Später als gewöhnlich erschien Elena, die diesmal von Dragan Kovac, einem der Zwillingsbrüder, begleitet wurde. Der Serbe blaffte nur einen Befehl in den Raum:
„Kein Laut! … Sonst!“
Dabei hob er die schussbereite Waffe in seiner Hand hoch und zielte auf Elena.
Ein bisschen erleichtert atmete Ben auf, dass diesmal nicht wieder Remzi erschienen war. Durch die geöffnete Zimmertür hörte man die Stimmen von Männern, die auf Serbisch miteinander diskutierten. Deutlich war Remzis dröhnende Stimme herauszuhören, der verärgert klang. Angespannt lauschte der Polizist, der mit geschlossenen Augen im Bett lag, ob er auch Gabrielas Stimme dabei war.
Die Auseinandersetzung schien sehr interessant zu sein, denn Dragan Kovac, der nach wie vor unter dem Türrahmen stand, achtete mehr auf die Diskussionen im Erdgeschoss als auf Elena. Weder Anna noch der Russin entging dies. Dennoch wagte keine der beiden Frauen sich dem Befehl des Söldners zu widersetzen und ein Wort zu sprechen. Die Ärztin formte mit ihren Lippen eine stumme Frage: Gabriela? Doch die Russin wich ihr aus. Stattdessen schob sie sehr geschickt einen Zettel unter die Bettdecke, als sie die Schmutzwäsche, die dort an der Bettkante für sie bereit lag, mitnahm.
Dragan wurde ungeduldig und fuchtelte mit seiner Waffe herum.
„Beeil dich! Ich will hier nicht übernachten!“
Mit gesenktem Kopf beeilte sich Elena der Aufforderung nachzukommen. Eilig tauschte sie das Geschirr aus und huschte an dem Serben vorbei ins Treppenhaus. Die Tür schloss sich und die beiden Gefangenen waren wieder alleine. In den vergangenen Tagen war dies in der Regel der letzte Besuch ihrer Entführer gewesen. Würde dies auch für diesen Abend und Nacht zu treffen oder? … Ben wagte nicht den Gedanken zu Ende zu denken. Er öffnete die Augen und sah, wie Anna zum Fußende des Bettes eilte. Unter der Zudecke zog sie einen kleinen Zettel hervor. Ihre Finger zitterten, als sie ihn auseinanderfaltete. Laut las sie vor: „Flight at Midnight!“
Mit dieser Botschaft kehrte die Hoffnung bei Ben und Anna zurück. Was auch immer diese Worte in Bezug auf Gabriela Kilic bedeuten mochten? Für die beiden Gefangenen bedeuteten sie nur eines: Elena würde wie versprochen um Mitternacht mit dem Autoschlüssel erscheinen.
Nach dem Abendessen wagte es Ben das erste Mal an diesem Tag, das Bett zu verlassen. Anna stand vor der Zimmertür und drückte ihr rechtes Ohr gegen das Türblatt. Angespannt lauschte sie, ob irgendein Geräusch ihr verriet, dass sich jemand ihrem Zimmer näherte.
Nach dem Gang zur Toilette beschäftigte sich der dunkelhaarige Polizist eingehend mit dem Zylinderschloss des Fensterriegels. Nach wenigen Minuten gelang es ihm tatsächlich das Schloss zu knacken. Mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht meinte er:
„Semir sei Dank! … Diese Dinger sind dafür gedacht, unliebsame Besucher von draußen abzuhalten … Voila …!“ und der Riegel ließ sich drehen und die Fensterflügel öffnen. Gierig sog er die einströmende Frischluft in seine Lunge. Draußen brach die Abenddämmerung an. Ben wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Um diese Zeit hielten sich die Entführer normalerweise noch auf der Terrasse auf. Zu groß war die Angst vor Entdeckung, darum lehnte Ben sorgsam die Flügel wieder an. Von unten sah es sicherlich so aus, als wäre das Fenster noch verschlossen sein.
