Beiträge von Mikel

    Unverletzt konnte Gabriela die Eingangshalle der Villa erreichen. In ihr bohrte die Frage, war der Türke alleine gekommen oder bekam er Unterstützung durch andere Polizeikräfte. Eine heftige Explosion erschütterte das Zufahrtstor. Damit hatte sich die Antwort auf die Frage erübrigt, dachte sie ironisch. Sie fischte ihr Handy aus der Handtasche, in der sich ihr neuer Personalausweis, ein Reisepass, ausgestellt auf Lara Herzog und sonstige wichtige Dokumente befanden. Ein prüfender Blick auf das Display verriet ihr, ihr Freund bei der Polizei hatte sie nicht vorgewarnt.


    Gabriela fühlte sich elend, wie am Boden zerstört. Sie stand im ehemaligen Arbeitszimmer und drehte sich im Kreis. Fieberhaft suchte sie nach einem Ausweg. Immer wieder murmelte sie wie eine Beschwörungsformel vor sich hin: „Die werden mich nicht lebend kriegen! … Ich gehe nicht zurück in den Knast! … Niemals!“ Dabei musterte sie die vorbereiteten Bomben, deren Fernzünder, die auf der Schreibtischplatte bereit zum Einsatz gegen ihre Feinde lagen.


    Im Hintergrund hörte die Kroatin das Fluchen ihrer Männer, als die Polizeieinsatzkräfte näher rückten. Iwan Kovac rief ihr in seiner Muttersprache wütend zu:

    „Schnapp dir endlich eine Knarre und hilf uns diese Typen platt zu machen!“ Dabei warf er ihr ein Maschinengewehr zu. „Hoffentlich kannst du damit noch umgehen!“, brüllte er hinterher und erteilte seinem Bruder und Sohn weitere Befehle. Handgranaten lagen einsatzbereit zu seinen Füßen und warteten nur darauf, ihre tödliche Sprengkraft zu entfalten.


    Gabriela kniete vor einem der Fenster im Arbeitszimmer, das ihr einen Blickwinkel auf die Zufahrt und das Carport gewährten nieder. Sie sah die vermummten SEK-Beamten und das Maschinengewehr in ihrer Hand fing an, eine Salve von Kugeln zu verteilen. Auf einmal geriet der Mann, den sie für alles verantwortlich machte, in ihr Blickfeld: Semir Gerkhan, der in der Nähe des schwarzen Passats Deckung suchte. Eine Welle aus Hass und Zorn überflutete sie und die Erkenntnis, dieser Mann durfte nicht entkommen.


    *****


    Der Angriff der SEK Beamten auf die Villa stieß auf eine heftige Gegenwehr. Entsprechend heftig hämmerten die Maschinengewehre der Bewohner drauf los und spuckten ihr tödliches Blei in Richtung der Polizisten aus. Einige der Kugeln prallten als Querschläger am Mauerwerk des Carports ab. Einer der SEK Leute schrie schmerzerfüllt auf, als eine Kugel in seinen Oberschenkel einschlug. Sofort zog ihn ein Kamerad in Deckung. Der Vorstoß auf die Villa geriet ins Stocken.


    „Für die Kerle dort drinnen sind wir perfekte Zielscheiben …!“, stieß Marius Peucker wütend hervor.

    Der Rest erstarb fluchend auf seinen Lippen.
    Es gab einen gewaltigen Knall, der den Boden unter den Füßen von Semir und dem Einsatzleiter erbeben ließ. Eine heftige Explosion hatte die Villa erschüttert und ließ diese bis in ihre Grundmauern erzittern. Der Kugelhagel verstummte augenblicklich und wurde von zwei weiteren Detonationen abgelöst, die in ihrer Wucht und Sprengkraft die vorherige um einiges übertraf. Das riesige Wohnhaus wurde förmlich in tausende von Einzelteilen zerrissen und fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Eine Druckwelle breitete sich aus und fegte über die SEK Beamten und den Autobahnpolizisten hinweg, gefolgt von einer gewaltigen Staubwolke. Aus dieser regnete es Gesteinsbrocken und brennende Teile auf die Beamten nieder, die verzweifelt Schutz suchten. Keiner wollte von einem dieser gefährlichen Splitter durchbohrt werden. Während Marius Peucker und zwei weitere Beamte in seiner Nähe Glück hatten und sich in den Schutz des Carports hechteten, sah es beim Türken nicht so gut aus.


    Semir, der sich seitlich an der Villa zur Hinterfront schleichen wollte, war dadurch der Druckwelle schutzlos ausgeliefert. Als diese ihn erfasste, merkte er wie er durch die Luft flog und gegen etwas Hartes prallte. Ihm entging auch nicht das ungesunde Knirschen seiner linken Flanke. Nicht gut, dachte er bei sich, überhaupt nicht gut. Pfeifend entwich die Atemluft seiner Lunge. Sein Hinterkopf schlug ebenfalls gegen die steinerne Außenmauer des Grundstücks. Bunte Sterne tanzten vor seinen Augen und in seinem Kopf dröhnte es. Mit blankem Entsetzen registrierte er, dass der schwarze Passat, der neben dem Eingangsportal geparkt war, sich in Sekundenbruchteilen in einen glühenden Feuerball verwandelte. Der Gluthauch der Hitze waberte zu ihm herüber, versengte seine Haare und brannte in seinen Lungen. So sehr er auch dagegen ankämpfte, die Dunkelheit einer Ohnmacht betäubte seine Sinne.

    „Hören sie das auch Frau Krüger? Das sind Schüsse! Dort vorne in dem Waldstück wird eindeutig geschossen!“

    Jenny sprach aus, was sich Kim dachte.
    „Herr Freund einsteigen!“, befahl sie und ließ die Seitenscheibe herunterfahren.

    Aus dem Funk quäkte Marius Peuckers Stimme, dass er und seine Männer die Schüsse ebenfalls gehört hatten. Langsam ließ Kim ihren Wagen weiterrollen. Stille … Erneut hallte der Knall von abgeschossenen Kugeln durch die Nacht, gefolgt von dem Hämmern eines Maschinengewehrs.


    „Vorne rechts … in ca. hundert Metern ist eine Einfahrt Frau Krüger!“, kam es vom Beifahrersitz.


    Kim bog in den befestigten Wirtschaftsweg ein, von dem eine Abzweigung direkt in den Wald zu führen schien. Die Dunkelheit des Waldes umfing das Fahrzeug. Das Licht des Mondes konnte den dichten Blätterwald der Bäume nicht bis zum Erdboden durchdringen. Eine Mauer mit einem riesigen Tor tauchte im Licht des Scheinwerferkegels auf und versperrte den Weg. Sie stoppte den Wagen und stieg aus. Ein gedämpfter Lichtschein war erkennbar und kein Zweifel! Dahinter kämpfte jemand um sein Leben. Zwischen den Schüssen, die aus Pistolen abgefeuert wurden, erklang das Stakkato eines Maschinengewehrs.
    Die SEK Beamten kamen einsatzbereit heran gestürmt. Auch sie hatten die Situation erfasst. Marius Peucker erteilte seine Befehle.


    „Aufsprengen! Gefahr in Verzug!“


    Zwei seiner Männer brachten die Sprengladungen am Tor an. Währenddessen brachte Kim ihr Fahrzeug aus dem Gefahrenbereich und parkte ihn neben den SEK Fahrzeugen auf dem Wirtschaftsweg. Über Funk unterrichtete sie Susanne über die Situation und befahl ihr weitere Polizeikräfte, Feuerwehr und den Rettungsdienst als Verstärkung zu alarmieren. Die Zeit der Geheimniskrämerei war vorbei.


    „Sie bleiben am Wagen Herr Freund! Sobald die Verstärkung eintrifft, weisen sie diese ein! … Frau Dorn, sie folgen mir! Einsatzleitung hat das SEK! Die stürmen auch zuerst auf das Grundstück!“

    Auf ihr Zeichen hin folgte Jenny ihrer Chefin. Hinter den SEK- Einsatzkräften gingen die beiden Frau in Deckung. Eine grelle Explosion erhellte die Nacht. Die Druckwelle ließ den Boden erbeben. Die SEK-Beamten hatten nicht mit Sprengstoff gespart. Staub, Dreck, Gesteinsbrocken flogen durch die Luft.
    Die Lichtkegel von Handscheinwerfern leuchteten das Gelände vor ihnen aus. Kim hielt sich schützend ihren Unterarm vor Mund und Nase, um nicht zu viele Staubpartikel einzuatmen. Ihre Ohren pfiffen. Gedämpft nahm sie den Einsatzbefehl über Funk war.

    „Wir stürmen zu Fuß!“
    Als sie sich aus ihrer Deckung aufrichtete, erkannte sie den Grund. Die Wucht der Explosion hatte das Tor aus der Verankerung gerissen. Gleich einer Barriere lag das schwere Metalltor quer und blockierte die Zufahrt zum dahinter liegenden Anwesen. Mit ihrem Fahrzeug hatten sie keine Chance dieses Hindernis zu überwinden.


    Die vermummten SEK Beamten rannten mit ihren Maschinengewehren im Anschlag an ihr vorbei auf das Grundstück. Wieder einmal bewunderte Kim ihre Kollegen, die sich lautlos und völlig geschmeidig bewegten.


    Zusammen mit Jenny schloss sie sich der Gruppe an und folgte dem letzten Beamten auf den Zufahrtsweg. Dort erleuchteten auf der linken Seite einige LED-Leuchten mit einem spärlichen Lichtkegel den Zufahrtsweg aus. Die Staubwolke der Explosion hing noch in der Luft und verschlechterte zusätzlich die Sicht. In ihren Ohrstöpsel erklang die Stimme vom Marius Peucker.

    „Wir teilen uns! Team Alpha und Charlie folgen mir. Team Bravo, zusammen mit Frau Krüger, bricht seitlich in die Büsche ein und schleicht sich von hinten ans Gebäude! Go!“

    In leicht gebückter Haltung stürmte die eine Gruppe den Zufahrtsweg hoch. In ihrer dunklen Kleidung verschmolzen die Beamten der zweiten Gruppe vor ihr regelrecht mit ihrer Umgebung, als sie in das Unterholz einbrachen. Morsche Äste zerbrachen unter der Last der Schritte. Tiefhängende Äste der Bäume und Sträucher strichen über Kims Gesicht. Jenny hielt sich eng hinter ihr. Vor ihnen tauchte aus der Dunkelheit die hell erleuchtete Villa auf. Die Dreier-Gruppe der SEK Beamten stoppte abrupt. Ihr Anführer Linus Walther war über eine aus Boden ragende Wurzel gestolpert. Lautlos fluchte der SEK-Beamte vor sich hin. Gleichzeitig nahm er aus dem Augenwinkel im Unterholz eine schemenhafte Bewegung wahr. Im Lichtkegel der Taschenlampen bot sich der Gruppe ein Anblick, der ihnen den Atem raubte.


    *****


    Pfeilschnell brachte sich Marius mit einem Hechtsprung bei Semir in die Deckung eines Fahrzeugs im Carport. Einige Kugeln, die durch die Nacht flogen, waren ihm gefährlich nahe gekommen.
    „Marius Peucker! SEK Einsatzleitung!“, stellte er sich nach Atem ringend vor, „Schöne Grüße von Frau Krüger. Mit wie vielen Gegnern haben wir es zu tun, Herr Gerkhan?“


    Er blickte dabei nach draußen in das Halbdunkel der Zufahrt, wo die anderen SEK Beamten hinter dem schwarzen Audi Q7und dem mächtigen Stamm einer Eiche Deckung gefunden hatten. Wie durch ein Wunder war bisher noch niemand durch den Kugelhagel verletzt worden.


    „Wenn ich richtig gezählt habe, sind es fünf Männer, wobei einer bereits das Zeitliche gesegnet hat!“ Semir deutete auf die Leiche die vor dem Kühler des Fahrzeugs lag. „Dazu kommt diese Gabriela Kilic! Ich vermute allerdings, dass einer der Männer meinen Partner und dessen Freundin durch den Park verfolgen.“
    „Keine Sorge! Wir finden sie!“, beruhigte ihn der Einsatzleiter und setzte prompt einen entsprechenden Funkspruch an seinen Kollegen Linus Walther ab.
    „Hätten Sie eine Pistole oder etwas Munition für mich?“

    Semir präsentierte sein leer geschossenes Magazin und lächelte, als ihm Marius eine geladene Glock 9 mm mit entsprechender Ersatzmunition in die Hand drückte. Seine SEK Kollegen bereiteten sich darauf vor, die Villa zu stürmen und warteten nur auf ein entsprechendes Zeichen ihres Einsatzleiters. Ungezählte Male hatten sie sich in ihren Trainingseinheiten auf solche Situationen vorbereitet.


    „Zugriff!“, kam sein knapper Befehl über Funk und die SEK Einheit rückte vor. „Ich schlage vor, sie bleiben hier in sicherer Deckung, während wir das Rattennest dort drüben ausheben!“, kam es von Marius Peucker.
    „Vergessen Sie das!“, zischte Semir zurück. „Ich habe mit diesem Teufelsweib dort drüben noch eine besondere Rechnung offen!“, sprach er, duckte sich tief und schlich hinter dem Einsatzleiter her.

    In absoluter Höchstgeschwindigkeit, unter Einsatz von Sondersignal und Blaulicht, fuhr die Kolone auf der A3 in Richtung Köln. Hartmut, der neben seiner Chefin auf dem Beifahrersitz saß, war leichenblass. Krampfhaft hielt er sich am Haltegriff über der Beifahrertür fest.


    „Frau Krüger, ist das nicht ein bisschen zu schnell, wie sie fahren?“, meinte er kleinlaut, als Kim in einem waghalsigen Manöver einem Kleinwagen auswich, der plötzlich auf die Überholspur gewechselt war.
    „Wieso? … Haben Sie Angst?“, meinte sie mit einem Blick zu Seite. „Oder was haben sie an meinem Fahrstil auszusetzen? Im Gegensatz zu ihren Kollegen bleibt mein Dienstwagen heil!“
    „Naja, so war es nicht gemeint!“, druckste der Rothaarige ein bisschen herum.
    Von der Rücksitzbank meldete sich Jenny zu Wort, die durch den rasanten Fahrstil ebenfalls hin und hergeworfen wurde. „Wo fahren wir überhaupt hin?“
    „Gerkhan den A.rsch retten und mit viel Glück möglicherweise Herrn Jäger und Frau Becker finden, falls die beiden überhaupt noch am Leben sind!“
    Die Jungkommissarin beugte sich überrascht nach vorne zwischen die beiden Vordersitze. „Woher wollen Sie denn wissen wo Semir ist?“


    Vollbremsung, Hartmut hing in seinem Sicherheitsgurt und Jenny endgültig zwischen den Sitzen fest.


    „Vollidiot! Volltrottel, wer hat dir Vollpfosten denn den Führerschein geschenkt“, brüllte Frau Krüger wütend und betätigte mehrmals die Hupe, in der Hoffnung das vorausfahrende Fahrzeug würde endlich auf die rechte Spur wechseln. „Schon mal was von einem Blick in den Rückspiegel gehört!“, fauchte sie grimmig hinterher.


    Sie konnte nicht verstehen, wie man bei Dunkelheit das flackernde Blaulicht der sich nähernden Einsatzfahrzeuge übersehen konnte.


    In Richtung ihres Beifahrers brummte sie: „Erklären sie mal ihrer Freundin darüber auf Herr Freund, wie wir Gerkhan finden wollen. Heute Nacht sind nur Vollpfosten unterwegs. Ich muss mich aufs Fahren konzentrieren, wenn wir ankommen wollen!“ In Kim war so ein untrügliches Gefühl, dass jede Minute zählte.
    Als sich die junge Frau mit Harmuts Hilfe aus ihrer misslichen Lage befreit hatte, drehte sich dieser ein wenig nach hinten und schaltete sein Tablet an, das auf seinem Schoss lag.


    „Semir trägt einen GPS Sender, über den ich ihn mit diesem Programm jederzeit orten kann.“ – „Einen GPS Sender?“, unterbrach ihn Jenny, „aber wie wollt ihr sicher sein, dass er bei einer Durchsuchung von seinen Entführern nicht gefunden wird?“
    „Vielleicht lässt du mich mal ausreden! Der Sender wurde ihm vor einigen Tagen im Krankenhaus unter die Haut implantiert! Semir hatte die Idee nach dem missglückten Anschlag auf ihn und gleichzeitig die Hoffnung, dass die mutmaßlichen Entführer nochmals zuschlagen werden. Durch den Sender hätte er uns direkt zu dem Versteck der Kidnapper geführt! … So wie es momentan aussieht, ist sein Plan heute Nacht erfolgreich aufgegangen.“


    „Keiner konnte ahnen, dass die Entführer nicht mehr zuschlagen würden. Beten wir, dass der Plan aufgeht und wir eine Chance haben, um alle rechtzeitig retten zu können!“, mischte sich Kim ins Gespräch ein.


