Es war inzwischen nachts um drei geworden. Sarah war zu ihren Kollegen auf die Intensiv gegangen, bei denen auch Ben schon als Zugang avisiert war. Die hatten sie liebevoll begrüßt, ihr erst mal Tee und Süßigkeiten angeboten und dann in das Zimmer in das Ben einziehen würde, einfach ein zweites Bett gestellt. „So Sarah-du legst dich da jetzt rein und wenn dein Mann fertig ist, wachst du ja automatisch auf, wenn wir ihn zu dir bringen-aber jetzt schlaf erst mal. Machen kannst du gerade überhaupt nichts, wir beobachten am PC immer die geplante Operationszeit und wenn wir sonst irgendwelche Neuigkeiten haben, wirst du natürlich sofort geweckt.“ ordnete ihr älterer Kollege, der gerade Nachtdienst hatte an und Sarah fügte sich. Sie bekam Waschzeug und Intensivklamotten als Behelfsschlafanzug und nach einer Katzenwäsche legte sie sich ins Bett und obwohl sie es nicht für möglich gehalten hätte, schlief sie irgendwann doch ein. Die vertrauten Geräusche auf der Intensivstation, die andere Leute verrückt machen würden, hatten auf sie eher eine beruhigende Wirkung, denn die bedeuteten Sicherheit und Kontrolle und so schlief sie zu ihrer eigenen Überraschung tief und fest, aber Wunder war das keines, denn sie hatte die beiden vergangenen Nächte vor Kummer und Sorgen nicht erholsam schlafen können.
Ben kam langsam zu sich. Allerdings war das eine der Nebenwirkungen des Ketamins, das er ja noch in sich gehabt hatte, bevor er sozusagen notfallmäßig in Todesangst in Narkose gelegt worden war-dieselben Gefühle, die er beim Einschlafen gehabt hatte, suchten ihn jetzt beim Erwachen wieder heim. Er atmete schnell am Narkosegerät selbst, aber anstatt danach langsam wach zu werden, riss er die Augen auf, blickte voller Panik um sich und versuchte sich aufzurichten. Der Narkosearzt dankte Gott, dass der Springer Ben vorschriftsmäßig nach dem Umdrehen auf den Rücken mit einem breiten gepolsterten Gurt über den Oberschenkeln und an beiden Handgelenken mittels einer Handfixierung festgemacht hatte, denn sonst wäre er ihnen vermutlich in seiner Panik vom OP-Tisch gefallen. Der Arzt versuchte ihn verbal zu beruhigen, während er hektisch den Tubus entblockte und heraus zog, was Ben fürchterlich zum Husten brachte und beinahe einen Erstickungsanfall provozierte. „Herr Jäger-keine Angst, die Operation ist vorbei und der Fuß ist auch noch dran, sie kriegen genügend Luft, bleiben sie einfach ruhig!“ sagte er, aber Ben war so außer sich und wusste überhaupt nicht was los war, dass das ganze Zureden gerade überhaupt nichts brachte. Erst fuhr man den Operationstisch noch in halb sitzende Stellung, um die Atemnot zu lindern und schob ihm eine Sonde in die Nase, um ihm Sauerstoff zuzuführen, aber Ben wehrte sich mit Kopfschütteln dagegen, kannte sich überhaupt nicht aus und wollte nur weg. Er kam aber nicht davon und wieder suchte ihn das Trauma des Eingeklemmtseins und der absoluten Hilflosigkeit heim. Um ihn herum waren zwar lauter grün vermummte Menschen von denen er nur die Augen sehen konnten, aber er konnte in seiner Panik nicht verstehen, dass die ihm nur helfen wollten, sondern wehrte sich vehement gegen jede Berührung. Dann stellte er fest, dass er seinen rechten Arm ab dem Ellbogen nicht spürte und eine tiefe Verzweiflung überkam ihn. Man hatte ihn abgeschnitten, er würde Zeit seines Lebens ohne Arm herumlaufen, seine Kinder nicht tragen können, nie mehr Gitarre oder Klavier spielen, es wurde alles zu viel und außerdem hatte er am ganzen Körper fürchterliche Schmerzen.
Der Narkosearzt hatte von der Anästhesieschwester zunächst einmal eine Ampulle Piritramid verlangt, die die auch sofort aus dem Betäubungsmittelschrank holte und auf Ben´s Namen austrug. Nachdem er da drei Milligramm erhalten hatte, wurden zwar Ben´s Schmerzen besser, aber er kannte sich trotzdem nicht aus und kämpfte wie ein Berserker gegen seine Fesseln. „Bitte noch eine Ampulle Diazemuls!“ ordnete der Arzt nun an und als er den ersten Milliliter der milchigen Flüssigkeit erhalten hatte, wurden Ben´s Abwehrbewegungen schwächer, der Blutdruck, der sprunghaft angestiegen war, so dass man vorübergehend sogar das Noradrenalin abgeschaltet hatte, damit er keinen Schlaganfall bekam, sank wieder und langsam beruhigte er sich und kämpfte gegen den Schlaf. Er bemerkte fast nicht wie man den Tisch wieder flach stellte, denn sonst konnte man den nicht schleusen, ihn ein wenig zudeckte und dann zügig in die Patientenschleuse fuhr.
