen, der nun mit aller Macht versuchte, souverän und ruhig zu bleiben, um seiner Frau einen Fels in der Brandung zu bieten, an dem sie sich in dieser schweren Situation festhalten konnte. Äusserlich gelang ihm dies, und so redete er Andrea gut zu. "Bleib ganz ruhig, mein Schatz. Die werden anrufen, die bekommen das Geld und Ayda kommt gesund wieder nach Hause." Seine Frau hatte von dem Fall der Komakinder nichts mitbekommen, sie war bei dem Gespräch mit dem LKA nicht dabei, und so verschwieg der Polizist, dass bisher jedes Kind im Koma gefunden wurde, und nur die wieder aufwachten, bei denen das Geld pünktlich und sicher übergeben wurde. "Aber Semir... wer weiß was die verlangen von uns? Du weißt doch selbst, was bei uns los ist, seit wir das Haus gekauft haben. Oh Gott, meine arme Ayda..." Ben trat einen Schritt heran und meinte: "Andrea, mach dir doch darüber jetzt erst mal gar keine Gedanken. Das bekommen wir schon hin. Wichtig ist, dass wir Ayda gesund wieder bekommen." Andrea blickte den jungen Polizisten dankbar an. Ben stammte aus gutem und reichem Hause, sein Vater war erfolgreicher Unternehmer und Multi-Millionär. Der Polizist selbst hielt zwar nicht besonders viel vom luxuriösem Leben, aber für seinen besten Freund in diesesr Situation würde er schon Geld aufbringen, um Aydas Leben zu bezahlen.
"Mamaaa...!", ertönte Lillys Stimme von oben, und Semirs Frau wischte sich, so gut es geht, die Tränen aus den Augen, bevor sie nach ihrer Tochter sah.Ben nutzte die Situation, als Andrea aus dem Raum war, und zog Semir bei Seite. "Wir wissen beide, was passiert, wenn wir uns an die Anweisungen halten.", sagte er leise mit gedämpfter Stimme. Semir nickte düster, er hatte die gleichen Gedanken ebenfalls schon. "Ayda wird dann im Koma liegen... und wir können nur hoffen, dass sie wieder aufwacht. Aber was willst du stattdessen tun?" "Wir müssen die Geldübergabe überwachen. Ich werde zufällig dort sein, wahrscheinlich wieder am Domplatz, wo die Übergabe stattfindet. Dann werde ich den Typen verfolgen, und wir nehmen ihn fest." Sein erfahrener Partner runzelte die Stirn: "Weißt du denn, was die mit Ayda machen, wenn ihr Bote nicht mehr zurückkommt? Die bringen sie um!", zischte er und sah sofort in Richtung der Treppe, um zu sehen wann Andrea wieder die Treppen herunter kam. "Wenn wir ihn aber laufen lassen, haben wir keinerlei Chance sie zu finden. Wir wissen doch rein gar nichts, oder willst du dich auf das LKA verlassen?" Semir sah sich in einer schrecklichen Zwickmühle. Entweder, sie taten nichts und mussten auf die Entführer hoffen, die Ayda nur in einem normalen Koma mit der Chance auf ein schadenfreies Aufwachen zurückbrachten... oder sie riskierten ihr Leben und ihre Gesundheit, um die Entführer auffliegen zu lassen.
"Wenn wir nichts tun... dann legst du ihr Schicksal in ihre Hände. Wenn wir aber einen der Entführer haben..." Bens Stimme wurde ein bisschen leiser: "Dann können wir ihn vielleicht gegen Ayda austauschen. Gegen eine Ayda, die wach ist und gesund ist." Der erfahrene Polizist schluckte bei dem kühnen Plan seines jungen Kollegen... aber er fand Gefallen daran, so schwer es ihm fiel Ayda zu gefährden. Taten sie aber nichts, würden sie dem kleinen Mädchen ebenfalls einem gesundheitlichen Risiko aussetzen. "Wenn es mehrere sind, wird der Anführer des Ganzen sicher nicht erfreut sein, wenn sein Mitarbeiter bei uns plaudert.", vermutete der dreifache Vater, und diesmal nickte sein bester Freund. "Du verstehst meine Gedanken."
