Am darauffolgenden Morgen
Semir stand am Fenster in seinem Büro und blickte hinaus auf den Parkplatz, währenddessen er geräuschvoll an seiner mittlerweile dritten Tasse Kaffee, Marke extra stark, schlürfte. Jenny saß auf Bens Stuhl und studierte die Akten, machte sich viele kleine Notizen und brummte vor sich hin.
„Ich glaube es nicht!“ entfuhr es dem Türken überrascht, „Jenny komm her und schau dir das an! Unsere Chefin hat was mit diesem Großkotz von Staatsanwalt laufen!“
„Bitte was? … Das ist doch nicht dein Ernst!“
Augenblicklich stand die junge Frau neben dem älteren Kommissar und traute ihren Augen nicht. Ein schwarzer BMW X5 hielt mit laufendem Motor vor der Eingangstür. In der halb geöffneten Beifahrertür konnte man Kim Krüger erkennen, die sich sichtlich angeregt mit dem Fahrer unterhielt und ihn zum Abschied küsste.
„Na Klasse! Da haben sich ja die zwei Richtigen gesucht und gefunden. Das perfekte Paar: Mister Kotzbrocken und die eiserne Lady!“ kommentierte Jenny ironisch. Auch sie hatte gestern mit der arroganten und überheblichen Art des Staatsanwalts während der Vernehmung von einigen Verdächtigen Bekanntschaft gemacht. „Da stehen uns ja goldene Zeiten ins Haus Semir!“
Dieser bewegte seinen Kopf nachdenklich zur Bestätigung auf und ab. Er beobachtete, wie die Krüger mit einem glückseligen Lächeln auf den Lippen die PAST betrat. Die schwebte eindeutig auf Wolke sieben. Susanne schien ebenfalls neugierig geworden zu sein und sprach Kim an, die sich entspannt auf der Schreibtischkante der Sekretärin niederließ und sich mit ihr angeregt unterhielt.
Jenny klopfte dem Dienstälteren aufmunternd auf die Schulter. „Komm, gönne ihr doch ihr kleines Glück. Und wer weiß, guter Sex soll entspannend wirken.“, versuchte sie zu scherzen. „Vielleicht wird die Chefin ja auch mal ein bisschen lockerer. Bei Hartmut hat das wahre Wunder bewirkt.“
Unwillkürlich fing Semir an zu grinsen. Das stimmte, seit der Rothaarige und Jenny ein Paar sind, hatte er sich zu seinem Vorteil verändert.
Semir seufzte auf. „Komm lass uns weiter machen! … Wir tappen völlig im Dunkeln, wenn es darum geht, wo Ben sein könnte und wer ihn entführt hat?“
Er schaute dabei frustriert auf die Aktenberge, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten. Der Türke hatte sich zwischenzeitlich wieder hingesetzt und spielte nervös mit seinem Kugelschreiber herum, der auf der Schreibtischplatte unendliche Kreise drehte.
„Ich weiß einfach nicht, wo wir ansetzen sollen Jenny! Es gibt so viele Spuren und Hinweise und letztendlich verlaufen alle im Nichts!“ Er raufte sich durch seine kurz geschnittenen Haare. „Mein Bauchgefühl sagt mir, diese Kilic steckt dahinter. Nur wo ist die Verbindung zu allem? Sie war zum Zeitpunkt von Bens Verschwinden doch im Knast?“
„Ich glaube, wir fahren erst mal zu Hartmut. Anschließend können wir uns ja noch einmal nach Hürth fahren, wo Ben ja offensichtlich entführt worden ist!“
Jenny eilte voran in die KTU, dicht gefolgt von Semir. Hartmut befand sich nicht an seinem gewohnten Platz hinter dem Computer oder Elektronenmikroskop.
„Hartmut! Hartmut, wo bist du?“, hallte ihr Schrei durch die Hallen.
Gedämpft erklang aus einem der Nebenräume eine Antwort. „Jenny? Bist du das? Ich bin hier drüben, in der KFZ-Halle! … Autsch!“ entfuhr es ihm, als er sich den Kopf schmerzhaft an einer offen stehenden Tür eines Hängeschrankes angestoßen hatte. Zusammen mit einem erfahrenen Kollegen vom LKA, Florian Weil, einem Endvierziger, stand er vor einer Werkzeugbank und untersuchte einen kleinen verkohlten Gegenstand. Hinter den beiden Technikern war ein ausberanntes Fahrzeugwrack auf der Hebebühne zu sehen, welches sich bei näherem Betrachten als die kümmerlichen Überreste des Autos von Staatsanwältin Schrankmann entpuppte. Am Unterboden des Fahrzeugs brannten einige Arbeitslampen.
