Kevin's Wohnung - 23:00 Uhr
Jennys Herz schlug bis zur Kehle, sie hatte das Gefühl, in Sekundenschnelle Fieberschübe zu bekommen. Obwohl sie nicht wusste, was passiert war... obwohl sie nur ein Röhrchen mit Pillen, Kevins geladene Dienstwaffe und Kevin selbst in einem scheinbar etwas weggetretenen Zustand "fand", so spielten sich in ihrem Inneren ungeheuerliche Szenen ab. Kevin im Drogenrausch, Kevin, der nicht mehr wusste, wo er genau war. Kevin, der sich die Waffe gegen die Schläfe hielt, gegen den Hals hielt und wahrscheinlich nur von inneren Kräften davon abgehalten wurde, die entsicherte Waffe abzudrücken. Am liebsten hätte Jenny sich bei den Gedanken übergeben, sie stand mit tropfendem Gesicht am Waschbecken und starrte in den Spiegel.
Was sollte sie tun? Sich Hilfe holen? Und damit Kevins Polizeikarriere endgültig beenden? Wäre das besser für ihn, oder würde es alles noch schlimmer machen? "Bulle sein ist das einzige, was ich kann.", hatte Kevin gerade vor 5 Minuten noch zu Jenny gesagt. Wussten Semir und Ben davon? Sollte sie jetzt nach draussen, und ihn darauf ansprechen? Oder ruhig sein, cool bleiben und ihn ab jetzt beobachten, nicht mehr aus den Augen lassen? In ihrem Kopf drehte sich alles, sie starrte immer noch in den Spiegel und hin und wieder auf die feucht-glänzende Waffe, die der junge Polizist offenbar mit unter die Dusche genommen hatte. Jetzt lag sie auf dem Waschbecken und ließ sich von der, leicht zitternden Jenny, beobachten. Langsam musste sie wieder raus, ansonsten würde sich Kevin draussen wohl fragen, was sie so lange machte. Sie trocknete ihr glänzendes Gesicht und fasste einen Entschluss, als sie das Röhrchen und die Waffe packte.
Kevin saß immer noch auf der Couch, und schien langsam wieder klarer zu sehen. Doch Jennys ernster Gesichtsausdruck gefiel ihm nicht, sie hatte etwas in der linken Hand umklammert, die rechte hatte sie hinter dem Rücken. "Was hast du heute abend gemacht, nachdem du heimgekommen bist?", fragte sie mit seltsam tonloser Stimme. Ihr fiel es schwer, Kevin so direkt darauf anzusprechen, sie hatte Angst vor seiner Reaktion. Würde er ihr die Tür zu seinem Innersten wieder zuschlagen? Würde er sich abkapseln, einigeln? Sie empfand dies als eine echte Prüfung für ihre junge Beziehung, denn sollte er es abstreiten, oder nicht wissen, wo das Zeug herkomme... es wäre ein großer Vertrauensbruch. "Wieso?", fragte Kevin unsicher, denn ihm fehlte ein wenig aus den letzten Stunden, seit er im Auto die Pillen eingeworfen hatte. Dann diese Horrorvision im Badezimmerspiegel, als er sich nicht mehr kontrollieren konnte und auf den Boden gefallen war. Eine Achterbahnfahrt, Horrorbilder, seine Schwester blutüberströmt mit verbrannten Haaren, die vor ihm im Bad stand und laut "Mörder" schrie... irgendwann war er dann wieder bei sich, sitzend unter der Dusche. Etwas lag bei ihm, doch darauf achtete er gar nicht, als es klingelte und er sich schnell anzog.
Jennys Hand zitterte, als sie ihm das Pillendöschen auf den Schoß warf, und die Waffe langsam auf den Wohnzimmertisch legte. "Das lag in deiner Dusche..." Ihre Stimme klang dabei traurig, ein wenig ängstlich, aber doch stark, trotz dass sie mit den Tränen kämpfte. Der junge Mann sah auf das Pillendöschen, aus dem mehrere fehlten, er umfasste es, umklammerte es mit seiner Hand. Dann nahm er die Waffe zur Hand... er konnte sich erinnern, dass er öfters die Waffe damals, in einer sehr depressiven Phase in die Dusche mitgenommen hatte, und sich vorstellte, einfach abzudrücken. Damals hatte er die Kugeln aus dem Magazin entfernt, weil er zwischen Fantasie und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden konnte. Sein Herzschlag setzte aus, als er jetzt sah, dass die Waffe geladen und entsichert war... und er sich nicht mehr erinnern konnte, was er getan hatte.