Mindestens noch drei Stunden würde es dauern, bis Elena mit dem Autoschlüssel kommen würde. Drei endlos lang erscheinende Stunden.
„Leg dich noch ein wenig hin und versuche zu schlafen!“, sagte Anna zu ihm, der sich mittlerweile wieder auf der Bettkante niedergelassen hatte. „Keine Angst, ich bleibe wach und werde dich rechtzeitig wecken.“
Zu ihrer Überraschung kam kein Protest von ihm. Stattdessen legte er sich hin und war nach wenigen Minuten auch eingeschlafen. Die junge Ärztin traf noch einige Vorbereitungen und ließ sich im Schaukelstuhl nieder. Von da an kroch die Zeit endlos langsam dahin.
*****
Zurück am Buchheimer Ring ….
Der von Oma Else vorgeschlagene Parkplatz am Waldrand war durch etliche Autos überbelegt. Die Transportboxen im Kofferraum der Kombis zeigten Semir, dass hier einige Herrchen oder Frauchen mit Hund zum Gassi gehen geparkt hatten. Die Merheimer Heide war mit ihren Freilaufflächen für Hunde fast ein kleines Paradies.
Auf dem Seitenstreifen herrschte absolutes Halteverbot. Links neben der Straße befand sich ein befestigter Rad- und Fußweg. Auf der gegenüberliegenden Seite ein ausgewiesener Reitweg, dahinter befanden sich eingezäunte Koppeln oder Felder. Suchend blickte sich der kleine Türke nach einer unauffälligen Parkmöglichkeit um. Letztendlich ließ er den Mercedes bis zu den ersten Wohnhäusern rollen. Dort gab es ausgewiesene Parkflächen, auf denen er den silbernen Mercedes abstellte. Als er das Fahrzeug abschloss, überlegte er kurz, ob er sich bei der Zentrale telefonisch abmelden sollte. Innerlich schüttelte er den Kopf. Ein Blick zur Uhr verriet ihm, dass Susanne bereits nach Hause gegangen war und bevor er einem übereifrigen Kollegen, der nicht in die geheime Ermittlungsaktion eingeweiht war, Rede und Antwort stehen musste, verzichtete er darauf.
Stattdessen fischte er sein Handy aus der Hosentasche und wählte Jennys Nummer. In knappen Sätzen berichtete er von dem Gespräch mit der alten Frau und seiner Absicht, sich die Villa und das Grundstück mal näher anzuschauen. Er verabschiedete sich:
„Mach dir keine Sorgen Jenny! … Ja, kein Alleingang versprochen … ich passe auf! … Nein, ich riskiere wirklich nichts! … Wir sehen uns morgen früh um acht Uhr im Büro. Ciao … ciao!“ Als er das Gespräch beendet hatte, meldete ein leises Piepen seines Handys „Akku leer, bitte an Ladestation anschließen!“ „Na Klasse, das fehlt mir noch zu meinem Glück!“, kommentierte er die Meldung und schaltete das Handy komplett aus, da ihn das ständige Piepsen nervte.
Er schätzte die Entfernung zwischen der Wohnsiedlung und dem bewussten Waldstück auf gut fünfhundert Meter. Ein kleiner Abendspaziergang konnte nach dem reichlichen Kuchengenuss bestimmt nicht schaden. Auf dem Rad- und Fußweg folgte der Autobahnpolizist dem Buchheimer Ring, bis er zu der beschriebenen Kreuzung kam, wo der Weg in einen betonierten Flurbereinigungsweg überging. Rechts von ihm war das Waldstück, in dem sich die Villa und deren etwas verborgene Zufahrt befanden. Von dem Flurbereinigungsweg zweigte ein unbefestigter Feldweg ab. Die Anzahl der Hufspuren und Pferdeäpfel zeugten davon, dass er häufig als Reitweg genutzt wurde. Links von Semir befanden sich weitläufige Koppeln und Wiesen. Er ging wieder einige Schritte zurück. Die tief herabhängenden Äste der Bäume verbargen eine asphaltierte Zufahrt zu dem bewussten Grundstück. Es war alles genauso, wie es die alte Frau geschildert hatte.