    Nun wurde Jenny einiges klar, deswegen hatte ihr älterer Kollege jeglichen Polizeischutz abgelehnt. Er hatte sich praktisch als Lockvogel auf dem Präsentierteller angeboten. Danach herrschte Schweigen im Wagen. Jeder hing seinen Gedanken nach. Jenny drückte sich auf der Rücksitzbank in die Ecke. Die junge Polizistin versuchte die düsteren Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, zu verdrängen. Gleich nach Semirs Anruf am Abend hatte sie so ein merkwürdiges Bauchgefühl gehabt. Hätte sie Frau Krüger früher informieren sollen? Hätte das etwas geändert? Ob es auf diese Frage jemals eine Antwort geben würde? Mit einem leeren Blick starrte Jenny aus dem Seitenfenster nach draußen. Zwischen den Lärmschutzwänden an der Seite leuchteten ab und an die Lichter der Großstadt Köln. Die rasante Fahrt ging auf der A3 bis Köln Heumar.


    Hier verließen die Einsatzkräfte der Autobahnpolizei, dicht gefolgt von den SEK Fahrzeugen, die Autobahn. Als Kim im Buchheimer Ring einbog, schaltete sie das Blaulicht und die Sirene aus. Über Funk erhielten die SEK Beamten die Anweisung, dies ebenfalls zu tun, um die mutmaßlichen Entführer nicht vorzeitig zu warnen.


    „Ok, Herr Freund! Jetzt kommt ihr Part. Wo genau steckt Gerkhan?“


    Im Kegel des Scheinwerferlichts tauchten an den Fahrbandrändern Grünflächen, Hecken und Bäume auf. Zwischendrin befanden sich Grundstücke. Im Schein des Mondlichtes zeichneten sich die Umrisse von Gebäuden ab. Die Straßenbeleuchtung war in diesen Straßenzügen aus Sparzwecken von der Stadt Köln zur späten Nachtstunde abgeschaltet worden. Auf einem Seitenstreifen hielt Kim an und knipste in Innenbeleuchtung an.


    „Gestörter GPS Empfang … Scheiße … Scheiße … Das kann ich überhaupt nicht gebrauchen!“, fluchte Hartmut vor sich hin.


    Auf einem Seitenstreifen hielt Kim an und knipste in Innenbeleuchtung an. Der Rotschopf öffnete die Beifahrertür und stieg aus, um einen besseren Empfang zu bekommen. Hektisch tippte er auf dem Bildschirm des Tablets herum. Nach einigen Sekunden entwich ihm erleichtert die Atemluft und er meinte in den Innenraum des Fahrzeugs: „Es muss irgendwo da vorne rechts sein. Höchstens drei- oder vierhundert Meter von unserem Standort entfernt!“


    Im Schein des Vollmondes zeichnete sich die Silhouette riesiger Bäume ab. „Da ist doch höchstens ein Wald! Da brauchen wir bei der Dunkelheit ewig, bis wir Semir finden!“, meinte Jenny mit einem verzweifelten Unterton.


    „Ruhe!“, herrschte sie Frau Krüger an, die zwischenzeitlich die Fahrertür geöffnet hatte und angespannt lauschte.

    In einem Wiesbadener Hotel – eine Stunde vor Mitternacht


    Kim erwachte vom Vibrieren ihres Handys, das auf der Nachtkonsole tanzte. Verschlafen griff sie danach und schaute auf das Display. „Jenny Dorn“ – stand darauf als Anrufer. Mit einem Schlag war die Chefin hellwach. Sie schob Hendriks Hand, die auf ihrer Hüfte lag, zur Seite und richtete sich im Bett auf, während sie das Gespräch annahm. „Krüger, hier! Ist etwas passiert Frau Dorn?“
    Aus dem Lautsprecher am Ohr erklang Jennys aufgeregte Stimme. „Semir, ähm Herr Gerkhan ist verschwunden!“


    Mit einem Schlag war alle Müdigkeit von Kim abgefallen. „Okay, immer schön der Reihe nach, Frau Dorn! … Beruhigen Sie sich erst einmal!“ Die Chefin hörte, wie Jenny mehrmals deutlich hörbar ein- und ausatmete. Ihr Blick fiel auf den Staatsanwalt, der indessen weiter leise vor sich hin schnarchte. Das letzte Glas Rotwein nach dem genialen Sex war wohl eines zu viel gewesen, dachte sie bei sich und widmete ihre volle Aufmerksamkeit Jennys Bericht. „und nun erzählen mir der Reihe nach, was passiert ist!“


    „Semir verfolgte ein paar heiße Spuren wegen dieser Gabriela Kilic. Am Abend rief er mich an und meinte, dass er sich noch einmal ein Anwesen in Merheim anschauen wollte und anschließend wollte er nach Hause fahren. Frau Krüger ich habe bis 21.00 h vor seiner Haustür auf ihn gewartet. Er ist nicht aufgetaucht. Auf der Dienststelle ist er auch nicht. Er hat sich nicht mehr gemeldet. Keiner der Kollegen weiß wo er sich befindet. Sein Handy ist ausgeschaltet. Zusammen mit Herrn Bonrath bin ich die fraglichen Straßen in Köln Merheim abgefahren und wir haben Bens Mercedes entdeckt, den Semir heute als Dienstwagen benutzt hatte. Der Wagen war am Rande einer Wohngegend geparkt. Wir haben bei allen angrenzenden Wohnhäusern geklingelt, aber keiner der Bewohner hat Semir gesehen oder mit ihm gesprochen. Frau Krüger … was sollen wir tun? Ich habe so ein richtig mieses Gefühl.“


    Deutlich hörbar entwich Kim ihre Atemluft und sie dachte einige Atemzüge lang nach. Nebenbei rüttelte sie den Staatsanwalt an der Schulter, um ihm wach zu kriegen. „Alarmieren Sie Susanne und die Kollegen! Außerdem soll Susanne dem SEK Teamleiter, Marius Peucker, Bescheid geben, auf dessen Kollegen die Anschläge verübt worden sind. Wir treffen uns in spätestens zwei Stunden auf der Dienststelle zur Lagebesprechung. Vielleicht schaffe ich es auch ein bisschen früher. Bevor ich es vergessen, informieren Sie außerdem Hartmut über das Verschwinden von Herrn Gerkhan!“
    „Sollen wir zwischenzeitlich keine Fahndung nach Semir rausgeben?“
    „Nein lassen Sie das! Frau Dorn, unternehmen Sie nichts, bis ich auf der Dienststelle eintreffe! Und vor allem, kein Wort an eine andere Dienststelle oder die Staatsanwaltschaft!“ Kim Krüger hatte inzwischen ihre Bemühungen, ihren Bettnachbarn zu wecken, verstärkt.
    Der Staatsanwalt grummelte mürrisch vor sich hin. „Lass mich doch weiter schlafen! Ich bin müde!“, schob Kims Hand zur Seite und drehte sich einfach auf die andere Seite und begann sein Schnarch-Konzert einige Tonlagen lauter von neuen.
    „Na dann eben nicht!“, kommentierte sie das Verhalten ihres Liebhabers.


    Sie schälte sich aus dem Bett, schlüpfte in ihre Kleidung. Das Packen des Koffers beanspruchte nur wenige Minuten. Hendrik hatte sich inzwischen ihr Kopfkissen geschnappt, es an sich herangezogen und mit seinen Armen umschlungen. Ungläubig schüttelte sie bei diesem Anblick den Kopf und murmelte: „Männer!“
    Sie hinterließ ihm auf dem kleinen Schreibtisch eine Nachricht, schnappte sich seinen Autoschlüssel und bat ihn die Hotelrechnung zu übernehmen.
    „Pech gehabt! Es gibt ja noch die Deutsche Bahn oder einen Leihwagen!“, meinte sie trocken, als sie die Zimmertür hinter sich ins Schloss zog.


    Über den Fahrstuhl erreichte sie die Tiefgarage, in welcher der BMW des Staatsanwalts am Abend geparkt worden war. Kaum war Kim auf die A66 in Richtung Köln aufgefahren, kam im Verkehrsfunk die Meldung: Die Vollsperrung der A3 in Fahrtrichtung Köln im Baustellenbereich bei Limburg dauert wegen eines LKW Unfalls noch an.
    „Scheiße … Scheiße!“
    Es folgten noch einige Schimpfwörter, die einer Dame nicht würdig waren, während sie mit Hilfe des Navis nach der schnellsten Ausweichroute suchte. Anschließend holte Kim Krüger alles aus dem Wagen des Staatsanwalts heraus und fuhr mit absoluter Höchstgeschwindigkeit den Umweg über die A61 über Koblenz zurück auf die A3 und dann in Richtung ihrer Dienststelle.


    Kim Krüger schaffte es in rekordverdächtiger Zeit, die Entfernung zwischen Wiesbaden und der Dienststelle zurückzulegen. In mehr als einer Radarkontrolle hatte es verräterisch aufgeblitzt. Doch dies war ihr egal, sollte sich der Oberstaatsanwalt später um die Strafzettel kümmern. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, jede Minute, die sie früher auf der Dienststelle ankam, war kostbar. Gegen 01.15 h nachts traf sie auf der PAST ein. Zwei dunkelblaue BMW, Einsatzfahrzeuge des SEKs Düsseldorf, standen auf dem Parkplatz im Hof. Die Fenster der Dienststelle waren taghell erleuchtet. Drinnen wimmelte es von Menschen.


    Von Semir gab es nach wie vor keine Spur, berichtete ihr Susanne beim Vorbeilaufen an ihrem Schreibtisch. In ihrem Büro wurde sie vom SEK Einsatzleiter, Marius Peucker und Harmut bereits sehnsüchtig erwartet. Der KTU-ler hatte seinen Laptop aufgebaut und einiges vorbereitet. Die Begrüßung fiel sehr kurz aus. Marius Peucker bat darum, dass sein Stellvertreter, der das zweite Einsatzfahrzeug steuerte, mit an der Besprechung teilnehmen konnte. Als er sah, wie Kim ihre Augenbraue nach oben zog, meinte er:
    „Keine Sorge Frau Krüger! Ich vertraue diesen acht Männern dort draußen blind mein Leben an. Keiner von denen ist ein Verräter. Das Leck, das für meine getöteten Kameraden verantwortlich ist, sitzt definitiv woanders!“
    „Über den Maulwurf und wie wir ihn auffliegen lassen, sollten wir uns später den Kopf zerbrechen! Wir sollten uns auf das konzentrieren, was vor uns liegt!“, stimmte sie dem Einsatzleiter zu. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und überlegte. „Na gut, holen Sie ihn rein.“


    Marius Peucker winkte seinem Kollegen Linus Walther, der Sekunden später das Büro betrat. Kim hatte sich währenddessen interessiert hinter Hartmut gestellt und über dessen Rücken hinweg auf den Bildschirm des Laptops gestarrt.


    „Haben Sie was für uns Hartmut?“ Ihre Linke stützte sie auf der Schreibtischplatte ab und beugte sich leicht vornüber, um besser den Ausführungen ihres Kriminaltechnikers folgen zu können. Als der KTU-ler in gewohnter Weise mit einem Fachvortrag beginnen wollte, wies ihn Kim in die Schranken. „Kurzfassung Herr Freund!“
    „Wie immer“, brummte Hartmut missmutig und legte den anwesenden Kollegen seine Erkenntnisse dar, die interessiert seinen Ausführungen folgten.


    Kim Krüger lies einen fragenden Blick in die Runde schweifen. „Herr Peucker, es bleibt bei unserer Absprache. Wir werden keinen unserer Vorgesetzten von diesem Einsatz unterrichten. Ihnen und ihren Männern dort draußen ist klar, dass es im Nachhinein Ärger geben könnte. Gewaltigen Ärger und wir im schlimmsten Fall unsere Jobs an den Nagel hängen können.“


    Der Einsatzleiter und sein Stellvertreter nickten zustimmend. Der Rest des Teams wurde hinzugeholt und das Briefing begann. Die Einsatzbesprechung dauerte knappe zehn Minuten. Die SEK Beamten begaben sich zu ihren Einsatzfahrzeugen, legten ihre Schutzkleidung an und bereiteten sich für den kommenden Einsatz vor.


    Kim Krüger stand in der Mitte des Großraumbüros und begutachtete ihre Rumpfmannschaft. Die Kollegen der Nachtschicht waren zu einer Massenkarambolage auf der A4 in Richtung Olpe gerufen worden. Letztendlich blieb nur noch die Kommissars-Anwärterin Jenny Dorn übrig, um sie zu begleiten.
    Während Kim ihre schusssichere Weste anlegte, die Jenny für sie bereithielt, erteilte sie knapp einige Instruktionen.

    „Susanne, du bleibst am Funk und hältst die Stellung. Herr Freund und Frau Dorn, sie fahren mit mir zusammen!“
    Viertel vor zwei Uhr nachts rollte Kims Fahrzeug, gefolgt von den SEK Dienstwagen, vom Hof der PAST.

    Im Park …


    Unbemerkt von Ben oder Anna erlangte Remzi nach einigen Minuten das Bewusstsein wieder. Zwischen seinen Schläfen hämmerte sein Herzschlag in einem rasenden Takt. Der Grauhaarige fühlte die feuchten Grashalme an seiner Wange, roch den modrigen Geruch der feuchten Erde. Langsam kehrte die Erinnerung an das zurück, was vor wenigen Minuten geschehen war. Ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Die Finger seiner rechten Hand gingen an seinem Oberkörper auf Wanderschaft. Beinahe ungläubig fühlte er die warme Flüssigkeit zwischen seinen Fingern. Dennoch verspürte er keinen Schmerz, hatte das Gefühl zu schweben. Eine merkwürdige Kälte breitete sich von den Beinen her in seinem Körper aus. Der Söldner war erfahren genug, um die Zeichen der Zeit zu erkennen. Die Kugeln des Polizisten hatten ihm tödliche Verletzungen zugefügt. Die Lebensuhr des Serben war so gut wie abgelaufen.

    Getrieben vom Wunsch nach Rache, bäumte sich dessen Körper ein letztes Mal auf. Mit seiner Rechten tastete er über den Waldboden auf der Suche nach seiner entfallenen Waffe ab. Als seine Fingerkuppen über das kühle Metall des Laufes glitten, versetzte es ihm einen Adrenalinschub. Sein Blick klärte sich, als er die Waffe in die Hand nahm und gestützt auf den Waldboden auf Anna zielte, deren Umrisse sich vor dem dunklen Hintergrund im Schein der Taschenlampe deutlich abzeichnete. Ein bösartiges Grinsen überzog sein Gesicht und er fletschte die Zähne wie ein wildes Raubtier. Seine ganze Konzentration lag auf seinem Zeigefinger, bereit den Abzug durchzuziehen, damit seine letzte tödliche Kugel, die er abfeuern konnte, den Lauf seiner Waffe verlassen konnte.


    Eine Explosion erschütterte die Umgebung, ließ den Waldboden unter ihm erzittern. Eine Staubwolke breitete sich aus und versperrte ihm die Sicht auf sein Opfer.


    ****
    Zurück beim Carport


    Das grelle Licht der Scheinwerfer blendete Semir. Er legte seinen Unterarm schützend vor die Augen und erkannte hinter der Windschutzscheibe, das zu einer entsetzten Fratze verzerrte Gesicht von Gabriela Kilic. Neben ihr auf dem Fahrersitz saß ein Kerl mit einem riesigen Schnauzbart, der schussbereit eine Waffe in der Hand hielt. Unbewusst rutschte Semir auf seinem Hosenboden rückwärts, als könnte er so der drohenden Gefahr entrinnen, dass ihn seine Gegner ins Kreuzfeuer nahmen. Er zögerte keine Sekunde, richtete die Mündung seiner MG in Richtung des Audis und eröffnete das Feuer. Das dumpfe Klatschen, als die Kugeln in das Metall des Audis eindrangen, waren unüberhörbar. Das Glas der Scheinwerfer zerplatzte und die Festbeleuchtung im Carport erlosch.


    Instinktiv hatten sich die Kroatin und ihr Fahrer geduckt. Beide suchten notdürftigen Schutz unter dem Armaturenbrett. Die Windschutzscheibe zerplatzte unter den einschlagenden Kugeln in tausend kleine Scherben, die auf die Insassen des Fahrzeugs herunterprasselten.
    „Wir sitzen in der Falle! … Raus hier!“, keuchte Camil im Auto und öffnete dabei die Fahrertür. „Krieche hinter mir vorbei und dann ab ins Haus! Ich gebe dir Feuerschutz!“
    Ohne darauf zu achten, ob die Kroatin dem Befehl Folge leistete, begann er zu schießen und zwang den Autobahnpolizisten in Deckung zu gehen. Seine Komplizen in der Villa hatten seine Absicht begriffen und ballerten ebenfalls wie wild darauf los.


    Die Einschläge waren verdammt nahe und Semir war gezwungen, bis an die Rückwand des Carports in Deckung zu robben. Im Vollsprint rannte Gabriela zum Eingang der Villa, dicht gefolgt von Camil, der sie mit seinem Körper schützte.


    „Verdammter Mist!“, fluchte der Kommissar, als seine Widersacherin und ihr Komplize unbehelligt im Haus verschwanden. „Letzte Chance“, murmelte er für sich selbst, dem drohenden Fiasko zu entkommen. In seiner Hosentasche suchte er nach dem Schlüssel für den PKW, den Elena ihn überreicht hatte. Er drückte den automatischen Türöffner und zu seiner Überraschung gehörte der Autoschlüssel zu keinem der Fahrzeuge im Carport, sondern zu einem Passat, der neben dem Hauseingang geparkt war. In seine Gedankengänge, wie er ungesehen den bewussten Kombi erreichen könnte, eröffneten seine Gegner aus ihrer sicheren Deckung heraus, erneut das Feuer und zwangen ihn, weiter im Carport Schutz zu suchen. Die Geschosse klatschten mit einem dumpfen Laut in die geparkten Fahrzeuge. Zischend entwich die Luft aus den getroffenen Reifen. Querschläger surrten bedrohlich nah an Semir vorbei. Es gab für ihn keine Möglichkeit das Fluchtfahrzeug zu erreichen.


