24 Stunden später …. Auf der PAST
Susanne hatte heute Morgen etwas später angefangen. Sie machte sich ernsthaft Sorgen um Ben. Da er sich nicht wie verabredet bei ihr telefonisch gemeldet hatte, war sie auf dem Weg zur Arbeit am Probenraum der Band vorbeigefahren, sein letzter ihr bekannter Aufenthaltsort. Doch sie fand dort keine Spur von ihm.
Nachdenklich hatte sie an ihrem Schreibtisch Platz genommen, als ein groß gewachsener Mann, so um die vierzig, die Dienststelle betrat. Wow, was ist das denn für eine Sahneschnitte am frühen Morgen, dachte sich die Sekretärin. Der Typ könnte glatt als Doppelgänger von Hugh Jackman durchgehen. Der dunkelhaarige Mann, der sich seiner Ausstrahlung bewusst zu sein schien, steuerte direkt ihren Schreibtisch an und baute sich vor ihr auf. Aus dem männlich markant geschnittenen Gesicht stachen die tiefblauen Augen heraus. Sein Körper wirkte sportlich durchtrainiert und der blaue Leinenanzug, den er trotz der hochsommerlichen Temperaturen trug, war keine übliche Stangenware und passte im Farbton irgendwie zu seinen blauen Augen. Die Haut des glattrasierten Gesichts war leicht gebräunt.
„Guten Morgen, ich suche die Dienststellenleiterin, Frau Krüger!“
Die Stimme war tief und klang angenehm. Trotzdem rümpfe die Sekretärin die Nase, na Klasse, so was liebte sie, nicht mal vorstellen konnte sich der Kerl.
„Und wen darf ich bitte bei Frau Krüger melden?“
„Danke, es reicht, wenn sie mir den Weg zu ihrem Büro zeigen, den Rest schaffe ich durchaus alleine!“, gab er befehlsgewohnt zurück.
Susanne erhob sich von ihrem Stuhl und zeigte auf die Bürotür von ihrer Chefin. „Da vorne links, finden sie das Büro von Frau Krüger!“, meinte sie ein bisschen schnippisch.
Ohne Antwort oder ein Wort des Dankes drehte sich der Mann um und steuerte das Zimmer der Chefin an.
„Arrogantes Arschloch!“, grummelte Susanne leise vor sich hin, als sie sich fast schon ein bisschen beleidigt wieder hinsetzte. Sie beobachtete den Dunkelhaarigen argwöhnisch weiter, zu gerne hätte sie gewusst, was er von Frau Krüger wollte.
Er klopfte nur einmal an der Glastür von ihrer Chefin an und schien das Herein gar nicht abgewartet zu haben. Susanne entging nicht, dass Kim etwas irritiert und leicht verärgert von ihrem Schreibtisch hochblickte. „Mäuschen müsste man sein, dann könnte man zuhören was da drinnen gesprochen wird!“ murmelte sie vor sich hin.
„Guten Tag, entschuldigen Sie bitte Frau Krüger, wenn ich so unangemeldet hier hereinplatze, mein Name ist Hendrik van den Bergh, ich bin Oberstaatsanwalt am Landgericht Köln und leite die Ermittlungen gegen Ben Jäger!“
Die Begrüßung wirkte, Kim musste erst einmal schlucken, erhob sich von ihrem Stuhl und reichte dem Dunkelhaarigen die Hand zur Begrüßung.
„Kim Krüger, Leiterin dieser Dienststelle hier und die Vorgesetzte von Herrn Jäger. Was verschafft mir denn die Ehre ihres Besuches? Ich dachte die Ermittlungen wegen dieses Obdachlosen sind seit gestern abgeschlossen.“
„Nun ja!“, druckste der Oberstaatsanwalt ein bisschen rum, „so einfach ist der Sachverhalt wohl doch nicht, wie sie denken, Frau Krüger. Wollen wir uns nicht erst einmal setzen?“, übernahm er wie selbstverständlich die Gesprächsführung und steuerte die Besucherecke an.
Kim zog eine verärgerte Schnute und runzelte die Stirn. „Das ist noch immer mein Büro Herr Oberstaatsanwalt!“, wies sie den Mann gegenüber in seine Schranken, „Wenn Sie möchten, können sie gerne auf einem der beiden Stühle hier Platz nehmen!“
Dabei deutete sie auf die Besucherstühle vor ihrem Schreibtisch. Demonstrativ setzte sich Kim zurück auf ihren Bürostuhl und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Der Dunkelhaarige stutzte, da er gerade im Begriff war, auf einem der Sessel Platz zu nehmen. Zwangsweise drehte er sich in Richtung Schreibtisch und setzte sich auf einen der Besucherstühle.