Die Intensivstation war verständigt und in der Schleuse warteten bereits der diensthabende Intensivarzt und der Pfleger, der Ben in der Nacht betreuen würde mit einem Monitor und einer Sauerstoffflasche. Man hatte Sarah noch nichts gesagt, sondern ihr noch die letzten Minuten Schlaf gegönnt, denn so viel war klar-wenn ihr Mann aus dem OP zurück war, würde die keine Sekunde mehr schlafen, sondern ihm nicht mehr von der Seite weichen.
„Also-wie bereits avisiert haben wir hier Herrn Jäger, den ihr von seinen vorherigen Aufenthalten ja schon kennt. Er hat ein klassisches Polytrauma erlitten, also mehrere lebensbedrohliche Verletzungen mit Kreislaufversagen, Blutverlust und Organbeteiligung, wovon jedes für sich schon zum Tode führen könnte-deshalb jetzt auch die Intensivüberwachung. Das Gebäude in dem er sich befand wurde gesprengt und dabei sein Fuß fast abgerissen. Die Replantation war primär erfolgreich, auch weil noch eine Gewebebrücke bestanden hat und die Extremität wenigstens notdürftig versorgt war. Die Schiene soll dran bleiben und nur zur Wundkontrolle und gezielten passiven Krankengymnastik abgenommen werden. Er hat vor der Narkoseeinleitung eine Komplikation geboten, denn sein bekannter Hämatothorax ist dekompensiert und wir mussten sofort notfallmäßig eine Thoraxdrainage legen!“ erklärte der Narkosearzt und wies auf den zur Hälfte mit Blut gefüllten Saugbehälter. „Puh-das ist aber eine ganze Menge!“ bemerkte der übernehmende Intensivarzt. „Hat er denn Konserven gebraucht?“ wollte er wissen, aber sein Kollege schüttelte den Kopf. „Die letzte Kontrolle hat einen Wert von 7,8, ergeben-angesichts der Jugend und der vorher guten Konstitution unseres Patienten habe ich vorerst davon abgesehen-es ist auch während der OP kaum mehr was nachgelaufen. Ich denke er hat das schon im Verlauf der letzten beiden Tage langsam verloren und so konnte sein Körper das kompensieren-vielleicht kommen wir ja ohne Transfusion aus. Wir haben multiple Hämatome am Rücken ausgeräumt und drainiert, die Nieren sind beide gequetscht mit Kapselhämatom und rechts besteht auch ein Parenchymeinriss, da wird sich der Urologe, der ihn schon gesehen hat, weiter drum kümmern, aber immerhin scheidet er mit ausreichend Volumen und Druck aus, auch wenn eine Makrohämaturie besteht“-was bedeutete, dass man mit bloßem Auge das Blut im Urin im Beutel sehen konnte.
„Der rechte Arm war über mehrere Tage eingeklemmt, da besteht zwar keine knöcherne Verletzung, aber eine Nervenschädigung, die man versuchen wird konservativ zu behandeln und der Verband am Oberarm kommt von einer Amputationsverletzung-man hätte ihm beinahe den Arm abnehmen müssen, um ihn zu befreien, aber Gott sei Dank ging es dann ohne diese archaische Operation!“ war die Übergabe nun fast beendet. Man tauschte sich noch über die Noradrenalindosierung aus und dann erfuhren die Abholer noch, warum ihr Patient noch so schläfrig war.
„In der Aufwachphase wurde er überschießend wach-vermutlich weil er voller Panik eingeschlafen ist und durch das Ketamin, das er am Unfallort intramuskulär erhalten hatte noch besonders sensibilisiert war. Wir haben ihm bereits drei Milligramm Piritramid gegeben und fünf Milligramm Valium dazu, jetzt schläft er wieder, aber ihr müsst gut auf ihn aufpassen, wenn die Wirkung nachlässt, nicht dass er wieder panisch wird und aussteigt!“ bat der Narkosearzt, aber nun grinsten die beiden Abholer. „Das macht uns jetzt keine Sorgen-Sarah, seine Frau ist hier geblieben, die wird auf ihn aufpassen wie ein Schießhund!“ informierte man ihn und nun lächelte der Narkosearzt ebenfalls. „Na dann kann ja wirklich nichts passieren!“ stimmte er seinem Kollegen zu und wenig später fuhr das Bett mit dem vor sich hindämmernden Ben, dessen Glieder schwer wie Blei waren und der sich immer noch nicht auskannte, aber jetzt war es ihm gerade egal, auf die Intensivstation, wo Sarah erwachte, als man das Licht anmachte und das Bett herein schob.