    Seine Widersacher stellten sich äußerst geschickt an und nagelten ihn förmlich im Carport fest und nach wenigen Minuten durchschaute der Türke deren Absicht. Zumindest einer seiner Kontrahenten würde versuchen über die Rückfront des Hauses ins Freie zu gelangen und sich an ihn heranzuschleichen. Er hörte ihre hektischen Befehle, die sie einander zuriefen, sah ihre schemenhaften Bewegungen.
    „Da ihr verdammten Drecksäcke!“, brüllte der Kommissar und feuerte blindlings, was das Magazin seines Schnellfeuergewehres hergab. Ein hohles Klicken verriet ihm die erste Waffe war leergeschossen. Wutentbrannt warf er sie in Richtung des Audis Q7. Suchend blickte er sich nach einem Notausgang um.


    Es gab keinen.


    Er saß im Carport in der Falle, in einer tödlichen Falle. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er dieses Spiel verloren hatte. Doch etwas schwor er sich, er würde diesen Killern einen erbitterten Kampf bis zum Ende liefern.

    Als das Sternenmeer vor seinen Augen sich verflüchtigte, biss Ben die Zähne zusammen und erstickte jeden Laut der Qual, der aus seiner Kehle kommen wollte, schon im Keim. Scharf sog er die Atemluft ein und versuchte den Wundschmerz zu verdrängen. Im Zeitlupentempo robbte er über den Unterarm den letzten Meter zu Anna und Elena und richtete langsam seinen Oberkörper auf. Sein Kreislauf fing an verrückt zu spielen. Ein Funkenregen tanzte vor seinem Augen. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, stützte er sich unwillkürlich am Rücken der Russin ab. Unter seiner Handfläche spürte er eine klebrige, warme Flüssigkeit. Der Schock saß, es war Blut.

    „Anna? Bitte antworte doch!“, nuschelte er flehentlich. Sein Herzschlag raste und ein neuer Dimension und ein Adrenalinschub schoss durch seine Blutbahnen.

    „Ich bin in Ordnung Ben!“, hauchte Anna, auf dem Waldboden liegend, „aber der Kerl hat Elena erwischt! Was ist mit diesem Schwein? Ist er tot?“ „Ich hoffe es!“, erwiderte der Polizist.

    Die Erleichterung in seinem Tonfall war unüberhörbar. Argwöhnisch ließ er seinen Blick in Richtung der Villa umherschweifen. Gab es noch weitere Verfolger? Wenn ja, so waren sie denen hilflos ausgeliefert. Am anderen Ende des Grundstücks brach ein wildes Feuergefecht aus. Das gab ihm zumindest die Gewissheit, Semir war noch am Leben. Die junge Russin schnaufte röchelnd und stöhnend vor sich hin. Vorsichtig zog er Elena von seiner Freundin herunter. Auf dem Waldboden sitzend, lehnte er sich gegen einen Baumstamm, der ihm Halt bot. Ben versuchte langsam und kontrolliert zu atmen. Das Rauschen in seinen Ohren verschwand nach und nach. Er bettete den Kopf der jungen Frau auf seinen Schoß, während Anna deren Oberkörper abtastete.

    „Fuck … fuck … fuck!“, entfuhr es der Ärztin gar nicht damenhaft und erklärend fügte sie für Ben hinzu, „die Kugel muss die Lunge getroffen haben. Ich muss Elena irgendwie helfen, sonst erstickt sie an ihren eigenen Blut!“

    Während Ben mit seinem nächsten Schwächeanfall kämpfte, hörte er wie seine Freundin den Boden nach ihrem Arztkoffer absuchte, den sie vor wenigen Minuten achtlos zu Boden hatte fallen lassen. Das warme Blut der Verletzten durchtränkte den Stoff seiner Hose. Er tastete nach der Wunde und drückte die Handfläche darauf. Beruhigend strich er der Verletzten mit der anderen Hand über ihr Haar und redete auf Elena ein. „Nur noch ein bisschen durchhalten Mädchen! … Du sagtest einmal, diese Villa steht in einem Wohngebiet. Die Schüsse werden von den Menschen, die in der Nachbarschaft wohnen, gehört!“, er richtete seinen Blick auf Anna. „Die Kollegen werden kommen! … Ganz sicher! … Wir müssen nur alle noch ein bisschen durchhalten!“

    Dem jungen Polizisten war klar, dass eine normale Streifenwagenbesatzung, hilflos sein würde. Wenn, dann müsste ein kompletter Trupp von SEK Beamten anrücken, um sie aus ihrem Gefängnis zu befreien. Und das konnte dauern. Für einen Moment schloss er die Augen und lauschte, wie Anna den Stoff von Elenas Shirt auftrennte und die Folienverpackung des Verbandsmaterials aufriss. Sie schob Bens Hand zur Seite und drückte die Wundkompressen auf die Einschussstelle.

    „Hilf mir bitte! Presse damit weiter fest auf die Wunde!“, forderte sie Ben auf. Anna kramte weiter in ihrer Arzttasche, die sie all die Tage wie ein Heiligtum gehütet hatte. „Na also!“, brummte sie zufrieden, als sie die kleine Taschenlampe und ihr Stethoskop in der Hand hielt. Die Ärztin drehte Elena ein bisschen, hörte ihre Atemgeräusche ab und leuchtete auf die Wunde. „Pfff!“, war ihr Kommentar. Im Lichtkegel konnte Ben erkennen, dass die Kugel seitlich rechts hinten unterhalb des Schulterblatts in den Brustkorb eingedrungen war. Der Lichtschein wanderte hoch zu Elenas Gesicht, die deutlich hörbar nach Luft schnappte.

    „Luft! … Luft!“, röchelte die Ärmste.

    Ihre Haut begann sich zu verfärben. Anna leuchtete die Fingerkuppen an, die sich leicht bläulich zu färbten. Wie wild suchte Anna nach Gegenständen in ihrer Tasche. „Ok!“, meinte seine Freundin. Deutlich hörbar atmete sie mehrmals durch. „Wir werden ein bisschen improvisieren müssen, aber darin bin ich ja mittlerweile geübt. Du musst mir mit der Taschenlampe leuchten und gleichzeitig Elena festhalten! Schaffst du das?“, fragte sie Ben schon beschwörend.


    „Wie stellst du dir das vor!“, entgegnete er resignierend, „ich habe nun mal nur zwei Hände!“


    Anna leuchtete ihrem Freund kurz ins Gesicht und erschrak. Sein Gesicht war aschfahl und auf der Stirn von einem dünnen Schweißfilm überzogen. Augenblicklich wurde ihr bewusst, dass Ben am Ende seiner Kräfte angelangt war und kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch stand. Ok, du musst stark bleiben, sprach Anna sich innerlich selbst Mut zu. Nichts anmerken lassen, jede Sekunde zählte.


    „Na einfach so!“, entgegnete sie und steckte ihm die Taschenlampe in den Mund. „Du darfst dich nur nicht bewegen und wenn du kein Blut sehen kannst, schließ einfach deine Augen!“
    Sie streifte sich ein Paar Handschuhe über, legte sich ein Skalpell bereit. Im schwachen Lichtschein der Taschenlampe sah sie seinen fragenden Blick. „Ich muss ihr so schnell wie möglich hiermit eine Thoraxdrainage legen!“ Dabei riss sie eine sterile Verpackung auf und holte ein Heimlichventil raus. „Halte Elena gut fest! … Ich habe nichts, um sie zu betäuben! Und ich werde ihr weh tun! … Höllische Schmerzen bereiten!“


    Geschickt desinfizierte sie die Hautpartie über den Rippen, an der sie das Skalpell ansetzen wollte. Ben beugte sich ein wenig vornüber, um mit seinem Körpergewicht Elena zu fixieren und schloss die Augen. Er hatte in den letzten Tagen und Wochen zu viel durchlebt, als das er die lebensrettende Maßnahme mitanschauen konnte. Für einen Moment bäumte sich Elena vor Schmerz auf, schrie ihre Qual hinaus und fiel bewusstlos in sich zusammen.

    „Geschafft!“, kam es voller Erleichterung wenig später von Anna.


    Ben war endgültig an seine körperliche Grenze angelangt. Kraftlos entfiel die Taschenlampe seinen Lippen. Der Boden, auf dem er saß, fing an zu schwanken und ihm wurde übel. So sehr er sich dagegen wehrte, er verlor den Kampf gegen die Schmerzen und seiner Schwäche. Dumpf und weit entfernt nahm er Annas Entsetzensschrei wahr, bevor er in sich zusammensank und endgültig abdriftete. Der Schleier der Dunkelheit nahm ihn auf.

    Zurück im Park …


    „Seid ihr fertig?“, zischte Ben in Richtung der beiden Frauen.


    Sein Blick wanderte wieder zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Er glaubte dort in der Dunkelheit eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Nur vage konnte der Polizist die Umrisse einer menschlichen Gestalt erahnen, die auf sie zu gehumpelt kam. Mit jeder Minute, die verstrich, gewöhnten sich seine Augen besser an die vorherrschenden Lichtverhältnisse im Schatten der alten Baumriesen. Angespannt lauschte er mit allen Sinnen, da kaum ein Strahl des Mondlichtes den Boden des Parks erreichte. Da, das Knacken eines Astes, der unter der Last menschlicher Schritte zerbrach. Das Rascheln des Laubes, das welk und dürr unter den Bäumen lag. Ein Schauer durchrann seinen Körper, als er an der Gestalt den Verfolger erkannte. Sein Pulsschlag begann zu rasen. Remzi! Ben drückte sich noch näher an den Baumstamm heran, der ihm als Stütze diente und versuchte mit den Ästen der benachbarten Fichte zu verschmelzen. Die Fichtennadeln piksten seine nackte Haut an den Armen, doch das störte ihn überhaupt nicht.


    „Das habt ihr euch hübsch ausgedacht! Einfach so verschwinden!“, brummte die tiefe Stimme des Jägers mit einem drohenden Unterton, als er die Verfolgten erspähte.
    Remzi trat aus dem Schatten der Eiche mit ihren tiefhängenden Ästen heraus. Schwer atmend, auf seine Krücken gestützt, stand er da und lauerte wie ein Raubtier nach seiner Beute.


    Ben spürte, wie er zu zittern begann. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Die Angst nahm seinen Körper in Besitz, lähmte förmlich seine Muskeln. Er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Blankes Entsetzen packte ihn, als er die Schusswaffe in der Hand des Grauhaarigen erkannte, in deren silbernen Lauf sich das Mondlicht spiegelte. Ben biss die Zähne zusammen. Er wollte keine Angst mehr vor diesem Monster in Menschengestalt haben. Er wollte nicht sterben, wollte nicht, dass Anna und Elena etwas passierte … Der pure Willen zum Überleben übernahm die Kontrolle seines Denkens und Handelns. Dennoch brachte seine Kehle nur ein heißeres Krächzen hervor.
    „Deckung! Geht in Deckung!“
    Fast gleichzeitig riss Ben seine Waffe hoch und brachte sie in den Anschlag, um den Abzugshahn durchzuziehen.


    Zu spät! … Seine Warnung kam zu spät! … Die Reaktion des Polizisten kam zu spät!


    Unter den Bäumen vor ihm blitzte das Mündungsfeuer aus Remzis Waffe diesen gewissen Sekundenbruchteil früher auf, auch wenn der Söldner im ersten Moment von dem Warnruf seitlich versetzt irritiert war.


    Einmal .. . zweimal … leuchtete das Mündungsfeuer der Waffe auf.


    Eine Frau schrie getroffen auf ….


    Bens Augen weiteten sich vor Entsetzen, seine Instinkte übernahmen sein Handeln. Wie wild feuerte der verletzte Polizist das komplette Magazin der Pistole in Richtung seines schlimmsten Feindes, dessen Gestalt er im Schein des Mondlichts nur erahnen konnte. Was Ben nicht erkennen konnte, die Einschläge der Kugeln rissen Remzi förmlich herum und der Söldner stieß einen markerschütternden Schrei aus, als er getroffen zu Boden sank.


    „Anna! … Anna!“, schrie Ben gequält auf und warf die leergeschossene Waffe achtlos zu Boden.
    Keine Antwort, nur ein schmerzvolles Stöhnen kam aus der Richtung der beiden Frauen. Panik erfasste den jungen Polizisten. Ein letzter Blick auf den leblosen Körper von Remzi, den er nur als Schattenriss wahrnahm und er mobilisierte seine letzten Energiereserven, löste sich vom Baumstamm und humpelte los. Die Sorge um seine Freundin trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. Warum antwortete sie nicht? Warum nur?

    „Anna … Anna, so antworte doch? … Was ist mit dir?“, rief er.


    Einzig dieses schmerzvolle Stöhnen bekam er zur Antwort. Obwohl die Distanz zwischen ihm und den beiden Frauen nur wenige Meter betrug, kam sie Ben endlos lange vor. Jeder Schritt war eine Quälerei. Die Angst und Sorge um Anna verdrängten die Schmerzen aus seinem Bewusstsein. Sein Atem ging keuchend. Zwei Schritte noch, motivierte er sich, als eine Wurzel für ihn zur Stolperfalle wurde. Irgendwie versuchte er mit seinen Händen den Sturz abzufangen und konnte es trotzdem nicht verhindern, dass er mit seiner lädierten linken Körperseite auf dem Boden landete. Der Schmerz, der beim Aufprall seinen Körper durchflutete, raubte dem Dunkelhaarigen nicht nur den Atem sondern auch für einige Sekunden die Besinnung.

    Aus der Sicht von Gabriela


    Als der schwarze Audi die Autobahn A3 verließ und in Richtung Herler Ring abbog, schreckte der alarmierende Anruf von Remzi Berisha Gabriela aus ihren Träumen. Die Gefangenen waren im Begriff zusammen mit der Russin einen Fluchtversuch zu unternehmen. Auf den letzten Kilometer zu ihrem Domizil haderte die Kroatin mit dem Schicksal. Vor einigen Tagen hatte sie einen sterbenden Ben Jäger in der Villa zurückgelassen. Wie konnte es nur möglich sein, dass er mit den beiden Frauen nun fliehen konnte?
    Für Gabriela glich es einem Déjà-vu. Es war wie damals … vor einem Jahr … die Erinnerungen schossen in ihr hoch, ihr toter Bruder, der im Schuppen verblutet war … die Blutspur im Wald … Außer sich vor Wut und Zorn fing sie an im Auto zu toben.


    „Dieser widerliche Bastard! … Hat er uns das alles nur vorgespielt??? … Der Kerl war doch am Verrecken! …. Der war tot …. So gut wie tot! …. Du hast es doch auch gesehen! … Behauptet, der Kerl überlebt die Schusswunde nicht!“


    Nach einem kleinen Seitenblick zu seiner Beifahrerin zog es Camil vor zu schweigen. Im Lichtschein der Straßenlaternen erkannte er, dass das Gesicht der Kroatin vor Hass zu einer grässlichen Fratze verzerrt war. Diese wetterte weiter wie eine Verrückte vor sich hin. Als er es vorzog, nicht darauf zu reagieren, stupste Gabriela ihn so heftig an der Schulter an, dass er fast das Lenkrad verrissen hätte.
    „Camil, ich rede mit DIR! … ANTWORTE gefälligst!“, brüllte sie den Fahrer an.
    „Verdammt! …. Ich bin kein Hellseher! …“, gab er in der gleichen Lautstärke zurück, „Du hast bei Remzi gesehen, was die Kleine von Jäger als Ärztin drauf hat!“, was Gabriela ein missmutiges „Pfff“ entlockte. „Kein Plan, was die mit Jäger angestellt hat, um ihn wieder auf die Beine zu bringen. Ich für meinen Teil, hätte keinen Cent auf dessen Überlebenschancen gewettet!“


    Langsam bog der Audi vom Buchheimer Ring auf die stockfinstere Zufahrtsstraße zur Villa ein. Im Dunkel des Waldes tauchte das große Rolltor im Scheinwerferlicht auf. Gabriela, die ihre Pistole vorsorglich aus der Handtasche geholt hatte, fuchtelte damit wild umher. Ungeduldig wartete sie darauf, bis sich das schwere Rolltor langsam öffnete. Der Audi rollte in Schrittgeschwindigkeit auf das Grundstück.


    „Jäger! …. Jäger! … Ich kriege dich! … Ich knall dich ab und zuvor bringe ich vor deinen Augen deine heißgeliebte Freundin um!“ Ihre Stimme überschlug sich dabei vor Hass. Sie geiferte und tobte regelrecht vor sich hin. „Jeden Knochen einzeln soll dir Remzi brechen!“


    Camil warf einen besorgten Blick auf seine Beifahrerin. Bei sich dachte er, es wird wirklich Zeit, dass er Köln verließ, bevor diese Wahnsinnige ihn mit in den Abgrund zog. Vielleicht noch heute Nacht? Vereinbarungsgemäß hielt er den Audi an, bis sich das große Rolltor der Zufahrt hinter ihnen schloss. Prüfend scannte er mit seinen Blicken die Umgebung, ob er von den Flüchtigen etwas entdeckt konnte. Zu seiner Linken befand sich das parkähnliche Gelände, dessen Rand Rhododendrenstöcke säumten und so auch optisch von der Zufahrt abtrennten.