„Was kann ich denn für Sie tun, Herr van den Bergh?“
Bewusst verzichtete Kim auf den Titel Oberstaatsanwalt. Sie hatte ihre Hände auf der Schreibtischplatte abgelegt und die Finger ineinander verschlungen.
„Wir ermitteln gegen Herrn Jäger in einem weiteren Mordfall. Auf dem Straßenstrich in Hürth wurde eine Prostituierte tot aufgefunden. Auf Grund gewisser Beweise am Tatort gilt Herr Jäger als der Hauptverdächtigte!"
Kim riss vor Entsetzen ihre Augen weit auf. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. „Beweise?“, ächzte sie, „Welche Beweise?“ und rang sichtlich darum ihre Fassung zu wahren.
Der Staatsanwalt räusperte sich und machte eine theatralische Handbewegung, als würde er in einem Gerichtssaal stehen und sein Plädoyer halten, bevor er fortfuhr.
„In dem Wohnwagen der Getöteten gab es eindeutige Spuren!“
Wieder machte er eine künstlerische Pause, in der ihn Kim anblaffte: „Was soll das? Lassen sie sich nicht jedes Detail einzeln aus der Nase ziehen, Herr Staatsanwalt! Wie kommen Sie auf die Idee, Herr Jäger, könnte einen Mord begangen haben!“
Ihr Mienenspiel wechselte zwischen purem Entsetzen und Verärgerung und spiegelte das Gefühlschaos in ihrem Inneren wieder. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich merklich bei den nächsten Worten von Herrn van den Bergh.
„In der rechten Hand der Ermordeten lag ein Messer mit Blutspuren. Ein DNA-Schnell-Test belegte, dass das Blut an dem Messer eindeutig von Herrn Jäger stammte. Die Frau ist erwürgt worden. Es gab Kampfspuren, der Wohnwagen war verwüstet. In dem Bett, na sie wissen schon, welchen Zweck so ein Riesenbett in dem Wohnwagen hat, wurde ein Schlüsselbund gefunden, auf dem die Fingerabdrücke von Herrn Jäger nachgewiesen wurden. Nachdem mit dem Schlüssel der Zugang zur Wohnung von Herrn Jäger möglich war, ist wohl davon auszugehen, dass er ihn bei dem Kampf mit der Ermordeten am Tatort verloren hat. … Und ja bevor sie weiter fragen, es gibt verständlicherweise Fingerabdrücke ohne Ende am Tatort. Die Kollegen von der Kriminaltechnik sind noch bei der Auswertung. Die ermittelnden Beamten der Mordkommission gehen davon aus, dass Herr Jäger Handschuhe getragen hat. Es war also ein geplanter Mord, bei dem sich das Opfer scheinbar mehr zu Wehr gesetzt hatte, als es von Herrn Jäger erwartet wurde.“ Immer wieder unterstrich Staatsanwalt mit Gesten seiner Hände seine Ausführungen. Sein Blick war dabei unablässig auf Kim Krüger gerichtet, „Seit einer halben Stunde existiert ein Haftbefehl wegen Mordes gegen Herrn Jäger! Er steht ab sofort auf der bundesweiten Fahndungsliste ganz oben!“
Diese Nachricht saß, Kim rang sichtlich um ihre Fassung. Sie ließ sich in ihrem Bürostuhl nach hinten fallen. Mühsam konnte sie ein Aufstöhnen unterdrücken und schloss für einen Augenblick die Augen. Ihre Gedankenwelt wurde gerade wild durcheinandergewirbelt … Ben Jäger war zwar ein Heißsporn, aber ein kaltblütiger Mord … nein … nein … das passte überhaupt nicht zu dem jungen Mann, den sie kannte. Sie schob ihr Kinn eigensinnig nach vorne und setzte unbewusst ihre trotzige Miene auf.
„Nein … Nein …!“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf, „das glaube ich nicht! … Niemals! Dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen! Herr Jäger würde keinen Mord begehen. Sind Sie sich absolut sicher? Welches Motiv sollte denn Herr Jäger haben, solch eine Frau zu ermorden?“
„Viele Fragen auf einmal Frau Krüger! Die Ermittlungen laufen erst an. Und ja, wegen des Motivs bin ich bei ihnen. Diese Frage wollte ich ihnen stellen. Was verbindet Herrn Jäger mit DER Prostituierten Jessica Habermann?“, stellte er mit hochgezogener Augenbraue seine Gegenfrage.