Altes Krankenhaus - 17:00 Uhr
"Ein was???", brüllte Reuter fassungslos durch den großen Saal des alten Krankenhauses, so dass die verbliebenden alten Fensterscheiben zitterten. Zange und Cablonsky wollten am liebsten im schmutzigen Boden mit den gerissenen Fliesen versinken, als sie gerade die Infos ihres Hackers überbrachten. "Ihr entführt nicht nur das falsche Kind... ihr entführt auch noch ausgerechnet das Kind eines Polizisten???" "Mensch Reuter... das ist ein echter Zufall. Da könntest du Lotto spielen, und die Möglichkeit zu gewinnen wäre...", wagte Zange als erstes seine Stimme zu erheben, und wurde von Reuter direkt unterbrochen: "Ihr wärt auch noch zum Lotto spielen zu blöd. Mein Gott...", stöhnte er und fuhr sich mit den Fingern durch die Augen. Reuter fühlte sich den beiden Profi-Kidnappern geistig haushoch überlegen, weshalb er sich erlaubte, so mit ihnen umzugehen. Doch während Zange eher der zahme Handlanger war, war Cablonsky ein skrupelloser und mitunter auch brutaler Verbrecher, der sich so selten gängeln ließ. "Nun halt mal die Luft an, Mediziner.", knurrte er. "Die Beschreibung war mehr als vage, und dass es ausgerechnet die Tochter eines Bullen ist, stand auch nicht auf ihrer Stirn geschrieben." Vor Cablonsky hatte Reuter nicht unbedingt Angst, auch keinen Respekt... aber er würde sich nicht mit ihm anlegen. Der Mann war Mediziner, war in seinem Wesen auch kriminell, aber nicht brutal, so dass er sich körperlich gegen Cablonsky wehren könnte. "Also: Hier sind die Infos von unserm IT-Spezi über den Bullen. Mach was draus, oder sag uns Bescheid, was wir mit der Göre anfangen sollen." Missmutig knallte er ihm einen ganzen DIN-A4-Hefter auf den Tisch, so dass die komplizierten Glaskolben klirrten und erzitterten. Reuter rückte seine Brille zurecht und schlug den Ordner auf. "Na schön...", meinte er mit beruhigter und souveräner Stimme. "Wir werfen kein Geld zum Fenster raus. Wenn der Bulle zahlen kann, soll er zahlen. Und danach verschwinden wir von hier."
Zange und Cablonsky schauten etwas erstaunt auf. "Wir... verschwinden?", fragte Zange zuerst ein wenig missverständlich, und Reuter drehte sich von den Akten wieder weg. "Ja. Wir brechen ab, verstehst du? Wir packen zusammen und setzen uns ins Ausland ab, in ein Land, das kein Auslieferungsabkommen mit Deutschland hat. Dort werde ich meine Forschungen zu Ende führen, denn eventuell reicht uns das Geld dann. Wenn nicht, müssen wir warten." "Warum?", fragte nun Cablonsky und Reuter verdrehte ein wenig die Augen. "Wisst ihr, wozu Väter in der Lage sind?", fragte er eine rhetorische Frage und blickte in zwei kinderlose Gesichter. "Nein, das wisst ihr nicht. Aber ich weiß es. Väter würden töten für ihre Kinder. Ärzte, Geschäftsmänner, Ingenieure... können das normalerweise nicht. Aber ein Bulle..." Er unterbrach den Satz für einen Moment und sah die beiden Männer ausdruckslos an. "Der wird uns jagen, bis er uns hat. Und das wird er nicht können, wenn wir nicht mehr da sind." Das leuchtete nun auch den beiden Kidnappern ein und sie nickten. Reuter las alles, was der IT-Spezialist über Semir rausbekommen hatte. Adresse, Bilder in Zeitungen, dazu seine Dienststelle und alle Kollegen, die dort arbeiteten. Ein Online-Bericht über den Geburtstag der Dienststelle. "So können wir sichergehen, dass bei der Übergabe niemand dabei ist, der von den Bullen kommt. Ausserdem weiß der Bulle, wozu wir fähig sind, wenn nicht alles so läuft, wie wir das wollen.", sagte Reuter zufrieden. Er warf den beiden das Bild hin. "Prägt euch die Gesichter ein. Wenn ihr einen davon irgendwo bei der Übergabe zu Gesicht bekommt, brecht ihr das ganze ab." Die beiden Kidnapper nickten ihrem Boss zu. "Und denkt dran, was wir besprochen haben, wenn einer von euch gefasst wird." Wieder nickten die beiden. Reuter hatte ihnen eingehämmert, wie sie sich dann zu verhalten hätten, was sie verraten sollten und was nicht.
Er war zufrieden. "Na schön. Dann ruft ihr unseren Freund und Helfer gleich an. Übergabe morgen früh, 100.000 Euro. Das sollte für einen Beamten zu schaffen sein." Er klappte die Notizen zu, genauso wie seine Aufzeichnungen. Wenn sie die Tage nun hier weg mussten, musste er noch einige Vorbereitungen treffen.
"Boss?", fragte Zange noch, bevor die beiden Kidnapper aus dem Raum traten. "Was denn noch?" "Was machen wir mit den drei Kindern in dem Haus?" Reuter dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. "Dazu haben wir keine Zeit mehr. Nach der Übergabe morgen müssen wir verschwinden. Wir lassen den Bullen seine Tochter finden, und das Haus wird sich..." er lächelte kurz... "von selbst erledigen. Da habt ihr hoffentlich alles vorbereitet?" Die beiden bestätigten dies, und verließen endgültig den alten Saal.
Draussen knurrte Cablonsky: "Der Sack bildet sich echt ein, mit mir so reden zu können. Na warte... morgen werden wir ja sehen, wie der Hase läuft."