"Jenny... ich...", fing er stotternd an, doch die junge Polizistin fiel ihm ins Wort. "Was ist los mit dir? Du nimmst Drogen, ich finde deine geladenen Waffe in der Dusche... was hast du gemacht?", fragte sie und Kevin konnte hören wie ihre Stimme zitterte. Er sah zu der jungen Frau, er nahm zweimal Luft um eine Antwort zu geben, doch seine Stimme kam erst beim dritten Mal, schwach und müde. "Ich weiß es nicht." Seine Partnerin stand schräg von ihm, mit offenem Mund und fragenden Augen. "Du weißt es nicht?", fragte sie diesmal leiser und fassungslos, als der Mann vor ihr, den sie liebte, den Kopf schüttelte. "Ich hab die Pillen im Wagen genommen. Danach bin ich hier rauf." Er erzählte nichts davon, was er im Spiegel gesehen hatte, was er vor sich hat stehen sehen. "Dann weiß ich nichts mehr... ich bin wieder unter der Dusche zu mir gekommen, als du geklingelt hast." Mit offenem Mund atmete Jenny hörbar aus, als könne sie nicht fassen, was Kevin ihr gerade erzählte. Wie zum Spannungsabbau ging sie einige Schritte durch die Wohnung, die Hand vor den Mund und sich überlegend, was sie als nächstes sagen sollte. "Wie lange nimmst du schon Drogen? Seit Janine tot ist?" Es dauerte kurz, bis sie die Stimme des Mannes auf der Couch wieder vernahm. "Seit dem wieder... mal mehr, mal weniger.", sagte er, ohne seine Freundin anzublicken.
Jenny war wie vor den Kopf gestoßen. Ihr Freund, in den sie sich vor einigen Wochen verliebt hatte, der ein Polizist mit krimineller Vergangenheit war, war abhängig... UND hatte dazu noch einige psychische Probleme. War ihre Liebe wirklich so stark, das zu überleben? Wollte sie nicht einen starken Freund, der die Schulter für sie war, so wie es Kevin damals war, als sie vergewaltigt wurde? Der Kevin, der er war, als seine Schwester noch gelebt hatte und zu ihrem unerschütterlichen großen Bruder aufgeblickt hatte? Wo war er nur hin?
Langsam kam Jenny zurück zur Couch, und setzte sich zu Kevin. Der sagte leise: "Semir und Ben wissen, dass ich bis vor einem dreiviertel Jahr, bis Peter Becker sich umgebracht hat, noch was genommen habe. Seitdem war ich so gut wie weg. Ich dachte, es wäre vorbei... aber es ist nicht vorbei." Jenny hing an seinen Lippen, ähnliches hatte sie eben auch schon gehört. Dass Janine ihn quäle, dass der Dämon niemals verschwinden würde. Die Pillen halfen ihm normalerweise, doch heute warfen sie ihn völlig aus der Bahn. Seine Beine zitterten, seine Hände ebenfalls, es fühlte sich an wie Entzug, und doch anders. Er spürte Jennys Hand auf seiner Schulter, er spürte ihren Duft in der Nase. "Vielleicht können wir dir helfen. Wenn du dich in professionelle Hilfe...", sagte sie zaghaft, doch wurde von Kevin sofort unterbrochen. "Wenn ich zu einem Psychater gehe, dann kann ich meinen Job an den Nagel hängen. Der ist das Einzige, was mich bisher überleben hat lassen. Und du jetzt..." "Kevin, du musst von den Drogen wegkommen.", sagte Jenny bestimmter und lauter. "Ich will dir helfen, aber du musst dir helfen lassen. Alleine schaffst du das nicht, du machst dich daran kaputt!" Dabei fasste sie den jungen Mann an den Schultern und drehte ihn zu sich, dass er ihr in die Augen blicken musste, und sie erschrak von dem gräulichen Schimmer in seinen sonst strahlend hellblauen Augen. Und sie erschrak über seine panische Stimme, und wie sich nun seinerseits seine Hände um ihre Schultern legten und zupacken. "Ich bin bereits kaputt!! Es ist nicht's mehr von dem Kevin übrig, den ich vorgebe zu sein. Den Kevin, den du jetzt siehst, das bin ich!!", rief er laut. Jenny war geschockt, sie stand sprunghaft auf und wich zwei Schritte zurück. Die Situation überforderte sie, sie erkannte den Mann nicht mehr wieder, der schreckhaft die Hände zurück zog und offenbar über sich selbst erschrak. Er war kurz davor die Kontrolle zu verlieren, etwas was er nie sein wollte. Er war nicht mehr der starke unerschütterliche Kevin, dem alles gelang, und dem nichts zu schwer war... zumindest nicht, wenn er sein wahres Inneres zeigte, wie bei Jenny.
Seim Atem polterte, und die beiden jungen Menschen sahen sich an... Jenny stand neben dem Sofa, und war sich unschlüssig, was sie tun sollte... und verwirrt war sie auch. Sie konnte Kevin unmöglich jetzt alleine lassen, als dieser mit zitternden Lippen aufblickte und flüsterte: "Bitte rette mich... Rette mich."