Semir war endlich an der angegebenen Hangbrücke angekommen. Er fuhr darüber und hielt dabei auch die Augen offen, aber er konnte keinerlei Auffälligkeiten entdecken. An der nächsten Ausfahrt fuhr er ab und kontrollierte die Gegenrichtung, aber auch da konnte er nichts sehen was ihm komisch vorkam. Er war schon drauf und dran wieder zurück zu fahren, da fiel ihm ein, dass er irgendwie auch noch die Unterkonstruktion der Brücke anschauen sollte. Also verließ er an der nächsten Ausfahrt erneut die Autobahn und versuchte zunächst durch ein Wohngebiet des Kölner Vororts und dann über freies Feld zu den Brückenpfeilern zu kommen. Allerdings fragte er sich die ganze Zeit, warum er das eigentlich machte-da waren eben vermutlich ein paar Brückenpfeiler aus Beton und darüber die Stahlbrücke. Was erwartete er denn zu entdecken? Obwohl-vielleicht fand er dort ja doch irgendeinen Hinweis, falls Ben am Freitag dort gewesen war, der ihm verriet wo er weiter suchen sollte.
Der zunächst breite asphaltierte Weg verjüngte sich und wurde zur Schotterpiste, die allerdings gut befestigt war. Semir war durchaus die Sprühanlage von der Fahrbahn aus aufgefallen, es standen oben auch überall Schilder: „Stahlbrücke-erhöhte Glatteisgefahr!“ was natürlich jetzt im Juli keine Rolle spielte, aber irgendwo mussten die Vorratstanks der Enteisungsflüssigkeit ja auch sein und betankt werden können. Ah-da sah er das Gebäude, das sozusagen regelrecht mit dem Brückenpfeiler verschmolzen, vielmehr ein Teil davon war, schon aus der Ferne. Und was er noch sah-daneben stand-von der Straße aus zwar nicht zu sehen, aber ansonsten nicht versteckt- ein Geländewagen.
In diesem Augenblick läutete sein Telefon und als er ran ging war Isolde Rasp dran. „Herr Gerkhan-ich bin inzwischen in der Firma und habe mich umgesehen.“ redete sie los. Die Chefsekretärin hatte wie sonst nur der Firmenchef und die Wachfirma einen Generalschlüssel, der ihr Zutritt zu allen Räumen gewährte, wie sie ihm erklärt hatte. „Friedrich Mittler´s Firmenwagen, den er auch privat nutzen darf, steht am Parkplatz neben dem Porsche ihres Kollegen, sein Handy liegt in seinem Büro in der Ladestation, aber ein dunkelblauer Dienstgeländewagen ohne Firmenaufschrift fehlt!“ teilte sie ihm aufgeregt mit. „Und die Abhöranlage habe ich mir auch angesehen-die ist ja im Archiv, wo seit ein paar Wochen ein gewisser Herr Brummer, ein Rentner der seine Altersbezüge bei uns aufbessert, arbeitet, vielleicht sollten sie den auch einmal befragen-ich habe ihnen die Adresse herausgesucht!“ sagte sie und Semir hielt kurz an und notierte die auf einen Zettel, den er im Handschuhfach hatte. Dann bedankte er sich, legte auf und näherte sich langsam dem Vorratsgebäude.
Auf den ersten Blick sah das eigentlich ganz normal aus, aber als er direkt davor stand und aus dem BMW ausstieg, konnte er plötzlich erkennen, dass da überall Risse und Sprünge im Mauerwerk waren. Als sein Blick nach oben ging, stockte ihm beinahe der Atem. Um Himmels Willen-ein riesiger Riss zog sich hinauf durch den Brückenpfeiler, er hatte zwar keine Ahnung von Statik, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass da keine Einsturzgefahr bestand! Gerade wollte er schon sein Handy zücken, um seine Kollegen zu verständigen, damit die die Brücke sperrten, da hörte er plötzlich einen schwachen Hilferuf aus dem Inneren des Gebäudes, das von einer stabilen Metalltür verschlossen war. Wie elektrisiert steckte er sein Handy in die Tasche und rüttelte an der Tür. Da-da war es wieder und es war eindeutig Ben´s Stimme, die da gedämpft und schwach aus dem Inneren des Brückenpfeilers drang. Gott sei Dank, er lebte!
Vor Erleichterung schossen Semir beinahe die Tränen in die Augen und er rief laut: „Ben-ich bin da und hole dich hier raus!“ und als nun als Antwort nur ein schwaches Schluchzen aus dem Inneren kam, das aber weiter entfernt klang, also war Ben nicht direkt hinter der Tür, zückte Semir kurzerhand seine Waffe und schoss das Schloss auf. Er hatte Glück von keinem Querschläger getroffen zu werden und wenn das die Chefin oder irgendeiner seiner Kollegen, die eine Ahnung von Waffen hatten, gesehen hätten, hätten die ihn für verrückt erklärt und ihn geheißen zu warten, bis die Feuerwehr kam und mit technischem Gerät die Tür öffnete, aber dafür hatte er keine Zeit-die Verzweiflung und Erschöpfung in Ben´s Stimme sprach für sich-er musste jetzt zu ihm! Endlich sprang die Tür auf und als Semir nun ins Halbdunkel trat, meinte er seinen Augen nicht zu trauen vom Anblick, der sich ihm bot.
Brummer war inzwischen in die Nähe des Anwesens von Stumpf senior gefahren. Das lag in einer ruhigen Wohngegend Kölns, wo der Reichtum sichtlich zuhause war, denn die pompösen Gründerzeitvillen waren von riesigen Gärten umgeben. Das Stumpf´sche Anwesen war von einer verklinkerten Mauer gesäumt und als Brummer langsam daran vorbeifuhr, konnte er vor der Haustür ein Polizeifahrzeug sehen, in dem zwei uniformierte Beamte bei geöffneter Wagentür im Schatten eines großen Baumes saßen, Kaffee tranken und anscheinend den Eingang bewachten. So kam er schon mal nicht rein, aber ihm würde schon etwas einfallen!