    Der Schall von abgefeuerten Schüssen war selbst durch die geschlossenen Fensterscheiben des Wagens zu hören. Gabriela drückte auf die Taste für den elektrischen Fensteröffner. Surrend fuhr die Scheibe in der Beifahrertür nieder.


    „Verfluchte Scheiße! Sind die denn verrückt geworden! Der Krach von dieser Schießerei lockt ja selbst den dümmsten Bullen an! Haben diese Idioten noch nie was von Schalldämpfern gehört! Idioten! … Idioten! … Bin ich denn nur von Idioten und Anfängern umgeben! …“, wetterte sie los. Sie hatte schon den Türgriff in der Hand um auszusteigen, als ihr Camil besorgt ins Wort fiel.
    „Halt! … Da stimmt was nicht Gabriela!“ Wieder sondierte er argwöhnisch die Umgebung, die Zufahrt, die spärlich beleuchtet vor ihnen lag. „Wer liefert vier ausgewachsenen Männern so ein Feuergefecht! Dieser halbtote Bulle bestimmt nicht. Die Russin? Ich habe ein ganz mieses Gefühl!“, unkte der sonst so schweigsame Mann. Er zog dabei seine Pistole aus dem Schulterhalfter, entsicherte diese und ließ das Fahrzeug in Schrittgeschwindigkeit die Zufahrt zur Villa hochrollen. Prüfend richtete er seinen Blick nach vorne und zur Seite ins Gebüsch. Dabei murmelte er still in sich hinein: „Das gefällt mir nicht …. Das gefällt mir überhaupt nicht!“


    Je näher der Audi dem Eingangsbereich der Villa kam, desto klarer wurde den beiden Insassen, dass sich vor ihren Augen ein Drama abspielte. Aus den Fenstern des Hauses wurde in Richtung des Carports und der Garagen geschossen. Wer auch immer sich dort verbarrikadiert hatte, erwiderte das Feuer mit einem Maschinengewehr. Die Feuerstöße leuchteten im Dunkel auf. Die Leiche eines der Kovac Zwillinge lag auf den hellen Kieselsteinen halb im Carport, halb zwischen den dort geparkten Autos.


    Im Licht der Scheinwerferkegel erkannte Gabriela, wer im Carport hinter dem schwarzen Toyota Deckung gesucht hatte. Es war der Mensch, den sie am meisten fürchtete und am wenigsten dort erwartet hatte: Semir Gerkhan. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer dämonischen Fratze.
    „Davao je ovdje!“, entfuhr es ihr (²)


    (²) Der Teufel ist da

    Aus der Sicht von Semir


    Nachdem sich Semir von Ben und den Frauen getrennt hatte, hetzte er so schnell es die Dunkelheit erlaubte, durch das Dickicht des Unterholzes in Richtung der Außenmauer. Immer wieder hielt er für einen Moment inne und warf einen prüfenden Blick in Richtung der Villa. Auch ihm war nicht entgangen, dass das Innere des Hauses und der Außenbereich mittlerweile hell erleuchtet waren und endgültig alle Bewohner erwacht waren. Er hörte die Rufe der Gangster in dieser fremdländischen Sprache, sah schemenhaft ihre Umrisse im Inneren des Hauses und die Gestalten auf der Terrasse.

    Die Jagd auf die Flüchtigen begann.

    Die Zeit drängte.


    Der Schattenriss der Außenmauer und das hohe Gras verdeckten ihn für seine Gegner, als er leicht gebückt daran entlang huschte. Etwas außer Atem erreichte er ungesehen die Ecke, wo das Carport an die Mauer gebaut worden war und er vor einer gefühlten Ewigkeit auf das Grundstück gesprungen war. In dem dunklen Winkel presste sich der Türke mit dem Rücken gegen die Mauer und versuchte sich zu orientieren.
    Der Lichtschein der Lampen, die den Bereich vor dem Eingangsportal und der Garage mit dem angrenzenden Carport taghell erleuchteten, reichte nicht bis zur Außenmauer. Auf der Eingangstreppe stand der Glatzkopf mit schwarzem Rauschebart und schien jemanden in seiner Nähe eine Anweisung in einer fremden Sprache zuzurufen. Semir sank zu Boden. Vorsichtig kroch der Türke auf allen Vieren weiter bis zur Mauerkante und riskierte einen Blick um die Ecke. Die Dreckskerle schienen seine Absicht, ein Auto zu entwenden, erahnt zu haben. Fast schon demonstrativ stand einer der Südländer mit entblößtem Oberkörper und einer MG im Anschlag vor den geparkten Fahrzeugen und sondierte mit seinen Blicken das Gelände in Richtung Villa und dem Park mit der Zufahrt. Ein weiteres Gewehr hing über dessen Schulter. Unten herum trug er eine Jogginghose und die Füße steckten in Badelatschen.


    Langsam schob Semir seinen Oberkörper wieder zurück in die Deckung der Mauer und überlegte einige Herzschläge lang seine nächsten Schritte. Er machte nicht den Fehler, seinen Widersacher zu unterschätzen. Ben hatte Recht, die Typen waren höllisch gefährlich. Jedoch musste er es schaffen in den Rücken des Typen zu gelangen, um den Kerl außer Gefecht zu setzen, koste es was es wollte. Mehrmals atmete der Türke tief durch, zog seine Schusswaffe aus dem Holster, entsicherte diese und ließ sie gleich einem Ritual um seine Finger tanzen. Geschickt wie eine Schlange kroch er am Boden entlang, um die Ecke und verschwand im Carport. Dort richtete er sich etwas auf, in der Hocke sitzend, blickte sich sichernd um. Der geparkte Toyota verdeckte ihn vor seinen Gegnern, als er anschließend in gebückter Haltung das Heck des Fahrzeugs umrundete.


    Die hektischen Rufe der Männer, die die Flüchtigen suchten, schallten über das Grundstück. Semir schaffte es in den Rücken des Südländers zu kommen. Als er sich leicht aufrichtete, um den Mann mit seiner Waffe niederzuschlagen, peitschte ein Schuss auf. Das Geschoss verfehlte ihn knapp und drang mit einem Klatschen in das Metall der Autokarosserie. Was darauf folgte, geschah in wenigen Sekunden.
    Der Bärtige an der Eingangstür der Villa stieß einen lauten Warnruf in Richtung seines Bruders aus und feuerte erneut sein Maschinengewehr auf Semir ab und zwang diesen damit in Deckung zu gehen. Sein Bruder Dragan drehte sich um und hatte in der Bewegung bereits seine MG schussbereit im Anschlag. Er brauchte nur noch den Abzug durchzuziehen und der Türke würde von den Kugeln durchsiebt werden.
    Doch Semir war diesen gewissen Sekundenbruchteil schneller. Den Abzug durchziehen, sich in Deckung fallen lassen, abrollen, waren instinktive Bewegungen des Autobahnpolizisten, die ihm das Leben retteten. Die Kugel des Türken traf den Südländer mitten im Oberschenkel. Im Fallen zog der verletzte Mann den Abzug der Maschinenpistole durch. Deren Kugeln fraßen sich in die Decke und Wände des Carports oder prallten als jaulende Querschläger ab und schrammten mehr als einmal hautnah am Türken vorbei. Kleine Gesteinsbrocken aus der Decke regneten auf den Polizisten herab. Semir robbte ein wenig zurück, um aus der Schusslinie und dem Sichtfeld des Glatzkopfes zu gelangen, der ebenfalls in seine Richtung feuerte. Er hatte keine Lust als Kugelfang zu dienen.


    Eng an das Hinterrad des Toyotas gepresst, starrten sich der Autobahnpolizist und der am Boden liegende verletzte Söldner an. Fast regungslos belauerten sich die beiden Gegenspieler einige Atemzüge lang. Der Verletzte keuchte vor Schmerzen und seine Augen glühten vor Hass. Der Kies der Zufahrt färbte sich unter dem verletzten Bein blutrot. Jeder für sich schien seine Chance zum Überleben abzuschätzen. Es verging eine Sekunde und noch ein, für den Türken fühlten sie sich wie eine Ewigkeit an.
    „Polizei! … Lass fallen!“, brüllte Semir in Richtung seines Gegners.


    Doch der Söldner ignorierte die Worte des Polizisten und richtete seinen Oberkörper ein wenig auf. Ein hämisches Grinsen umspielte dabei die Mundwinkel von Dragan Kovac. Semirs Instinkt schlug im gleichen Atemzug Alarm, als er dabei dieses verräterische Aufblitzen in den Augen seines Gegners sah. Ihm blieb keine andere Wahl als der am bodenliegende Mann erneut den Finger krümmte, um den Abzug durchzuziehen. Blitzschnell schaffte der Türke es als Erster, seine Waffe abzufeuern.
    Der Getroffene riss die Augen weit auf, als die tödliche Kugel links neben dem Brustbein in seinen Körper eindrang und das darunter liegende Herz förmlich zerriss. Dabei stieß der Söldner einen gellenden Todesschrei aus. Das Maschinengewehr entfiel kraftlos dessen Händen und sein Oberkörper sank in sich zusammen.


    Der Türke drückte sich zurück in die Deckung des Autos. Sein Atem ging stoßweise und sein Herzschlag raste. Aber er kam gar nicht dazu einen klaren Gedanken zu fassen, denn das Unheil nahm weiter seinen Lauf. Am anderen Ende des Grundstücks fielen ebenfalls Schüsse. Ein Eisiger Schreck durchfuhr ihn. Doch er konnte nicht weiter über Bens und Annas Schicksal nachdenken, zu sehr saß er selbst in der Zwickmühle. Der Killer gegenüber auf der Eingangstreppe rief nach seinem Bruder und verfiel in ein wütendes, fast schon animalisch anmutendes Gebrüll, als von Dragan Kovac keine Antwort kam. Geschickt veränderte Ivan Kovac seine Position und schoss dabei mit seinem automatischen Gewehr wie wild in Richtung des Türken.
    Heiße Geschoße klatschten vor Semir in den Boden oder neben ihm in das Metall des Autos. Zischend entwich die Luft von getroffenen Autoreifen. Eine der Kugeln schrammte über seine rechte Schulter und hinterließ eine blutige Furche. Doch Semir nahm den Schmerz gar nicht wahr.


    „So kriegst du mich nicht! … Du Dreckskerl! Da musst du schon früher aufstehen!“, brummte er wütend vor sich hin und tastete nach der Verletzung. Er robbte auf dem Bauch ein Stück rückwärts und zielte unter dem Auto hindurch auf seinen Widersacher. Zielen und Schießen war eines für den Kommissar. Wütend jaulte sein Gegner auf, als die Kugel ihn an der Wade streifte. Semir feuerte ein komplettes Magazin leer und zwang den Bärtigen damit zum Rückzug in Richtung Haus. Von dort erhielt er Verstärkung. In der Eingangstür tauchte die Gestalt eines weiteren Mannes auf. Der Polizist verlor keine Zeit. Der Türke hatte nur noch ein Reservemagazin und benötigte dringend eine Schusswaffe. Auf allen Vieren krabbelte er in Richtung der Leiche, zog diese an den Füßen ein Stück zu sich heran in die Deckung des Carports und nahm die beiden Maschinengewehre des toten Söldners an sich.


    Keine Sekunde zu früh!


    Über die Zufahrt kam ein Auto herangerollt, dessen Scheinwerferkegel erfassten ihn und blendeten ihn. Semir musste kein Prophet sein, um zu wissen, wer in diesem Fahrzeug saß.
    Er saß endgültig in der Falle.

    na super ... zum Schluss ein Cliffhanger X(

    sorry Susan, wie kann du bitte an der Stelle aufhören

    was ist mit Ben?

    aber zurück auf Anfang ... meine Hoffnung wurde erfüllt und Jake greift ein :):thumbup:

    setzt alle seine Fähigkeiten, um den für ihn Unbekannten zu retten

    nur hat er es wirklich geschafft?

    bitte um baldige Fortsetzung

    Aus sich des Verfolgers - Remzi


    Remzi Berisha fluchte mittlerweile lautlos vor sich hin. Hätte ihn Gabrielas Anruf nicht vor wenigen Minuten geweckt, wäre den Gefangenen vermutlich ihre Flucht geglückt. Diese vermaledeite kleine Russin. Er ahnte es schon die ganze Zeit über, dass die sich mit der Ärztin etwas ausgedacht hatte. Seine Vorsichtsmaßnahme, den Polizisten mit seiner Freundin ins Obergeschoß verlegen zu lassen, hatte nichts gebracht, weil bis auf Iwan Kovac die anderen Mitglieder des Kovac Clans nur eines im Kopf hatten: Wer darf als nächstes mit der Russin eine Nummer schieben! Anfänger! Blutige Anfänger! Am liebsten hätte er den Zwillingen und Aleksandar eine Kugel durch den Kopf gejagt. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Diesen Fehler würden die drei Brüder und Iwans Sohn spätestens in drei Tagen mit ihren Leben bezahlen, wenn ihre Dienste nicht mehr gebraucht würden.


    Mühsam humpelte er, auf seine Krücken gestützt, hinter Aleksandar Kovac her, der mit einer Taschenlampe die Spur im Gras ausleuchtete. Auch wenn er es nie laut aussprechen würde, so bewunderte Remzi seinen Gegner Ben Jäger. In seinem bisherigen Leben war ihm noch niemand begegnet, der solch einen Überlebenswillen, Mut und Durchhaltevermögen an den Tag gelegt hatte, wie dieser junge Polizist. Der jüngste Kovac deutete mit dem Lichtkegel seiner Lampe auf die Fährte, die die Entflohenen im Gras hinterlassen hatte. Im Schattenriss der Bäume verlief eine weitere Spur des niedergetretenen Grases parallel zum Haus. Aleksandar leuchtete mit dem Lichtkegel der Taschenlampe das Unterholz ab. Nichts … absolut nichts war zu erkennen. Die Fährte endete unter einem Laubbaum mit tiefhängenden Ästen. Der dichte Blätterwald der Buche hatte jeglichen Graswuchs darunter verhindert.


    „Warte!“, blaffte der Grauhaarige den Jüngeren an, als dieser ansetzte, den Geflüchteten blindlings zu folgen. Remzi versuchte sich in deren Lage zu versetzen. Es war ihm noch immer ein Rätsel, wie es der Polizist mit seinen Verletzungen geschafft hatte, sich vom Obergeschoss aus abzuseilen. Niemals, da war der Söldner sich sicher, würde der verletzte Polizisten den langen Weg um das Haus zu den geparkten Fahrzeugen überwinden. Er ließ eine Krücke los und strich sich nachdenklich über gestutzten grauen Bart und versuchte sich in die Situation der Flüchtigen zu versetzen. Was würde er machen?


    Unter den riesigen Bäumen des Parks herrschte Dunkelheit. So gut wie nichts war zu sehen, selbst im Lichtkegel der Taschenlampe konnte er nichts erkennen. Ein Königreich für Nachtsichtgerät kam ihn in den Sinn. Die beleuchtete Auffahrt war von seiner Position aus nur zu erahnen. Das Schaben des Rolltores in seinen Schienen, das die Zufahrt zum Grundstück verschloss, war zu hören. Gleichzeitig das Brechen von Ästen und der schmerzhafte Aufschrei einer Frau. Die Gefangenen hatten sich in zwei Gruppen aufgeteilt, schoss es ihm durch den Kopf. Im Eingangsbereich der Villa erklangen Schüsse. Wütend fauchte Remzi in Richtung von Aleksandar Kovac:

    „Hilf deinen dämlichen Brüdern! Die schaffen es ja nicht einmal mit der kleinen Russin fertig zu werden! Den halbtoten Bullen und seine Freundin kriege ich auch alleine! Na los! … Beweg dich endlich!“, brüllte er in das Hämmern der Maschinenpistole hinein.


    Er änderte seine Marschrichtung und bewegte sich auf das Unterholz zu, wo er das Brechen der Äste gehört hatte. Langsam tauchte er in die Finsternis des Parks und seiner Baumriesen ein. Für einen Moment hielt er inne. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, die unter dem Laubdach der Bäume herrschte. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie ein Fahrzeug im Schritttempo auf das Grundstück rollte. Wie abgesprochen, wartete Camil darauf, dass das Tor wieder verschlossen war, um den Gefangenen keine Möglichkeit zur Flucht durch einen Spalt im Tor zu geben. Wie ein Raubtier auf Beutejagd, verharrte Remzi in seiner Stellung, lauerte und lauschte auf jedes Geräusch in seiner Umgebung. Das Tuscheln von Menschen drang an sein Ohr, sich daran orientierend, humpelte er einige Schritte darauf zu. Die Umrisse einer hell gekleideten Frauengestalt, die sich nach unten bückte, waren zu erahnen, hoben sich von dem dunklen Hintergrund der Bäume und Sträucher ab.


    Remzi war sich absolut sicher, er hatte die beiden Flüchtigen, Ben Jäger und seine Freundin, gefunden. Eine Krücke ließ er achtlos zu Boden fallen, zog eine Pistole aus dem Hosenbund am Rücken, entsicherte diese und legte an.


