Am nächsten Morgen …
Semir befand sich in seinem Wagen auf der Rückfahrt nach Köln. Seine Gedanken wanderten zurück zu seiner Familie. Die kleine Lilly hatte vor Freude gejuchzt, als ihre Eltern und ihre große Schwester am gestrigen Nachmittag im Garten der Großeltern plötzlich auftaucht waren. Trotz der Sorge um Ben, hatte der Türke beschlossen, den Rest des Tages und die Nacht zusammen mit seiner Familie zu verbringen. Jede Minute mit mit Andrea und den beiden Mädchen hatte er intensiv genossen. Nach dem Frühstück fuhr er los, da er von Frau Krüger auf der Dienststelle erwartet wurde. Wie er es mit Julia abgesprochen hatte, wollte er erst am späten Nachmittag zu Ben ins Krankenhaus. Vorher fuhr er an seinem Haus vorbei, um sich frisch einzukleiden.
Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, er wurde dort bereits erwartet. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu seinem Anwesen stand ein dunkler Audi A3, dessen Scheiben getönt waren. Das Kennzeichen des unbekannten Fahrzeugs begann mit „K“ für Köln und so schenkte der Türke ihm keine weitere Beachtung. In ihm saß eine Frau, Gabriela Kilic, die vor Hass nur so glühte. In der Morgendämmerung hatte sich die Kroatin auf die Lauer gelegt. Als es in den frühen Morgenstunden im Haus der Gerkhans still blieb, sich nichts regte, musste sie ihre ganze Beherrschung aufbringen, um nicht vor Enttäuschung auszuflippen. Jedoch, mit jeder weiteren Minute, die verstrich, kam die eiskalte Killerin in ihr wieder zu Tage, die gleich einem Raubtier stundenlang regungslos auf der Lauer liegen konnte, bis die Beute in die Falle ging. Na warte, dachte sie sich, ich kriege schon raus, wo du deine Alte mit der Göre versteckt hast. Unauffällig folgte sie seinem BMW und überwachte jeden seiner Schritte. Die Kroatin stellte es geschickt an, so dass dem Kommissar seine Verfolgerin nicht auffiel.
Auf der Fahrt zur Dienststelle klingelte sein Handy. Er aktivierte die Freisprecheinrichtung im Auto. Hartmut war in der Leitung und legte gleich los.
„Guten Morgen Semir“, begrüßte ihn der KTUler. Natürlich stellte auch er die Frage nach dem Befinden von Semirs Familie und von Ben. „Also weswegen ich eigentlich anrufe, ich sollte doch noch mal die Server der Staatsanwaltschaft durchleuchten, wer auf die Akte von Nicholas Schneider Zugriff genommen hatte. War gar nicht so einfach. Zuerst habe ich …!“
„Hartmut bitte“, unterbrach ihn der Kommissar genervt, „Kein Vortag über deine Arbeit! … Was hast du rausgefunden?“
Der Kollege der KTU schnaufte deutlich hörbar durch und antwortete „Es kommen fünf Personen dafür in Frage!“
„Ja, und weiter? Hast du die Namen? Ist der Gerichtsdiener, dieser Müllender auch dabei? Konntest du die Telefonanrufe, die letzte Woche am Dienstag im Gerichtsgebäude ankamen nachverfolgen?“
„Welche Frage soll ich dir zuerst beantworten?“ kam kurz angebunden und in einem leicht beleidigten Unterton zurück. „Nein, dieser Müllender war nicht dabei. Aber ich mache momentan noch ein paar Datenabgleiche, ist alles ziemlich kompliziert … ja ich weiß …!“ den Rest verkniff er sich „Susanne hat von mir die Namen bekommen und versucht einmal rauszufinden, ob es auffällige Kontenbewegungen oder sonst etwas Besonderes bei den einzelnen Personen gab, was sie verdächtig machen würde. Am besten du sprichst mit ihr direkt. Ansonsten habe ich dir alles per Mail geschickt.“ Er zögerte noch einen Augenblick. Ihm war noch etwas aufgefallen und er hegte einen bestimmten Verdacht. Sollte er den schon Preis geben? Der Kommissar kannte Hartmut schon lange genug, um zu bemerken, dass dieser noch etwas auf Lager hatte und hakte nach: „Sonst noch was Einstein, was ich wissen sollte? Also was ist kompliziert?“
„Hmmm, ja also … ähm …!“, druckste der Rothaarige rum „ich bin mir nicht sicher, ob auf dem Server der Staatsanwaltschaft ein Trojaner hinterlegt ist?“
„Bitte was? Hartmut … In Deutsch und für Erstklässler! Und so dass ich es verstehe!“
„Anders ausgedrückt, ein Programm, um die Akten und ich meine wirklich alle Akten, die auf den Servern der Staatsanwaltschaft abgelegt sind, auszuspionieren! Aber wie gesagt, ich bin mir noch nicht sicher und ich habe auch noch keine Beweise dafür!“, ruderte Hartmut ein wenig zurück.
Der Kommissar brauchte ein paar Sekunden um sich der Tragweiter von Hartmuts Aussage bewusst zu werden. „Ok Einstein! Kein Ton zu irgendeiner Person über das, was du mir gerade erzählt hast. Und wenn du Beweise hast, reden wir zuerst mit der Krüger!“
Zwischenzeitlich hatte er das Gelände der PAST erreicht und parkte seinen BMW am gewohnten Platz. Fast ein wenig wehmütig blickte er auf den freien Parkplatz rechts neben sich, auf dem normalerweise Bens grauer Mercedes stand. Als er die PAST betrat, brodelten die Erinnerungen vom vergangen Donnerstag in ihm hoch. Der Deutsch-Türke hielt einen Augenblick inne, bevor er endgültig durch die Eingangstür trat. Susanne saß mit einem aufmunternden Lächeln hinter ihrem Schreibtisch.
„Guten Morgen Semir! Wie geht es Aida und Andrea? Und der Kleinen, wie geht es Lilly? Hast du was von Ben erhört?“, stürmte sie gleich mit ihren Fragen auf ihn ein. Er blieb vor dem Schreibtisch der Sekretärin stehen und setzte sich ganz legere auf dessen Kante. Jenny drehte ihren Bürostuhl in Richtung von Susanne und auch der Rest der anwesenden Kollegen hörte interessiert zu.
„Den Dreien geht es gut. Die Entscheidung, erst mal zu Andreas Eltern zu fahren, war wohl die Richtige. Und Ben … ich habe gestern Abend noch mal mit Julia telefoniert. Er war auch nachmittags kurz wach und hat mit ihr gesprochen. Es geht aufwärts.“ Semir hielt seinen rechten Daumen in die Höhe und Susanne konnte die Erleichterung sehen, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, ihr ging es nicht viel anders. „Seine Schwester ist heute Morgen bei ihm und sobald ich hier fertig bin, werde ich früher Feierabend machen und ihn besuchen!“
Im Hintergrund hörte er laute Stimmen, die heftig miteinander stritten. Verwundert blickte Semir über die Schulter und suchte die betreffenden Personen. Auch die anderen anwesenden Kollegen verfolgten mehr oder weniger versteckt, was sich da in Frau Krügers Büro abspielte. Die Tür war geschlossen. Auch wenn man nur Wortfetzen verstehen konnte, ließen die Mimik und Gestik ihrer Chefin darauf schließen, dass sie kochte.