„Hallo Jenny“, meinte Harmut nur kurz angebunden und hauchte seiner Freundin einen Kuss auf die Lippen. „Was verschafft mir denn die Ehre eures Besuches?“
Semir übernahm das Sprechen. „Wir wollten mal nachhören, wie weit du mit der Spurenauswertung von Hürth bist?“
Der Rothaarige rollte genervt die Augen. „Pffff, wie ihr seht, bin ich gerade im Mega-Stress! Die Staatsanwaltschaft und auch das LKA sitzen uns im Genick und wollen dringend den Untersuchungsbericht über das zerstörte Fahrzeug der Staatsanwältin. Alles andere muss warten!“
„Mensch Harmut! Das kann doch nicht dein Ernst sein!“, maulte Semir enttäuscht drauf los. „Du warst doch bereits am Samstag am Tatort und heute ist Dienstag!“
„Danke für das Gespräch Kollege! Hast du auch schon mal dran gedacht, dass der Mensch ein Privatleben hat?“, konterte der Techniker und sein Augenmerk richtete sich verliebt auf Jenny. „Ich habe am Samstag noch eine Nachtschicht eingelegt und am Sonntag hatte ich frei! Brauch ja schließlich auch mal eine Mütze voll Schlaf! … Und das mit der Schrankmann und den anderen Anschlägen im Großraum Köln konnte keiner voraussehen!“
Wider Erwarten ergriff Jenny das Wort. „Hey Bärchen, es geht hier um Ben! Der ist unser Freund und Kollege. Glaubst du nicht, dass ich dafür Verständnis hätte, wenn du deswegen ein paar Überstunden mehr machst!“
Sie kraulte dabei dem Rothaarigen über die Brust, der ein wohliges Brummen nicht unterdrücken konnte.
„Ist ja schon gut!“, lenkte er missmutig ein. „Florian, machst du mal hier ein paar Minuten ohne mich weiter. Kommt mal mit rüber ins Labor!“, forderte er die beiden Autobahnpolizisten, auf ihm zu folgen. „Es ist ja nicht so, dass ich noch nichts getan hätte. Ein bisschen was, habe ich in dem Dreck ja schon gefunden. Ich bin mir nicht sicher, ob es euch wirklich weiterhilft!“
Auf dem Labortisch war der Straßenkehricht von Hürth fein säuberlich sortiert. „Ich hätte dich ja schon noch angerufen Semir! Das eingetrocknete Blut auf dem Asphalt des Gehsteigs stammte eindeutig von Ben.“ Der Türke wollte ihm ins Wort fallen und verstummt auf eine Geste von Hartmut hin. „Ich kenne deine nächste Frage. In der Blutlache waren auch menschliche Haare. Diese Analyse läuft noch, ob sie von Ben stammen. Und ja, ich gehe davon aus, dass man ihn an dieser Stelle niedergeschlagen hat. Wobei ich kein Hellseher bin? Das gleiche gilt für die Zigarettenstummel, die dort rumlagen. Der DNA-Test läuft. Auf Bens Motorradhelm befand sich noch ein Fingerabdruck, der nicht von Ben stammt. Die Anfrage läuft momentan durch die Datenbanken, auch vom BKA und ich habe ihn an Interpol ebenfalls weitergeleitet. Zufrieden?“, beendete er seine Ansprache.
Das waren nicht die Antworten, die sich Semir erhofft hatte. Niedergeschlagen begab er sich mit seiner Kollegin zurück zum BMW. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss und hieb wütend auf das Lenkrad ein. Dabei fluchte er leise vor sich hin.
„Hey Semir! Lass den Kopf nicht hängen! Komm, wir finden Ben!“, versuchte sie ihn aufzumuntern, obwohl ihr selbst der Glaube daran gerade eben fehlte. Der Türke blickte zu seiner Beifahrerin. Seine Augen drückten seine Hoffnungslosigkeit aus, die er mit seinen Worten noch unterstrich. Kaum hörbar murmelte er: „Weißt du, was mir diesmal wirklich Angst einjagt Jenny? Dass wir nichts, absolut nichts, nicht einmal den kleinsten Anhaltspunkt haben, wo wir mit der Suche nach Ben beginnen sollen. Ich frage mich immer zu: Steckt diese Kilic dahinter? … Denn, wenn ja, dann Gnade uns Gott!“
Er wandte sich dabei seiner Beifahrerin zu und unterstrich seine Aussage mit der Geste seiner Finger. Seine wahren Gedanken wagte er nicht auszusprechen. Wenn er alle Fakten nüchtern betrachtete und sollte die Kilic tatsächlich hinter der Entführung seines Freundes stecken, war Ben mit größter Wahrscheinlichkeit vielleicht gar nicht mehr am Leben.
Er startete das Fahrzeug und fuhr zurück auf die PAST.