    Erneut erklangen zwei Schüsse im Hintergrund und der Todesschrei eines Mannes durchdrang die Stille der Nacht. Verdammte Russin, fluchte er lautlos vor sich hin. Die mache ich höchstpersönlich kalt, wenn ich sie lebend in die Finger bekomme, nahm er sich vor. Die Kleine würde qualvoller sterben, als sich es ein Mensch vorstellen konnte. Doch zuerst einmal würde er Jägers Braut kalt machen. Sein Interesse an der Dunkelhaarigen war schlagartig erloschen. Langsam krümmte sich sein Zeigefinger. Sein Ziel, der Rücken der Frau, war nicht zu verfehlen. Ein zynisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Innerlich freute er sich schon darauf in Jägers Visage zu blicken, wenn der Polizist seine tote Freundin in den Armen hielt.

    „Gebt mir noch ein paar Minuten!“, meinte Ben in Richtung von Anna und Elena.


    Deren besorgte Mienen gingen in Richtung der Villa. Durch die herabhängenden Äste der Buche konnten sowohl die beiden Frauen, als auch Ben erkennen, dass sowohl im Erdgeschoß, als auch im Obergeschoß die Fenster taghell erleuchtet waren. Die Außenbeleuchtung der Terrasse und des Eingangsbereiches flammten nacheinander auf und leuchteten die Umgebung der Villa hell aus. Zum Schluss wurde die Zufahrt über kleine Kugellampen in ein düsteres Licht getaucht. Hektische Rufe in einer fremden Sprache erschallten über das Grundstück.


    Bens Blick wanderte zurück zur Poolanlage. Deutlich war ihr Fluchtweg im hohen Gras erkennbar. Ihm stockte fast der Atem, als sein ärgster Widersacher Remzi, auf Krücken gestützt, über die Terrasse in Richtung Freitreppe humpelte. Fast wie Nadelstiche konnte er dessen Blicke spüren, als dieser den Park musterte.


    Vor Wut schäumend, stand der Grauhaarige auf seinen Krücken gestützt da und starrte in das Dunkel der Nacht hinein. Verbissen versuchte er den Fluchtweg zu erkennen.
    „Ich krieg euch Schweine!“, schrie in Richtung des Parks auf Deutsch, der Rest seiner Worte richtete er in seiner Muttersprache an die Helfer im Haus.


    Der Ruf des Serben ließ einen wahren Adrenalinschub in Bens Blut fließen. Elena, die sich zu Beginn ihres Aufenthaltes in der Villa und dem angrenzenden Park und Waldstück hatte frei bewegen können, erwies sich als ortskundige Führerin. Zu Bens Erleichterung wucherte unter den Baumriesen des Parks fast kein Grasbewuchs, in dem die verräterischen Spuren sichtbar blieben. Leise raschelte das Laub des vergangenen Herbstes, als er gestützt auf Anna und Elena darüber hüpfte. Ben keuchte vor Anstrengung und fragte sich, wie lange er sich noch aufrecht halten würde? Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, schwächelte Bens Körper zunehmend.


    Die Ärztin warf einen prüfenden Blick über die Schulter zurück zur Villa. Zu ihrem Entsetzen bemerkte sie, wie der Grauhaarige mit der Unterstützung von Aleksandar Kovac mühevoll die Freitreppe herunter gehumpelt kam.
    „Remzi folgt uns!“, entfuhr ihr es erschrocken.
    Diese Aussage mobilisierte die letzten Kraftreserven im Körper ihres Freundes. Ben schaffte es für einige Meter seine Schritte zu beschleunigen. Durch den Blätterwald der Büsche, die die Auffahrt säumten, schimmerte das fahle Licht einer Kugellampe. Das Ziel, die Zufahrt zum Grundstück mit dem großen Tor, schien in greifbarer Nähe. Es fehlte nur noch Semir und das Fluchtfahrzeug.


    Elena schritt voran und versuchte in dem Dickicht einen gangbaren Weg für Ben in Richtung Tor zu finden. Plötzlich stoppte sie ab, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Ihr Blick war panisch in Richtung des Zufahrtstores gerichtet, das langsam in seinem Schienensystem aufrollte. Durch eine Lücke im Gestrüpp konnte sie die Scheinwerferkegel und die Umrisse des schwarzen Audis Q7 in der Toröffnung erkennen.

    Gabriela Kilic war zurück.


    Elena hätte sich in dem Moment vor Angst fast in die Hosen gemacht. Alles schien in diesem Augenblick verloren … umsonst … keine Flucht. Diese Tatsache schockte die junge Frau dermaßen, dass sie unbewusst einige Schritte rückwärts machte und nicht mehr auf ihren Weg achtete. Die kleine Russin stolperte durch ihre Unachtsamkeit über eine aus dem Boden ragende Wurzel und stürzte in das vor ihr liegende Unterholz. Das Knacken und Bersten von Ästen, die durch den Aufprall ihres Gewichtes zerbarsten, verbunden mit ihrem Schmerzensschrei, waren weithin hörbar.


    Ben befürchtete, dass diese verräterischen Geräusche ihrem Verfolger in der Dunkelheit den richtigen Weg weisen würden. Anna drückte ihn in die Richtung einer Gruppe von Nadelbäumen, die fast schwarz wie die Nacht emporragten. Erst als er einen sicheren Halt am Stamm einer riesigen Fichte gefunden hatte, deren untersten Äste schon längst verdorrt waren, eilte sie zu Elena, um dieser zu helfen, sich aus dem Gestrüpp zu befreien. Die helle Kleidung der beiden Frauen hob sich deutlich sichtbar von der Umgebung ab.


    „Ist dir etwas passiert?“ wisperte Anna. – „Nein! … Nichts kaputt! … Kratzer!“, gab die Gestürzte ebenso leise zurück und rieb sich dabei ihr linkes Handgelenk. Der Schmerz trat in den Hintergrund, als mit einem leisen Brummen des Motors der schwarze Audi zum Greifen nah, auf der Zufahrt an ihnen vorbeirollte und kurz stoppte.


    „Oh mein Gott!“, entfuhr es Anna mit bebender Stimme, „Die Hexe ist wieder da!“


    Mit weit aufgerissenen Augen beobachteten beide Frauen das Fahrzeug. Hatte man sie entdeckt? Das Rolltor kehrte auf seinem Schienensystem mit einem leichten Quietschen und Ächzen zurück in seine Ausgangsstellung. Der mögliche Fluchtweg nach draußen in die Freiheit war wieder versperrt.
    Ben lehnte regungslos am Baumstamm und beobachtete durch das Dickicht der herabhängenden Äste ebenso wie die beiden Frauen das dunkle Fahrzeug, das durch die Lichtkegel der Scheinwerfer deutlich sichtbar war. Unwillkürlich tastete er nach der Waffe von Aleksandar und krampfhaft umschlang er den Griff der Pistole fester. Ein Zittern durchlief seinen Körper und sein Herzschlag hämmerte wie wild in seiner Brust. Ein Schuss peitschte in einiger Entfernung auf.


    Semir, durchfuhr es Ben voller Schreck. Sie hatten seinen Freund entdeckt und gestellt. Weitere Schüsse folgten, die vom Stakkato eines Maschinengewehrs beantwortet wurden.


    Eine verhängnisvolle Stille breitete sich aus.


    Zwei weiteren Schüssen fielen in der Nähe der Villa und der markerschütternde Todesschrei eines Mannes durchdrang die Stille der Nacht.

    Für einen Wimpernschlag schloss Ben die Augen und konzentrierte sich. Semir hatte ihm das Seil um den Oberkörper unterhalb der Achseln geschlungen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, setzte er sich auf das Gitter und schwang seine Beine nach draußen. Es war viel schwerer, als es sich der verletzte Polizist vorgestellt hatte. Er verdrängte die aufkommenden Schmerzen. Ihm war klar, dass er es später bitter büßen musste, doch dies war ihm egal. Es zählte nur die Flucht.


    „Ich sichere dich Ben!“, bekräftigte der Türke. Wie ein Kletterprofi handhabte Semir das Seil, um Ben langsam an der Hauswand hinabgleiten zu lassen.


    Ben konnte sich nicht richtig mit seinem rechten Bein von der Hauswand abstoßen. Mehr als ein Fingernagel wurde Opfer des rauen Außenputzes der Wand. Anna hatte ihm ein Stück Mull zwischen die Zähne geschoben, auf das er jetzt dankbar biss, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Sein angebrochenes rechtes Bein bekam zuerst Bodenkontakt. Wie ein Blitz durchschoss der Schmerz seinen Körper. Er lehnte sich an die Hauswand an und versuchte das Sternenmeer vor seinen Augen zu vertreiben.


    „Alles in Ordnung mit dir?“ kam es von oben zischend.

    Er zeigte mit dem Daumen nach oben. Kein guter Zeitpunkt um Schwäche zu zeigen, Kumpel, sprach er mit sich selbst, reiß dich zusammen, gleich steht Anna neben dir. Semirs Frage bewirkte, dass sein Körper weiter Adrenalin ausschüttete, was ihm half die kritischen Sekunden zu überstehen. Mit zitternden Fingern schaffte Ben es den Knoten zu lösen. Das Seilende verschwand. Er trat einen Schritt zur Seite in Richtung Terrasse und blieb an der Wand lehnend stehen und wartete. Er spuckte das Stück Mull aus, das achtlos neben ihm auf den Boden fiel. Ein schabendes Geräusch und wenige Augenblicke später stand Anna neben ihm. Ben setzte sein bestes „Mir geht es gut Lächeln auf!“, zog seine Freundin zu sich heran und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. Mit einer Geste seines Kopfes machte er sie auf ein geöffnetes Fenster neben ihm aufmerksam, aus dem das Schnarchen eines schlafenden Menschen drang. Der Kerl sägte im Moment einen kompletten Urwald ab, dachte Ben bei sich. Fernsehschlaf ist immer noch der Beste, denn die flackernden Lichteffekte und die leisen Stimmen die zusätzlich aus dem Fenster drangen, bestätigten Elenas Aussage, dass immer einer der Kovac Brüder des Nachts im Wohnzimmer Wache halten musste.
    Anna huschte an seine rechte Seite und legte Bens Arm um ihre Schulter. Wenige Augenblicke tauchte Elena neben Ben auf und einige Minuten später berührten die Füße des Türken den Boden.

    „Los weg hier!“, drängte Semir.

    Er hatte, als er die Kommode vor die Zimmertür geschoben hatte, als er das Gebimmel eines Handys aus einem der oberen Schlafräume gehört hatte. Es war nur eine Frage von wenigen Minuten bis ihre Flucht entdeckt werden würde. Wie zur Bestätigung schrie eine tiefe dunkle Bassstimme im inneren des Hauses Elenas Namen.


    Das Verschwinden der Russin wurde bemerkt und löste eine Kettenreaktion aus, die sich nicht mehr aufhalten ließ.


    „Verfluchte Scheiße!“, entfuhr es Semir. Er zerrte heftig an Annas freien Arm, während die Russin den verletzten Polizisten an der linken Seite stützte.
    „Los vorwärts! …“
    Auch ohne seine drängenden Worte hatte jeder der Flüchtigen den Ernst der Lage begriffen.


    Die wenigen Meter von der Hauswand über die Terrasse hatte Ben relativ gut überstanden, glichen sie doch der Wegstrecke vom Bett ins Bad und zurück. Doch jetzt stand die erste Herkulesaufgabe vor ihm, über die großzügig angelegte Freitreppe von der Terrasse auf die Ebene des Swimmingpools zu gelangen. Im fahlen Licht des Mondscheins konnte er die Stufen zählen. Mindestens fünfzehn Stück! Hinter den Flüchtenden wurden die wütenden Rufe nach Elena im Haus lauter. Türen wurden zugeschlagen … Eine Bassstimme erteilte hektische Befehle. Im Erdgeschoß flammte das Licht in dem Zimmer auf, aus dem das Schnarchen erklungen war. Missmutig brummte eine Stimme in einer fremdländischen Sprache herum. Semir drängte Elena zur Seite.


    „So Partner! Wir stehen hier wie auf dem Präsentierteller! Ab jetzt heißt es alles oder nichts! Wir müssen in Rekordtempo die Treppe runter und dort rechts drüben unter den Bäumen verschwinden.“, sein Blick richtete sich auf den Jüngeren. „Schaffst du das?“


    „Keine Bange Partner! Solange ich keinen Marathonlauf mit dem gebrochenen Bein machen muss! Die paar Meter krieg ich locker hin!“, versuchte Ben ein bisschen Optimismus zu verbreiten.


    Schon bei der ersten Treppenstufe änderte der junge Kommissar seine Meinung. Am liebsten hätte er lauthals aufgeschrien, als er auf dem linken Bein hüpfend, das erste Hindernis überwand, eine Treppenstufe. Der Schmerz tobte wie eine Feuerlohe hauptsächlich durch seine linke Seite mit seinen angebrochenen Rippen, die mit dieser Art der Bewegung überhaupt einverstanden waren. Ab der sechsten Stufe hörte er auf zu zählen. Krampfhaft verbiss er sich die Schmerzensschreie und bereute es, das Mullstück ausgespuckt zu haben. Am Ende der Treppe liefen ihm die Tränen über die Wangen. In seinem Mund war der eisenhaltige Geschmack von Blut. Er hatte sich die Unterlippe blutig gebissen. Willenlos ließ er sich von Anna und Semir in Richtung des rettenden Baumes mit den tiefhängenden Ästen zerren. Schon lange hatte er keine Kraft mehr, um auf dem linken Bein zu hüpfen. Immer wieder war er leicht auf das Rechte aufgetreten, auch wenn dieses kaum einen Teil seines Körpergewichtes tragen musste, war der Schmerz unerbittlich.


    Im Haus wurde der Krach lauter. In einer fremden Sprache brüllten sich die Männer gegenseitig an. Die Wut in ihrem Tonfall verhieß nichts Gutes. Das Splittern von Holz, als die Zimmertür des Krankenzimmers aufgebrochen wurde und ein dumpfer Schlag, als die Kommode umfiel, drangen durch das geöffnete Fenster nach draußen, das taghell erleuchtet war. Remzi schrie wie von Sinnen seine Söldnerfreunde an, beschimpfte sie auf das Übelste, als er das blaue Seil am Fenstergitter entdeckte.


    Ben nahm das alles wie aus weiter Ferne wahr. Die Feuchtigkeit des Nachttaus auf dem hüfthohen Gras durchdrang seine Strümpfe. Sein linkes Bein fing vor Anstrengung zu zittern, wollte sein Gewicht nicht mehr tragen. Mit Gewalt stemmte er sich dagegen einzuknicken. In seinen Ohren rauschte es nur noch. Die Geräusche seiner Umwelt drangen, wenn überhaupt nur noch sehr gedämpft zu ihm durch.
    Jemand drückte seinen Rücken gegen etwas Hartes. Nach und nach wurde ihm klar, dass es sich um die Rinde eines Baumstammes handelte. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Verzweifelt versuchte er seine Atmung unter Kontrolle zu bringen, Sauerstoff in seine Lungen zu bringen. Sein Körper pumpte, als hätte er gerade zwei Stunden auf dem Laufband im Fitnessstudio verbracht. Ben schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinem Herzschlag, der wie wild zwischen seinen Schläfen pochte. Jemand tätschelte ihn sanft auf die Wange und eine vertraute Stimme sprach ihn an. Es dauerte einige Sekunden, bis er den Sinn der Worte erfasste.


    „Hey Partner! Geht es wieder?“, erkundigte sich Semir bei ihm, „Schaffst du es wieder alleine auf deinen Beinen zu stehen!“
    Langsam öffnete er die Augenlider und selbst in der Dunkelheit, die im Schatten der Blutbuche herrschte, glaubte er die Sorge in den Augen von Semir und Anna lesen zu können.
    „Alles gut! … Alles gut!“, keuchte er, „Gebt mir einfach ein paar Minuten!“
    „Die Strecke bis zum Carport und der Garage schafft Ben niemals in dem Zustand!“, stellte sein Partner nüchtern in Richtung von Anna fest. Er wollte dagegen protestieren und sah doch ein, dass es sinnlos ist.
    „Lasst mich hier zurück! Du hast Recht Semir! Mit mir zusammen ist unsere Flucht schneller zu Ende, bevor sie richtig begonnen hat!“, murmelte Ben resignierend. „Gib mir die zweite Schusswaffe! Ich versuche euch den Rücken frei zu halten!“
    „Ich weiß etwas Besseres mein Freund! … Zurückbleiben gilt nicht! Habe doch keine Lust deinen Chaos-Schreibtisch aufzuräumen!“, widersprach ihm der Türke und umfasste Bens Schultern. Um dessen Mundwinkel zeichnete sich ein leichtes Lächeln ab. „Hörst du!“, beschwor ihn sein älterer Freund, „Aufgeben gilt nicht Partner! Bist es nicht du, der immer sagt, es gibt immer einen Plan B. Wir werden uns trennen. Die Zufahrt zum Haupthaus liegt näher als du denkst. Elena meinte, es sind noch knapp fünfzig Meter quer durch den Park! Hast du verstanden! Fünfzig Meter, die schaffst du mit Unterstützung der Mädels mit Links!“


    Der Verletzte nickte wider besseres Wissen. ‚Na los! Stell dich nicht so an!‘, sprach sich Ben innerlich Mut zu. Die paar Meter schaffst du.