„Der Name sagt mir nichts!“, gab Kim tonlos zurück.
Der Staatsanwalt ließ nicht locker und bombardierte die Chefin der PAST weiter mit seinen Fragen.
„Kennen Sie den aktuellen Aufenthaltsort von Herrn Jäger? … Wer sind hier auf der Dienststelle seine Freunde? … Wer hatte Kontakt mit ihm in den letzten Tagen? Wer kann etwas zu seinem Verhältnis zu dieser Jessica Habermann sagen? Hat er eine Freundin oder verkehrte er regelmäßig mit Damen des horizontalen Gewerbes, um seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen?“
„Herr Jäger hat eine Freundin und ich glaube nicht, dass er bei seinem Aussehen auf bezahlte Liebesdienste angewiesen war!“, platzte es aus ihr heraus.
Unzählige Gedanken schossen Kim durch den Kopf. Hatte der junge Kommissar durchgedreht? Die Szene bei der Entführung seiner Schwester fiel ihr wieder ein, als er seinen ehemaligen Freund Sven mit brachialer Gewalt zwingen wollte, den Aufenthaltsort seiner Schwester Julia Preis zu geben. Kim war sich nicht bewusst, dass sie dabei den silbernen Mercedes, der vor dem Bürofenster parkte, anstarrte. Ein Ruck ging durch ihren Körper. Sie hatte eine Entscheidung getroffen.
„Ich rede mit meinen Leuten. Aber bitte, ersparen Sie uns die Befragung durch die Kollegen vom Revier Nord.“
Der Staatsanwalt rümpfte die Nase und rollte verstimmt seine Augen nach oben.
„Bitte!“, legte Kim abermals nach, als sie die Reaktion von Hendrik van den Berg als Ablehnung sah. „Bitte! … Kommissar Kramer hat sich hier gestern wie ein Elefant im Porzellanladen aufgeführt. … Dazu noch diese Presse-Heinis, die die Dienststelle gestern und vorgestern belagert haben. Nochmals, bitte, Herr Oberstaatsanwalt, ich kenne meine Leute besser, als jeder anderer …! Ich versichere ihnen, ich werde Sie bei den Ermittlungen nach besten Kräften unterstützen, denn mir ist daran gelegen, die Wahrheit heraus zu finden!“
Der Staatsanwalt schürzte seine Lippen, überlegte und bewegte seinen Kopf zustimmend auf und ab. Die Chefin nutzte die Gelegenheit und versuchte von dem Hugh-Jackman-Verschnitt noch weitere Informationen aus erster Hand wegen der Ermittlungen gegen Ben Jäger zu bekommen. Der schmuddelige Kommissar Kramer hatte ihr am gestrigen Tag jegliche Auskunft verweigert. Ihre Beharrlichkeit zahlte sich aus. Kim bekam endlich einige Antworten auf ihre Fragen.
Auch wenn es sich Hendrik van den Bergh nicht anmerken ließ, war er vom Verhalten von Kim Krüger schwer beeindruckt. Diese Frau faszinierte ihn und er blieb unbewusst länger in ihrem Büro, als er ursprünglich geplant hatte.
„Bitte halten Sie mich weiter auf dem Laufendem Herr van den Bergh!“, mit diesen Worten verabschiedete sie sich von dem Staatsanwalt. Als er ihre Hand zum Abschied drückte, blickten sich die beiden tief in die Augen und Kim spürte wie diese Berührung ein angenehmes Kribbeln in ihr auslöste.
Irgendwo im Nirgendwo … zur gleichen Zeit …
Der dunkelhaarige Polizist lehnte mit dem Rücken an der Wand. Er hatte seine Beine angezogen. Sein Kopf ruhte auf seiner Brust. Das Gefühl von Angst und Panik war stetig von etwas anderem verdrängt worden. Neben dem nagenden Hunger quälte ihn der Durst.
Sein Hals schmerzte fürchterlich und seine Zunge klebte förmlich am Gaumen und war leicht angeschwollen. Mit jeder weiteren Minute, die verstrich, beherrschte das Verlangen nach etwas zum Trinken sein komplettes Denken. Sobald Ben die Augen schloss, gaukelte ihm sein Verstand wunderbare Bilder von sprudelnden Wasserhähnen … Regenschauer … Wasserfällen oder von der Brandung des Meeres vor.
Er spürte, wie seine Sinne und dadurch seine Wahrnehmung sich veränderten und sein Körper schwächer wurde.