Ein von Ästen leicht verdecktes Verbotsschild wies darauf hin, dass es sich um einen Privatweg handelte, mit dem Warnhinweis, dass Unbefugten der Zutritt verboten war. Er folgte der asphaltierten Zufahrt und schon nach wenigen Metern, war es wie das Abtauchen in eine andere Welt. Ein leicht modriger Geruch umfing ihn. Links und rechts säumten alte Bäume den Weg, deren mächtige Äste wie ein Dach über den Weg ragten. Unter den mächtigen Baumkronen wuchsen Sträucher, Farne und ein undurchdringlicher Dickicht von Pflanzen, deren Namen Semir nicht kannte. Der Ruf eines Kuckucks überlagerte das Gezwitscher der anderen Vögel. Doch der Türke hatte in diesem Moment keinen Blick für die Schönheit der Natur.
Ein schummriges Licht begleitete ihn bis er auf eine kleine Lichtung kam und ein großes Metalltor, das in einer zwei Meter hohen Mauer eingebaut war, erreichte. Rechts neben dem Tor befand sich ein Durchlass in der Mauer, der durch eine kunstvoll geschmiedete Pforte verschlossen wurde. Der jetzige Besitzer des Anwesens schien keinen Wert darauf zu legen, ungebetene Gäste zu empfangen. Auf der Innenseite des Grundstücks hatte ein Mauerer mit Bruchsteinen den Durchgang verschlossen. Der Schlitz für den Briefkasten war zugeschraubt worden. Das Schild, auf dem normalerweise der Name des Bewohners stand, war nicht beschriftet. An der Stelle, wo früher sich ein Klingelknopf befand, klaffte ein Loch in der Mauer. Keine Chance etwas über den Eigentümer zu erfahren! Keine Fuge, keine Ritze zwischen Tor und Mauer, um einen Blick in das dahinter liegende Grundstück zu werfen. Über dem Tor waren Überwachungskameras angebracht. Am linken Torposten war ein Empfangsteil installiert, über das mittels Funksignal das Rolltor geöffnet und geschlossen wurde. Das Anwesen war wie eine Festung, die Fort Knox glich, schoss es dem Türken durch den Kopf, als er sich langsam rückwärts bewegte. Mit seinen Blicken scannte er akribisch das Anwesen vor sich. Keine Möglichkeit auch nur einen winzigen Blick auf das Anwesen zu werfen. Semir schlich ein Stück an der Mauer entlang und suchte irgendeine Möglichkeit, um Einblick auf das Grundstück zu bekommen. Ab und an war das Surren der Kameras zu hören, die über einen Bewegungsmelder gesteuert wurden und ihren Blickwinkel auf verräterische Bewegungen zoomten. Auf der Mauerkrone spiegelten sich im abendlichen Sonnenlicht silberne Drähte. Wer sich so gegen die Außenwelt abschottete, hatte nach Ansicht des Kommissars etwas zu verbergen. So sehr er sich auch bemühte, die Mauer ließ keine Sicht auf das Grundstück zu. Etwas enttäuscht beschloss er wieder zurück zur Zufahrt zu gehen und von dort aus zur Kreuzung am Buchheimer Ring. Etwas ratlos stand Semir da und fuhr sich mit seinen gespreizten Fingern durch das kurzgeschorene Haar. Dabei überlegte er, ob es nicht sinnvoll wäre, Feierabend zu machen. Wahrscheinlich würde Susanne morgen früh mit ihren Fähigkeiten dem Internet und allen ihr zur Verfügung stehenden Datenbanken etwas mehr über den geheimnisvollen Besitzer dieses Grundstücks in Erfahrung bringen können. Mit hängendem Kopf trat der Türke seinen Rückweg zum silbernen Mercedes an.