    „Gut! Ich besorge uns einen fahrbaren Untersatz und ihr wartet in der Nähe des Tors. Versteckt euch im Gebüsch oder zwischen den Tannen, verhaltet euch ruhig und wartet auf mich!“ Er drückte seinem jüngeren Freund die Schusswaffe von Aleksandar Kovac in die Hand. „Kannst du damit noch umgehen? Habe leider nur ein Magazin. Also sei sparsam!“


    „Pass auf dich auf, Partner! Mit den Kerlen ist nicht gut Kirschen essen. Unterschätzte sie nicht! Diese Söldnertruppe ist verdammt gefährlich!“


    Sie klatschten sich ab und Semir verschwand in der Dunkelheit der Nacht.

    da wartet man so lange auf eine Fortsetzung der Geschichte :) und dann verpennt man das neue Kapitel :D

    irgendwie war es zu erwarten ... Ben macht so einen kleinen Alleingang

    und was passiert: Man sieht sich immer zweimal im Leben

    muss denn ausgerechnet der Pferdehändler in dem Augenblick von der Jagd zurückkommen X(

    entdeckt Ben und will ihn erschießen X(X(

    das geht mal gar nicht! Ich frage mich auch, wo ist Semir und sein ehemaliger Kollege?

    Wird Jake der Lebensretter in letzter Sekunde :?:

    Bitte um die Fortsetzung ;)

    Zurück in der Villa …


    Das Warten auf Elena hatte begonnen. Während Ben schlief, nutzte Anna die Gelegenheit um Semir klar zu machen, welche Rolle die junge Frau in den vergangen Tagen gespielt hatte und warum sie bereit war, auf ihre Leidensgenossin zu warten. Sie hatten sich in das Badezimmer zurückgezogen. Die raffinierte Beleuchtung des Spiegelschrankes, die von Anna abgedimmt wurde, spendete ein bisschen diffuses Licht. Während die Ärztin auf der geschlossenen Toilette saß, die Beine angezogen und mit ihren Armen umschlungen, hatte sich Semir an die Tür angelehnt und war langsam zu Boden geglitten.

    „Anna, sag mir die Wahrheit! Wie schwer sind Bens Verletzungen wirklich?“
    In knappen Sätzen schilderte die Ärztin dem Autobahnpolizisten das Ausmaß der Wunden und deren vermutliche Ursachen. Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, wie ernst die Verfassung von Ben war. Mit jedem Satz wurde Semir eine Nuance bleicher.

    „Aber…!“
    Sie fiel ihm ins Wort, „Falls du fragst, ob er eine Chance hat, die Flucht durchzustehen? Ich weiß darauf keine Antwort. Ben hat mir in den vergangenen Tagen gezeigt, was für ein unheimlicher Kämpfer er ist. In ihm steckt ein eiserner Wille zum Überleben. … Du hast das Ausmaß seiner Verletzungen gesehen … und er hat sie allen Widrigkeiten zum Trotz überlebt. Und die Schmerztablette, die ich ihm vorhin gegeben habe, hat vermutlich die gleiche Wirkung gegen seine Schmerzen, wie ein Hustenbonbon.“ Es herrschte für kurze Zeit Stille im Bad. Anna blickte dem Kommissar in die Augen. „Außerdem, gibt es denn eine Alternative zur Flucht, Semir? Wie lange könnten wir in diesem Zimmer gegen unsere Widersacher Stand halten, wenn wir uns verbarrikadieren? … Sag mir wie lange? Zehn Minuten oder noch ein paar Minuten länger? Und dann?“


    Der Türke saß ihr regungslos gegenüber und sie wertete sein Schweigen als Zustimmung. Während des Gesprächs war dem Türken bewusst geworden, wie sehr sich Anna seit ihrem letzten Aufeinandertreffen verändert hatte. Aus der resignierenden fast schon gebrochenen Frau, die sie noch vor einigen Tagen gewesen war, war eine Löwin geworden, die verzweifelt um ihren verletzten Freund kämpfte, um die Liebe ihres Lebens.


    „Wenn Elena die nächsten dreißig Minuten nicht auftaucht, fliehen wir ohne sie. Ben meinte einmal, du könntest ein Auto ebenso schnell wie ein Profi knacken. Die automatischen Öffner für das Tor liegen in den Fahrzeugen parat!“

    Semir bewegte seinen Kopf auf und ab. Schwerfällig erhob er sich vom Boden, vorher war Anna von ihrem Toilettensitz aufgestanden und packte das restliche Verbandsmaterial und ein paar Habseligkeiten, die sie im Badezimmer gelagert hatte, in ihren Arztkoffer.

    „Wir sollten unsere Vorbereitungen abschließen. Ich wecke Ben!“, meinte sie, als sie sich ihre Schuhe anzog.

    Sie schlüpfte durch die geöffnete Badezimmertür ins Schlafzimmer, dicht gefolgt von Semir. Der Polizist schnappte sich das Kunststoffseil, das auf der Sitzfläche des Schaukelstuhls lag und begab sich zum Fenster. Auf halben Weg erstarrte er in seiner Bewegung. Da war ein schabendes Geräusch an der Zimmertür, ein Schlüssel wurde ins Schlüsselloch gesteckt … Mit zwei schnell Schritten stellte er sich seitlich neben die Zugangstür und drückte seinen Rücken gegen die Wand. Der Türflügel würde ihn beim Öffnen verdecken. Automatisch griff seine Rechte nach seiner Pistole und zog sie aus dem Holster. Er entsicherte diese fast lautlos und hielt sie schussbereit in der Hand. Es vermittelte ihm ein gewisses Gefühl von Sicherheit. Einen Augenblick lang hielt er den Atem an und schnaufte erleichtert auf, als er im Schein des Badezimmerlichts erkannte, dass die brünette Frau aus der Küche ins Zimmer huschte und die Tür lautlos von innen mit dem Schlüssel hinter sich verschloss. Draußen im Gang und Treppenhaus herrschte Stille und Dunkelheit. Die restlichen Bewohner der Villa schienen zu schlafen.


    Anna eilte derweil auf Elena zu und legte der jungen Frau geistesgegenwärtig die flache Hand auf deren Mund. Entsetzt starrte die Brünette auf Semir, der seine Waffe wieder in das Holster zurücksteckte.

    „Psssst Elena! … Das ist Semir! … Alles gut!“
    „Der Semir?“ – „Ja, der Semir! … Er hat uns gefunden und wird uns bei der Flucht unterstützen!“, erwiderte Anna erklärend zurück.

    „Das gut … sehr gut… Hier!“ Die Russin reichte an den Türken einen Autoschlüssel und eine Schusswaffe, die sie Aleksandar Kovac entwendet hatte, weiter. „Gabriela kommen! Heute Nacht … Bald! … Beeilung! Wir raus….! … Weg!“
    „Weißt du wann Mädchen?“, fragte Semir nach.

    „Vielleicht noch eine halbe Stunde?“ Sie zuckte mit den Achseln und ein Hauch von Angst zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Die rechte Wange war gerötet und leicht angeschwollen. Die Finger des Glatzkopfs zeichneten sich deutlich ab. „vielleicht … auch ein paar Minuten mehr! Schnell machen!“

    „Ok … Ok … Ok! Ich habe es kapiert Mädchen! Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!“ Sein Blick richtete sich auf Anna „Kümmert ihr euch um Ben und ich bereite das Seil vor!“


    Semir blendete aus, was hinter ihm geschah. Eingehend nahm er das Gitter vor dem Fenster im Augenschein. Unzählige Dinge geisterten durch den Kopf des Türken, als er nach draußen blickte. Anna hatte ihm berichtet, dass Ben selbst nach einem Gang vom Bett zur Toilette völlig erschöpft gewesen war. Fieberhaft versuchte er einen Fluchtplan … einen alternativen Fluchtweg zu entwickeln. Sein Freund würde die Strecke durch den Garten oder Park um das Haus herum zum Carport niemals schaffen. Schon gar nicht im Spurt. Eingehend musterte er die Schattenrisse der Bäume des Parks.

    Anna ging ins Badezimmer, um sich für die Flucht anzukleiden. Als die Tür bis auf einem kleinen Spalt geschlossen war, zog Ben Semir zu sich herunter bis dessen Ohr ganz nahe bei seinem Mund war und wisperte: „Versprich mir etwas Partner! … Bring Anna in Sicherheit! Egal was mit mir ist. Lass mich notfalls zurück! … Selbst wenn es mein Leben kostet, rette sie!“
    „BEN …!“, erwiderte Semir entsetzt, „Du weißt, was du von mir verlangst?“
    „Versprich es mir einfach!“
    „Ich verspreche dir nur eines! Ich lasse niemanden in dieser Hölle zurück!“, gab der Ältere grimmig mit einer entschlossenen Miene zurück.


    Die Ärztin kehrte währenddessen ins Schlafzimmer zurück. Aus einer Schublade der Kommode zog sie einige Kleidungsstücke für Ben, die sie auf dem Bett bereit legte. Dazu kam Verbandsmaterial. Zuerst verabreichte sie dem Verletzte eine kleine weiße Pille, die sie auf ihrer Arzttasche zauberte.

    „Die letzte Schmerztablette!“, kommentierte sie ihr Handeln. „Setz dich mal aufrecht hin!“, forderte sie ihn auf und half ihrem Freund beim Aufrichten. Anschließend legte sie ihm einen straffen Verband um die Bauchwunde und die unteren Rippen an, die auf der linken Seite ihrer Ansicht nach angebrochen waren. „So das sollte halten! Für dein Bein habe ich mir auch etwas einfallen lassen.“ Aus dem Kleiderschrank hatte Anna zwei kurze Kleiderstangen geholt, die als zusätzliche Stütze für das angebrochene Bein dienen sollten. Geschickt fertigte sie einen strammen Verband um den rechten Unterschenkel an. „Das sollte dir die nötige Stabilität geben!“ Sie half ihm noch ein Shirt über den Oberkörper zu streifen und eine Jogginghose anzuziehen. Zum Abschluss zog sie dem Verletzten noch ein Paar dicke Socken an. Schuhe gab es nicht für den Verletzten.


    Ben atmete innerlich auf, als Anna fertig war. Zwar hatte er es mehrfach geschafft, ein lautes Stöhnen zu unterdrücken, doch Semir konnte auf dem maskenhaft starren Gesicht seines Freundes ablesen, wie schmerzvoll die Prozedur für ihn gewesen war.


    „Am besten du legst dich noch ein bisschen hin und ruhst dich aus, bis Elena hier auftaucht. Ich habe noch was zur Stärkung!“ Anna reichte ihm zwei Bananen, die Ben mit Appetit verschlang. Langsam ließ er sich zurück auf die Matratze sinken und war wenig später vor Erschöpfung eingeschlafen.
    „Gönnen wir ihm eine Mütze voll Schlaf! Wer weiß, für was die paar Minuten Erholung noch gut sein werden!“, meinte Anna.


    *****


    Auf der A3 Fahrtrichtung Köln – Höhe Limburg – zur gleichen Zeit


    Gabriela hatte es sich auf der Rücksitzbank gemütlich gemacht und döste vor sich hin. Camil stand seitlich vor dem Audi an die Motorhaube gelehnt. Er nutzte die Wartezeit und telefonierte mit seiner Freundin in Kroatien. Ab und an leuchtete ein roter Punkt in der Dunkelheit auf, wenn er an seiner Zigarette zog. Sein Blick war dabei auf die Unfallstelle gerichtet, die von Riesenscheinwerfern des THWs ausgeleuchtet wurde. Seit einer Stunde bemühten sich die Rettungskräfte mit einem Autokran den beschädigten LKW zu bergen. „Wenn alles wie geplant verläuft, ist der Job hier in Deutschland an in ein paar Tagen erledigt und ich bin spätestens am kommenden Wochenende wieder bei dir. Ich liebe dich mein Schatz!“. Er tippte auf den roten Hörer seines Smartphones und beendete das Gespräch. Ungeduldig steckte er sich die nächste Zigarette an. Vor seinen Füßen lagen bereits ein Dutzend Kippen.


    „Na endlich!“, entfuhr es ihm, als das kaputte Fahrzeug an einem Abschleppfahrzeug hing und abtransportiert wurde und warf die halb gerauchte Kippe achtlos zur Seite. Er klopfte gegen die Scheibe der Hintertür des Audis. Die Kroatin öffnete die Autotür und schaute ihn aus verschlafenen Augen erwartungsvoll an.


    „Es geht weiter. Die Polizei hat eine Fahrspur freigegeben. Soll ich Remzi Bescheid geben?“
    Ihr Blick richtete sich auf die digitale Uhr im Display des Armaturenbretts. Eine Stunde nach Mitternacht! Sie schürzte die Lippen und antwortete: „Nicht jetzt! Wenn wir bei Heumar von der Autobahn fahren, geben wir ihm Bescheid. Dann kann er die Russin wecken, damit die uns etwas zum Essen zubereitet.“


    Zögerlich löste sich der Stau auf. Gabriela und Camil setzten ihre Fahrt nach Köln fort. Wenn alles gut ging, sollten sie so gegen zwei Uhr nachts an der Villa eintreffen.

    Der Türke schloss die Augen und atmete mehrmals tief durch. Anschließend öffnete er leise die Tür. Die Stuckleisten an der Decke mit ihren integrierten LED-Leuchten tauchten das Schlafzimmer in ein angenehmes Licht. Er ließ durch den schmalen Türspalt seinen Blick durch den Raum schweifen und vergewisserte sich, dass sich niemand außer ihm Ben und Anna im angrenzenden Zimmer befanden. Der Anblick von Bens Rücken ließen den Türken in eine Art Schockstarre verfallen. Was die Dunkelheit vor wenigen Minuten noch verborgen hatte, brachte die Beleuchtung schonungslos hervor. Unzählige Cuts, tiefrote Striemen, auf den teilweise noch eine Kruste aus getrocknetem Blut lag, überzogen zusammen mit feuerroten Brandwunden den Oberkörper seines Partners. Die Hämatome, die seinen Rücken überzogen, schillerten in gelb und grün Tönen. Der weiße Verband oberhalb der Hüfte bildete einen krassen Kontrast.


    „Oh mein Gott!“, entfuhr es Semir mit einer vor Entsetzen bebenden Stimme, „was haben dir diese Schweine bloß angetan, Ben?“

    Er schritt auf das Bett zu, umrundete es und blieb neben Anna stehen. Beim Klang von Semirs Stimme fuhr Ben vor Schreck zusammen und er versuchte sich in dessen Richtung zu drehen. Die leichte Bewegung löste erneut eine Schmerzenswelle in seinem Unterbauch aus. Ein leises Stöhnen kam über seine Lippen. Aus dem Augenwinkel sah er die schemenhaften Umrisse seines Partners.


    „S…e…m…i…r? …Bist du das wirklich?“, hauchte er heiser. „Kein Traum?“


    „Ja!“, bestätigte der kleine Türke und ergriff die Hand, die sich vom Bett ihm entgegenstreckte. „Ja Ben! … Ich bin es wirklich! Ich habe euch endlich gefunden!“ Semir konnte seine Erschütterung nicht verbergen, als er in Bens ausgemergeltes und schmerzverzerrtes Gesicht blickte. Nochmals murmelte er fast unhörbar vor sich hin: „Was haben diese verdammten Schweine dir nur angetan?“


    Die Verletzungen auf der Brust und dem Bauch seines Partners, soweit sie nicht von dem weißen Verband verdeckt waren, glichen denen auf dem Rücken.


    Ein leichtes Lächeln huschte über Bens Gesicht. „Ich dachte, du hättest mich vergessen! … Die Hoffnung schon aufgegeben, das du nach mir suchst … und jetzt … jetzt bist du da … wirklich da!“, raunte der verletzte Polizist seinem Freund zu.

    Er zog Semir zu sich herunter, der vor dem Bett auf die Knie fiel. Vergessen waren in diesem Augenblick die Schmerzen, überlagert von den Hormonen, die sein Körper vor Glück ausschüttete. Mit seinen Armen umschlang Ben den Türken, drückte sich an dessen Brust, spürte dessen Körperwärme, hörte dessen Herzschlag und fing an zu schluchzen. Der junge Polizist konnte und wollte auch nicht seine Emotionen unterdrücken. Ein Tränenstrom bahnte sich seinen Weg und durchnässte das Shirt des Türken. Dieser war ebenfalls in seinen Gefühlen gefangen und presste seinen Freund an sich.

    „Oh mein Gott Ben! … Warum habe ich dir nicht von Anfang an geglaubt? … Oh mein Gott, warum nur? … Tut mir leid Partner! … Tut mir so unendlich leid! ...“


    Nun war es auch um die Beherrschung des Türken geschehen. Seine Tränen tropften in das wuschelige Haar seines Freundes.


    „Oh Semir! …!“ Den Rest von Bens Satz erstickten seine Tränen und Schluchzen.


    Anna standen ebenfalls die Tränen in den Augen. Hoffnung! Die Hoffnung auf Rettung und eine erfolgreiche Flucht waren zurückgekehrt. Sie ließ die nächsten Minuten die beiden Männer, die völlig im Rausch ihrer Emotionen gefangen waren, in Ruhe. Leise schlich sie zur Zimmertür und drückte ihr Ohr daran. Draußen im Treppenhaus und der Eingangshalle herrschte für diese späte Nachtstunde eine ungewöhnliche Unruhe in der Villa. Die Worte von Iwan Kovac kamen ihr in den Sinn: Ihre letzten Stunden mit Ben!


    *****


    Mitternacht – in der Villa
    Nach der emotionsgeladenen Begrüßung mit seinem Freund erlangte Semir als erster seine Fassung wieder. Ben hatte sich wie ein Ertrinkender an ihn geklammert. Sein Körper des jungen Polizisten bebte vor Erregung. Sanft löste Semir die Hände seines Partners von seinen Nacken, der sich daraufhin auf das Kopfkissen zurücksinken ließ. Mit dem Daumen trocknete der Türke die Tränen seines Freundes.


    „Geht es wieder?“


    Im Lichtschein konnte der Türke erkennen, wie Ben nickte. „Wo sind die anderen? Die Krüger? … Das SEK?“, fragte er mit einem leichten vibrierenden Tonfall.


    „Die anderen?“, wiederholte der Türke nachdenklich und setzte sich neben Ben auf die Bettkante. Mit seinem Blick suchte er nach Anna, die noch regungslos an der Zimmertür stand und ihn voller Hoffnung anschaute. „Es gibt keine anderen! Ich bin alleine hier!“
    „Alleine?“, hauchte Anna und merkte wie ein Anflug von Panik die Freude wegwischte.
    „Die Suche nach euch war alles andere als einfach! Eine Stecknadel im Heuhaufen ist leichter zu finden, als diese Villa mitten in Köln!“, versuchte der Türke sich zu rechtfertigen. „Macht euch keine Sorgen! Ich habe mich ordnungsgemäß bei Jenny abgemeldet und die weiß ungefähr wo ich mich aufhalte. Dein Dienstwagen steht einige hundert Meter Luftlinie von hier entfernt. Spätestens morgen früh, wenn ich zu Dienstbeginn nicht auftauche, wird Jenny Alarm schlagen!“ Semir spürte, wie die Hand seines Freundes Kontakt zu seiner suchte, diese umschlang und krampfhaft festhielt. „Die Kollegen werden uns finden, glaubt mir!“


    „Du hast doch ein Handy! Ruf Jenny oder die Krüger an!“, forderte Ben ihn auf, „wir brauchen Hilfe!“
    Der Türke fischte sein Smartphone aus der Hosentasche und hielt es Ben hin. „Der Akku ist leer. Die paar Stunden werden wir noch überstehen und dann …!“


    „Du kapierst es wohl nicht Semir! Wir haben keine paar Stunden mehr Zeit!“, fauchte Anna leise, während sie näher ans Fußende des Bettes herantrat. „Falls es dir vorhin entgangen ist, die Kilic ist mit ihren Handlanger auf dem Weg hierher zurück. Wer weiß, wen die noch alles im Schlepptau hat. Ihr Eintreffen bedeutet Bens Todesurteil! Unser Todesurteil! Schau dir Ben an! Diese Frau kennt keine Gnade!“ Ihre Hände krallten sich in die obere Eisenstange des Bettgestells, bis das Weiße an ihren Fingerknöcheln hervortrat. „Die Zeit zum Handeln ist gekommen. Wir müssen fliehen! Heute Nacht! … Morgen früh wird alles zu spät sein!“


    Semir erhob sich mit einem Aufseufzen, ging zum Fenster und blickte nach unten und musterte seinen verletzten Freund. Energisch schüttelte er den Kopf. „Wie habt ihr euch das vorgestellt?“ Er hatte sich wieder umgedreht und schaute zum Bett. Anna hatte sich zwischenzeitlich neben ihren verletzten Freund auf die Bettkante gesetzt. „Wie soll bitteschön Ben in seinem Zustand darunter klettern. Habe ich es mit Mühe und Not geschafft, nach oben zu kommen. Oder wollt ihr einfach durch diese Tür da raus spazieren?“ Semir deutete mit seinem ausgestreckten Arm in Richtung der Zimmertür. Auf seiner Stirn hatten sich tiefe Sorgenfalten eingegraben. „durch das Treppenhaus zur Haustür ins Freie marschieren? … In der Hoffnung, dass euch keiner von diesen Verbrechern bemerkt und aufhält!“

    Wieder wurde dem Türken in diesem Augenblick bewusst, dass sein Alleingang ohne Rückendeckung wahrscheinlich ein verhängnisvoller Fehler gewesen war. Selbst wenn Jenny die Kollegen zu Dienstbeginn alarmieren würde, stand sein Auto über einen halben Kilometer von dem riesigen Anwesen entfernt bei der Wohnsiedlung.

    Anna tastete unter der Matratze und zog etwas Blaues hervor. „Elena hat ein Seil besorgt, mit dessen Hilfe wir uns abseilen wollten!“
    „Wer zum Teufel ist Elena?“, unterbrach Semir sie etwas ungehalten. Die Nerven lagen bei dem älteren Autobahnpolizisten blank.
    „Die junge Frau, die mit uns hier gefangen gehalten wird. Nur mit einem Unterschied, sie kann sich im Haus frei bewegen. Vom Rest reden wir lieber nicht!“, erklärte ihm Anna.


    Auch ohne weitere Worte verstand der Türke, um welche Person es sich handelte. Die Frau, die in der Küche von dem Glatzkopf verprügelt worden war. Ben schaltete sich mit in das Gespräch ein. Semir nahm gegenüber von Anna auf dem Bett Platz. Mit wenigen Worten machte der Verletzte seinem Freund die Situation und seinen Fluchtplan begreiflich.


    „Das grenzt doch an Selbstmord Ben!“, meinte der Türke kopfschüttelnd. „Ihr seid komplett verrückt!“
    „Nein! … Wir haben keine andere Wahl Partner! Dein Auftauchen ist wie ein Joker in einem Kartenspiel! Er vergrößert unsere Chancen um hundert Prozent!“, gab Ben zurück.


    Semir verbiss sich den Kommentar, der auf seiner Zunge lag und dachte bei sich ‚Vorher lagen die Chancen bei gleich null Prozent!‘

    „Scht… Scht … Anna! … Ich bin es wirklich!“, wisperte Semir beruhigend auf die schockierte junge Frau ein und drängte sie zurück ins Badezimmer. Sämtliche Farbe war aus Annas Gesicht gewichen. „Alles gut? Kann ich meine Hand wegnehmen?“, vergewisserte er sich. Die junge Frau nickte. Ihre Augen schimmerten feucht.


    *****


    Ben lag mit geschlossenen Augen auf seiner rechten Seite im Bett. Ein unbekanntes Geräusch hatte ihn geweckt. Unbewusst hatte er sich über den Rücken auf seine lädierte Körperhälfte gedreht, um das Bett neben sich abzutasten. Sein Körper protestierte mit einem stechenden Schmerz gegen die unbedachte Bewegung. Unwillkürlich stöhnte er laut auf. Anna war weg. Ihre Antwort aus dem Bad ging in der Welle des Schmerzes unter. Langsam wurde der Schmerz erträglich, er riss die Augen auf und blickte sich suchend im Raum um. Wo war seine Freundin abgeblieben? Dann erklang ihr hysterischer Schrei im Badezimmer. Ein eiskalter Schauder durchfuhr seine angespannten Glieder. Sein Kopf signalisierte, Anna befindet sich in Gefahr. Ein Lichtschein fiel durch den Türspalt ins Schlafzimmer. Ben sah die schemenhafte Bewegung von zwei Menschen. War der Grauhaarige oder einer seiner Schergen gekommen und wollte sich seine Freundin holen? Ben war sich sicher, dass Anna seine Hilfe benötigte. Er rief nach ihr. „Anna? … Anna was ist los?“ … Keine Antwort … Die Angst um seine Freundin ließ ihn unüberlegt in die Höhe fahren und ein teuflischer Schmerz durchfuhr seine lädierte linke Seite. Gequält schrie er vor Schmerz auf. Ein Sternenmeer blitzte vor seinen Augen auf. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Der Wundschmerz drängte alles in den Hintergrund, verschwommen nahm er wahr, dass das Licht im Zimmer aufleuchtete. Seine Hände krallten sich in die Zudecke und er versuchte krampfhaft seinen Atemrhythmus unter Kontrolle zu bringen und den Schmerz weg zu atmen.


    *****


    Aus dem angrenzenden Schlafzimmer rief Ben mit einer schmerzverzerrter Stimme „Anna? … Anna? … Was ist?“

    Die Ärztin schob Semir zur Seite und flüsterte: „Ich muss zu ihm. Bleib hier und rühre dich nicht vom Fleck! Egal was passiert! Verstanden!“

    Denn Anna ahnte, was gleich geschehen würde. Hastig streifte sie ihre Jogginghose ab und knipste das Licht im Schlafzimmer an. Als sie die Tür zum Badezimmer hinter sich schloss, wurde die Zimmertür aufgerissen und der älteste der Kovac Brüder stand mit gezogener Waffe unter dem Türrahmen. Der Glatzkopf wollte sich scheinbar zum Schlafen hinlegen, denn er trug nur eine lange Schlafanzughose. Sein entblößter Oberkörper war von Tattoos übersät. Doch dafür hatte Anna kein Auge. Wütend blaffte er los „Was ist los Weib? Was schreist du mitten in der Nacht herum?“
    „Da war eine riesige Spinne!“, nuschelte Anna vor sich hin und deutete auf eine Ecke am Schrank.

    Iwan Kovacs Blick wanderte zu der bewussten Stelle an der Wand. Anna nutzte die Zeit, lief rückwärts zum Fenster und drückte die Flügel zu. Sorgsam beobachtete sie dabei den Serben. Mit ihrem Gesäß lehnte sie sich gegen die Fensterbank und versuchte so den beschädigten Fensterriegel zu verdecken.


    Prüfend schaute Iwan Kovac sich in der Zimmerecke um. „Ich sehe nichts!“, brummte er genervt vor sich hin. „Hysterisches Weib. Hältst wahrscheinlich schon Schatten an der Wand für kleine Krabbelviecher!“ und wandte sich ihr wieder zu. Sein Blick blieb an Annas Körper hängen. Diese trug nur noch ein zu groß geratenes T-Shirt, welches ihre körperlichen Reize kaum bedeckte. Begehrlich blitzten seine Augen auf und er leckte sich über die Lippen. „Echt schade Schätzchen, dass Remzi ein Auge auf dich geworfen hat. Dich hätte ich auch gerne mal vernascht.“ Er deutete auf Ben, der vor Schmerzen gekrümmt und mit geschlossenen Augen im Bett lag. „Was ist mit dem? … Hast du den aus Versehen getreten, als du aus dem Bett gesprungen bist?“, lachte der Glatzkopf amüsiert auf. „Keine Sorge, dein Bulle hat sowieso ausgespielt. Gabriela ist in Anmarsch. Genieße deine letzten Stunden mit ihm!“, verhöhnte der Serbe die Gefangenen und lachte hämisch vor sich hin. „Angenehme Nachtruhe und keinen Mucks mehr! Verstanden!“

    Sein schallendes Lachen war noch zu hören, als die Tür ins Schloss fiel und der Schlüssel umgedreht wurde.


    Verschwommen nahm Ben wahr, was um ihn herum passierte. Als er Annas Stimme vernahm, beruhigte ihn das vorerst. In diesem Moment hätte er ein kleines Vermögen für ein Schmerzmittel gegeben, das seine Not lindern würde. Der dunkelhaarige Polizist konzentrierte sich auf seinen Herzschlag und versuchte seine keuchende Atmung unter Kontrolle zu bringen. Langsam ebbten die Schmerzwellen des Wundschmerzes und seiner Rippenpartie ab, die Feuerlohen, die in seinen Eingeweiden getobt hatten, wurden erträglich. Er hatte die Ankündigung von Gabrielas Rückkehr gehört. Adrenalin schoss in seine Blutbahnen und überlagerte den Schmerz. Die Uhr tickte unaufhaltsam runter. Es blieb ihnen für eine mögliche Flucht nicht mehr viel Zeit, egal wie schlecht seine körperliche Verfassung war. Egal, wie stark seine Schmerzen waren.
    Nachdem der Söldner das Zimmer verlassen hatte, setzte sich Anna neben ihm auf der Bettkante redete beruhigend auf ihn ein. Zärtlich strich ihre Hand über seine schweißnasse Stirn, eine andere Hand umschlang die seine.

    „Scht … Ben … Beruhige dich! … Mir ist nichts passiert.“
    Ben zwang sich seine Augenlider zu öffnen. Ihre Blicke begegneten sich. Ihre Augen schimmerten feucht.
    „Dein Schrei? … Was ist geschehen?“, hauchte er gequält. „Ich hatte Angst … um dich! … Wollte dir helfen! … Da war keine Spinne an der Wand! … Jemand war bei dir im Badezimmer!“
    „Alles ist gut, glaube mir!“ Anna lupfte die Zudecke etwas zur Seite und schob seine Hand von der Schusswunde am Bauch weg. „Lass mich sehen, ob die Wunde durch deine unbedachte Bewegung wieder aufgebrochen ist?“
    Ben hielt ihre Hand fest. „Es geht wieder! … Keine Sorgen, nichts passiert! … War nur ein schmerzhafter Gruß von meinen Rippen.“

    Er stützte sich auf seinen rechten Unterarm und richtete sich ein bisschen auf. Mit seiner anderen Hand wischte er ihre Tränen auf der Wange zur Seite und zog sie zu sich heran, bis sich ihre Lippen berührten und sie in einen innigen Kuss versanken. Als sie sich voneinander lösten, murmelte er leise in einem beschwörenden Tonfall: „Glaubst du mir jetzt? Es gibt keinen anderen Ausweg auf Rettung. Wir müssen fliehen! … Heute Nacht oder am besten sofort!“


    Semir stand hinter der Badezimmertür und verfolgte mit entsicherter Waffe in der Hand das Geschehen im angrenzenden Schlafzimmer. Die Erleichterung darüber Ben und Anna lebend vorgefunden zu haben, wich angesichts der Drohung, die der Serbe vor wenigen Minuten ausgesprochen hatte. Die Kilic würde in den nächsten Stunden zurück nach Köln kommen. Für ihn hatte es sich so angehört, als hätte diese Hexe die Absicht Ben am morgigen Tag umzubringen. Die Zeit wurde ein kostbarer Faktor. In diesem Moment verfluchte er seinen Leichtsinn, dass er ohne Rückendeckung diesen Alleingang gestartet hatte. Kein Mensch ahnte, wo er sich befand, dass er zusammen mit Ben und Anna in dieser Villa in einer Falle saß. Frau Krüger war in Wiesbaden und würde frühestens am morgigen Nachmittag auf der Dienststelle zurück erwartet. Und Jenny? Seine junge Kollegin würde ihn frühestens morgen früh vermissen, wenn er nicht pünktlich zu Dienstbeginn erscheinen würde. Bis die Suche nach ihm anlief, man vielleicht über Oma Else auf eine heiße Spur stieß, konnte alles zu spät sein.

    Das feuchte Gras dämpfte seinen Aufprall. In der Hocke verharrend lauschte er. Semir ließ seinen Blick an der Fassade hinter sich in die Höhe gleiten. An dieser Stelle kam er nicht mehr nach oben auf das Dach, außer er würde unter die Fassadenkletterer gehen. Dicht an die Wand gedrückt, huschte er in das Innere des Carports. Er wollte unbedingt das letzte Licht der Abenddämmerung ausnutzen und einen Blick in den bewussten schwarzen Toyota werfen.


    Im Carport war es schon düster und die Augen des Kommissars benötigten ein paar Minuten, bis sie sich an die diffusen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Er presste seine Stirn förmlich gegen die Scheibe der Beifahrertür. Da waren sie! Auf dem hellgrauen Sitzpolster zeichneten sich die dunklen Flecke eindeutig ab. Auch ohne Harmuts Technik Equipment war sich Semir sicher, das war eingetrocknetes Blut. Das war das Fahrzeug seiner mutmaßlichen Entführer. Er verharrte noch einige Minuten im Carport und überlegte, was er weiter unternehmen sollte. Der eindeutige Beweis, dass die Bewohner der Villa etwas mit seiner Entführung zu tun hatten, stand neben ihm. Sein Spürsinn sagte ihm noch etwas anderes: Er war am Ziel seiner Suche angekommen, dem Versteck von Gabriela Kilic. Eine quälende Frage blieb: Würde er auf dem Grundstück Ben und Anna finden und waren seine Freunde noch am Leben. Es gab keinen Weg zurück, er brauchte Gewissheit. Langsam schlich er zur Ecke des Carports, von dort hatte er einen direkten Blick zur Villa.


    Die Dunkelheit der Nacht war endgültig hereingebrochen. Der Vollmond spendete ein bisschen Licht. An der Außenmauer schlich er entlang und beobachtete dabei die Villa, in der mehr und mehr Lichter erloschen. Mehr als einmal brachen unter seinen Schritten morsche Zweige, was er mit wortlosem Fluchen quittierte. Gras und Unkraut wucherten und reichten Semir teilweise bis zur Hüfte. Er würde für seine Gegner eine deutlich sichtbare Spur hinterlassen. Die musste am kommenden Morgen schon auf beiden Augen blind sein, wenn sie sein Eindringen nicht bemerkten. Doch das interessierte ihn nicht, sein Jagdfieber war erwacht. Auf der Rückseite des Hauses entdeckte er zwei weitere Fenster im ersten Stock, die erleuchtet waren. Die Umrisse einer Frau wurden darin erkennbar: Anna! Das war zweifellos Bens Freundin. Das Adrenalin schoss Semir ins Blut und verursachte ein Gefühlschaos. Zum einen war da der innerliche Triumpf, er hatte sie endlich gefunden. Zum anderen war da die Gewissheit selbst in der Falle zu sitzen, auf diesem Grundstück gefangen zu sein.


    Er lehnte sich an den Baumstamm einer riesigen Blutbuche, verschmolz mit dessen Umriss und verharrte dort regungslos. Die tiefhängenden Äste der Buche schützten ihn zusätzlich vor den Blicken seiner möglichen Gegner. Die Kühle der Nacht kroch langsam in seine Glieder. Der Hochsommer mit seinen tropischen Temperaturen hatte für ein paar Tage eine Pause eingelegt. Dementsprechend sanken die Temperaturen nachts ab. Die Feuchtigkeit des Nachttaus stieg langsam aus der Grasfläche empor und legte sich wie ein sanfter Schleier darüber. Semir beobachtete die beiden bewussten Fenster weiter. Kein Ben, war zu sehen!


    Es widerstrebte dem Türken, bis zum kommenden Morgen abwarten zu müssen, um zu erfahren, was mit Ben geschehen war. Er wollte Gewissheit darüber haben, ob sein Freund und Partner noch am Leben war. In seinem Magen kribbelte es vor Aufregung. Die Gänsehaut lief ihm über den Rücken, denn nur Anna erschien wiederholt im Fenster. Auf einmal öffnete sie einen Fensterflügel, lehnte sich leicht nach draußen und schien die Umgebung genau zu sondieren. Semir hatte das Gefühl ihr Blick traf ihn. Hatte sie ihn im Schatten des Baumes entdeckt? Sein Bauchgefühl regte sich erneut und er traf eine Entscheidung.
    Der Kommissar nahm die Fassade des Hauses genauer in Augenschein, soweit es ihm bei diesen bescheidenen Lichtverhältnissen möglich war. Eine riesige Terrasse erstreckte sich weit in den parkähnlichen Garten hinein. Rechts oberhalb befanden sich die bewussten Fenster, in denen er Anna entdeckt hatte. Zwischen der Terrasse und diesem Zimmer rankte sich eine Kletterrose in die Höhe, deren gelben Blüten selbst im schummrigen Mondlicht deutlich erkennbar waren. Ein Gesims, der das Erdgeschoß vom Obergeschoß optisch trennte, ragte hervor und umlief das komplette Gebäude. Ob dieses Bauteil auch in der Lage war sein Gewicht zu tragen? Wie hieß ein altes Sprichwort: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Das Licht erlosch in dem bewussten Zimmer. Auch im Erdgeschoß gingen langsam die nächsten Lichter aus.
    Semir schlich sich vorsichtig näher ans Haus heran und nutzte die Sträucher und Büsche als Deckung. Aus einem der geöffneten Fenster im Erdgeschoß drang das hilflose Wimmern einer Frau an sein Ohr. Es klatschte mehrmals … Haut auf Haut … jemand schlug die Frau, deren Schmerzensschreie gingen dem Türken durch Mark und Bein. . Achtsam huschte er an der Wand entlang und riskierte durch das offene Fenster einen Blick ins Innere des Hauses. Eine brünette junge Frau kniete auf dem Fußboden in der Küche und wischte eine Flüssigkeit auf. Sie wimmerte leise vor sich hin. Unter dem Türrahmen stand ein etwa fünfzigjähriger Mann, südländischer Typ mit Glatze und einem gestutzten schwarzen Vollbart, der hämisch vor sich hin grinste. Deine Fratze merke ich mir, schwor der Türke sich innerlich. Er musste sein Temperament zügeln, um nicht mit gezückter Waffe ungestüm ins Haus zu stürmen und die Frau aus ihrer hilflosen Lage zu befreien. Sein Inneres glühte vor Zorn. Seine Hände waren vor Wut zu Fäusten geballt. Er konnte es nicht länger mit ansehen und schlich rückwärts. Mit seinem Rücken berührte er die warme Hauswand und verharrte regungslos. In ihm brodelte und kochte es, als es wieder klatschte. Die tiefe Männerstimme brüllte der Frau Befehle in einer fremden Sprache zu. Innerlich nahm er sich vor, dem Kerl, der die Frau schlug, noch eine persönliche Rechnung zu präsentieren. Immer wieder redete er sich ein, das ist nicht Anna, beruhige dich. Wenn du jetzt der Frau hilfst, gefährdest du vielleicht alles.


    Semir zog sich zurück bis zum Rosenspalier, atmete tief durch und steckte seine Pistole zurück in das Holster. Argwöhnisch betastete er die Rankhilfe und überprüfte deren Befestigung an der Hauswand. Sein Blick wanderte an der Kletterrose nach oben. Da würde er sich definitiv ein paar blutige Finger holen. Behutsam setzte er einen Fuß nach dem anderen in die metallene Kletterhilfe und hangelte sich nach oben bis er das Gesims erreicht hatte. Mit Bedacht, den Rücken förmlich an der Hauswand klebend, schob er sich auf dem schmalen Sims in Richtung des Raumes, in dem Anna gefangen gehalten wurde. Die dunklen Flecken an der Hauswand entpuppten sich als Sichtschutzblenden, die mit ihrem Schienensystem ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu Anna waren. Wortlos fluchte der Türke vor sich hin. Wenn er das geahnt hätte? Mehr als einmal war er kurz davor das Gleichgewicht zu verlieren und abzustürzen. Mit seinen Fingernägeln krallte er sich in die Ritzen der Jalousien und suchte Halt. Ja nicht nach unten schauen, redete er auf sich ein. Schweißgebadet erreichte er das bewusste Fenster, drückte leicht dagegen und die Fensterflügel öffneten sich nach innen. Semir blendete den Gedanken aus, was geschehen wäre, wenn das Fenster verschlossen gewesen wäre und kroch über das Gitter förmlich in das Zimmer hinein.
    Während seine Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse in dem Raum gewöhnten, versuchte er seine hektische Atmung etwas zu beruhigen. Von seiner Position am Fenster aus scannte er das Zimmer. Gegenüber war eine Tür angelehnt, durch den schmalen Spalt zwischen Türblatt und Rahmen fiel ein schmaler Lichtstreifen, der etwas Helligkeit spendete. Es handelte sich um ein Schlafzimmer. Im Bett zeichnete sich die Kontur einer schlafenden Person mit dunklen Haaren ab. Ben!!!! Da lag Ben! … Durchfuhr ihn die Erkenntnis! Kein Zweifel, da war das Tattoo an seinem linken Oberarm. Wie eine Lawine strömte eine Welle von Glücksgefühlen durch Semirs Körper. Oh mein Gott, da machte er sich verrückt und der verdammte Kerl lag hier in einem Bett und pennte friedlich vor sich hin.

    Semir hatte den Gedanken noch nicht richtig zu Ende geführt, als Ben anfing, sich zu bewegen und umzudrehen. Ein gequältes Stöhnen begleitete die Bewegungen im Bett. Das Echo kam aus dem angrenzenden Badezimmer. Annas Stimme klang besorgt.
    „Ben? …Ben, was ist los? Brauchst du Hilfe, ich bin gleich bei dir!“


    Das Rauschen der Toilettenspülung drang an Semirs Ohr, gefolgt vom Plätschern des Wasserhahns, als Anna sich die Hände wusch. Dem Türken wurde schlagartig bewusst, dass sein Freund und Partner schwer verletzt sein musste. War das der Grund, warum ihn seine Entführerin Gabriela Kilic in einem Schlafzimmer untergebracht hatte? In seinem Kopf begann es zu rotieren … ein Puzzleteil passte ins andere und zurück blieb die bittere Erkenntnis, dass die Verletzungen sehr schwerwiegend sein mussten. Die Entführung von Anna … der Diebstahl der Notfall-Ausrüstung aus dem Rettungswagen … die Einkäufe der jungen Frau in der Apotheke … alles bekam einen Sinn.

    Sämtliche Nackenhärchen stellten sich bei ihm auf und sein Magen zog sich zu einem Klumpen zusammen. Doch es blieb ihm keine Zeit länger darüber nachzudenken.


    Es wurde für den Kommissar Zeit zum Handeln. Unter allen Umständen wollte Semir verhindern, dass Anna bei seinem Anblick vor Schreck aufschrie. So schnell es ihm der unbekannte Raum erlaubte, huschte er zur Badezimmertür. Er war diesen gewissen Sekundenbruchteil zu spät dran. Noch bevor Semir es schaffte, seine Hand der erschrockenen Anna auf dem Mund zu pressen, entfuhr deren Kehle ein schriller angsterfüllter Aufschrei, der wahrscheinlich im letzten Winkel des Hauses zu hören gewesen war. Mit weit aufgerissenen Augen, aus denen das Weiße hervorleuchtete, starrte sie den Türken wie ein Gespenst aus einer anderen Welt an.

    Wie geistig abwesend trottete der Türke auf dem kombinierten Fuß- und Radweg dahin und wäre fast mit einem Radfahrer zusammengestoßen. Er grübelte darüber nach, was ihm die alte Frau über dieses Anwesen und seine Bewohner berichtet hatten und schon nach wenigen Schritten hielt er inne. Da war dieses Kribbeln in seinem Bauch. Sein Instinkt schlug an wie eine Alarmglocke. Semir drehte sich um und sondierte von seinem Standort aus das kleine Waldstück. Irgendetwas zog ihn magisch an, er konnte einfach nicht sagen, was es war.


    Der kleine Türke kehrte um und an der Kreuzung folgte er dem Reitweg, die Mauer und das dahinterliegende Anwesen befanden sich rechts von ihm. Die hohen Bäume, die innerhalb der Mauer standen, erlaubten so gut wie keinen Einblick auf das Anwesen. Ab und an schimmerte das Dach der Villa mit seinen roten Ziegeln durch die Blätter. Als er sich auf der gegenüberliegenden Seite der Einfahrt befand, stand er vor der Entscheidung: Umkehren oder das komplette Grundstück umrunden. Semir entschied sich für das Letztere. Der Weg wurde beschwerlicher. Das offene Gelände verschwand und ging über in das kleines Waldstück, das von einem Bachlauf geteilt wurde. An der Begrenzungsmauer wuchsen Brombeersträucher, Schlehenbüsche und jede Menge anderes Unterholz. Ein ums andere Mal holte sich Semir einige schmerzhafte Kratzer am Arm und fluchte vor sich hin. Der Bachlauf, in dem leise das Wasser plätscherte, verlief mittlerweile parallel zur Mauer. Der Untergrund, auf dem er sich bewegte, wurde etwas abschüssig und das Vorwärtskommen für Semir anstrengender.


    Oma Else hatte davon gesprochen, dass der ehemalige Besitzer das Mauerwerk der früheren Nebengebäude mit in die Außenmauer einbezogen hatte. Der Kommissar hoffte hier einen Schwachpunkt in dem Sicherheitsbollwerk zu finden. Die Sicht in dem Waldstück wurde durch die einsetzende Nacht immer schlechter, als er die bewusste Stelle erreichte. Zweifellos änderten sich hier die verwendeten Mauersteine im Mauerwerk, die roten Ziegelsteine waren selbst in der Dämmerung deutlich erkennbar.


    In diesem Mauerabschnitt waren zwei kleine Nischen, in dem sich zwei kleine vergitterte Fenster befanden. Semir hoffte endlich einen Blick hinter diese Mauer zu werfen. Wieder einmal verfluchte der Türke, dass er einige Zentimeter zu klein geraten war. Auf dem Waldboden suchte er ein paar passende Steine, die den Größenunterschied ausglichen. Mit seinen Händen wischte er die Spinnweben beiseite und rieb mit seiner Handfläche auf dem halbblinden Fensterglas herum. Hinter der Mauer befand sich ein offener Unterstellplatz für PKWs. Das einfallende Restlicht reichte aus, um etwas zu erkennen. Semir pfiff leise vor Überraschung vor sich hin und murmelte: „Wenn das nicht mal ein Volltreffer ist!“


    Da stand ein schwarzer Toyota RAV4. Irgendwie hatte er gegen diesen Fahrzeugtyp seit dem Überfall vor einigen Tagen eine Aversion. Zufall? Teile des Kennzeichens stimmten auf jeden Fall mit der bewussten Nummer überein. Nur bei Ziffernfolge war er sich nicht sicher. 339 oder 933? In Gedanken äffte er den Oberstaatsanwalt nach, wenn er auf Grund dieser Entdeckung einen Durchsuchungsbefehl für das fragliche Grundstück bei der zuständigen Richterin erwirken sollte. „Wie stellen Sie sich das vor Herr Gerkhan? Wo sind die eindeutigen Beweise? Auf Grund von Vermutungen mache ich mich bei keinem Richter lächerlich!“
    Semir brütete darüber nach, was er unternehmen sollte. Verstärkung rufen? Er zog sein Handy aus der Hosentasche und schaltete es an. Kein Mucks gab das bescheuerte Ding mehr von sich. Akku leer!

    „Scheiß drauf!“, murmelte er vor sich hin. „Sorry Jenny! … Entweder jetzt oder nie!“

    Er wollte unter allen Umständen einen Blick auf dieses Grundstück werfen, dessen Geheimnis bzw. das Geheimnis des Besitzers ergründen.


    So wie es aussah, gab es hier keine extra Absicherung mit Bewegungssensoren, um unerlaubte Besucher abzuhalten. Suchend musterte er die umherstehenden Bäume und deren Äste, ob einer davon als Hilfsmittel zum Übersteigen der Mauer helfen könnte. Nach wenigen Sekunden hatte er ein geeignetes Objekt entdeckt und kletterte mühsam hoch. „Verflucht! Im nächsten Leben werde ich Affe!“, maulte er vor sich hin, als er zum wiederholten Mal auf dem feuchten Moos, das am Baumstamm wuchs, abrutschte und nur durch eine schnelle Reaktion einen Sturz verhindern konnte.


    Allen widrigen Umständen zum Trotz schaffte es der Türke auf das steile Pultdach des Carports zu klettern. Die Dachziegel waren ebenfalls vom feuchten Moos überwuchert und rutschig. Semir balancierte auf den Ziegeln oberhalb der Dachrinne entlang und kämpfte mehr als einmal darum, sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Als der kleine Türke an der Ecke des Unterstandes angekommen war, ging er in die Hocke und hielt einen Moment inne.

    „Verdammt hoch!“ meinte er zu sich selbst. Anschließend legte er sich flach auf das Ziegeldach und robbte bis zur Dachkante. Von seinem Aussichtspunkt sondierte er die Umgebung. Die zweistöckige Villa war ein imposantes Gebäude. Das Erdgeschoss war taghell erleuchtet. Aus dem Obergeschoss fiel nur aus zwei Fenstern ein Lichtschein ins Freie. Die Eingangstür öffnete sich und eine männliche Person trat heraus. Der Mann ließ seinen Blick prüfend umherschweifen. Vor dem erhellten Hintergrund des Hauseingangs zeichnete sich seine Silhouette deutlich ab. In seiner rechten Hand trug er ein Gewehr. Semirs Pulsschlag beschleunigte sich, als er merkte, wie der Wächter das Gebäude, auf dessen Dach er lag, eingehend musterte. Hatte man sein unerlaubtes Eindringen bemerkt?


    Langsam ging sein Gegner die Stufen zum Eingangsportal herunter und schlenderte fast schon gemütlich auf das Carport und die angrenzenden Gebäude zu. Semir drückte sich so nahe wie möglich an das Dach heran und hielt die Luft an. Der Kies knirschte unter den Schritten des Mannes. Eine Tür wurde geöffnet und der Mann rief in einer fremden Sprache etwas in das Innere des Raumes. Das einzige war Semir verstand, war der Name Aleksandar, der mehrmals fiel. Der Stimmlage nach zu urteilen, schien der Mann mächtig sauer zu sein. Von drinnen antwortete eine jugendlich klingende Männerstimme, deren Tonfall vor Übermut strotzte. Kurz darauf polterte jemand eine Holztreppe herunter. Wild diskutierend und gestikulierend gingen die beiden Männer zusammen zurück ins Haus.


    Semir zog ein Fazit: Mindestens zwei Gegner und im Haus hatte er noch eine dritte männliche Gestalt erkennen können. Keuchend atmete er mehrmals durch und wog seine Chancen ab. Abbrechen und mit Verstärkung zurückkehren, nur einen Durchsuchungsbefehl würde er nicht bekommen, da war er sich sicher. Ironisch lachte er vor sich hin. Einfach am Tor klingeln und um Einlass bitten, ging ja nicht. Sonstige Annäherungsversuche waren vermutlich bei den Zeitgenossen, die dieses Fort Knox bewohnten, aussichtslos. Er zögerte noch einige Sekundenbruchteile und dann siegte seine Neugierde oder war es sein Bauchgefühl, welches ihn antrieb, er vermochte es später nicht zu sagen.


    „Scheiß drauf!“, murmelte er vor sich hin. „Tut mir leid Jenny, wird doch ein Alleingang!“, sprach es aus und sprang in die Tiefe.