„Kriegen Sie keinen Ärger, wenn Sie hier bei mir sitzen?“, erkundigte er sich.
„Nein, keine Sorge! Ich habe seit zehn Minuten Feierabend. Also wie steht es? Ich habe ein bisschen Zeit und bin eine gute Zuhörerin!“ Ihre dunkle Stimme klang dabei so einfühlsam und ehrlich. Sie holte sich einen weiteren Stuhl und setzte sich an die andere Seite von Bens Krankenbett, fasste nach dessen Hand und blickte Semir erwartungsvoll mit ihren dunklen Augen an.
Ganz langsam, anfangs mit noch stockender Stimme erzählte Semir von den Ereignissen der letzten Tage. Als er beim gestrigen Nachmittag angelangte, füllten sich seine Augen mit Tränen. Seine Emotionen kochten einfach über, als er von der glücklichen Rettung seiner Familie berichtete und gleichzeitig vom Tod seines besten Freundes erfahren hatte.
„Und dann heute Morgen … die Nachricht, dass Ben doch noch lebt … er immer noch in Lebensgefahr schwebt … Wissen Sie, das ist, wie ein nicht endenden wollender Alptraum … wie eine Lotterie … und sein Leben ist der Preis.“
Er stöhnte auf, schüttelte den Kopf und blickte die junge Schwester mit einem schmerzerfüllten Blick an, der ihr durch und durch ging. Mittlerweile hatte sie ihre rechte Hand auf seine gelegt und spürte das leichte Zittern seiner Hand. Nach einigen Minuten der Ruhe, in denen nur das monotone Summe der Perfusoren und Infusionsautomaten zu vernehmen war, das Blubbern der Thorax-Drainage … die Beatmungsmaschine … durchbrach der Türke das Schweigen.
„Wie haben Sie das gemacht?“ Semir schüttelte ungläubig den Kopf „Wie haben Sie es geschafft, dass ich Ihnen das alles erzählt habe?“
„Ich hatte einfach das Empfinden, dass sie jemanden brauchen, der sich ein bisschen Zeit für Sie nimmt.“ Dabei schenkte sie ihm wieder ihr warmherziges Lächeln
„Sie sind unglaublich! … Danke! … Es hat wirklich gut getan!“ Semirs Gesichtszüge hatten sich etwas entkrampft.
Ihr Blick wanderte zur Uhr. In einer halben Stunde würde ihre Vorlesung an der Uni beginnen. Es wurde Zeit für sie, sich auf den Weg zu machen. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und reichte dem Polizisten die Hand.
„Ich muss gehen, passen Sie gut auf ihren Freund auf!“ Mit diesen Worten verabschiedete sie sich.
Semir saß gedankenverloren da und betrachtete Ben, wie sich sein Brustkorb bei jedem Atemzug hob und senkte. Sein Blick wanderte rüber zu den einzelnen Monitore und Infusionsautomaten, so viele Maschinen um einen Menschen am Leben zu halten. Verglichen damit kam er sich so hilflos und klein vor. Das schrille Alarmsignal eines Monitors schreckte ihn auf und riss ihn aus seinen Überlegungen. Marco, der Krankenpfleger, betrat das Zimmer und bemerkte den verängstigten Blick des Polizisten, der auf die blinkenden Kontrollleuchten fixiert war.
„Hallo, ich bin Marco. Keine Angst Herr Gerkhan, die Infusion ist durchgelaufen und muss gewechselt werden. Sonst ist nichts passiert!“ Er hielt erklärend den neuen Infusionsbeutel hoch. „Allerdings würde ich Sie bitten, den Raum zu verlassen und draußen vor der Station zu warten.“
„Ist doch was mit Ben?“, fragte Semir aufgeregt nach.
Lächelnd schüttelte der Pfleger den Kopf. „Ähm, nicht falsch verstehen. Ich möchte ihren Kollegen versorgen, umlagern und ihm ein bisschen Körperpflege zukommen lassen!“, erläuterte er seine Absichten, während er mit routinierten Handgriffen die Infusion wechselte. „Außerdem steht auch die Nachmittagsvisite noch an. Es kann schon ein wenig dauern!“
Semir verstand, verließ nachdenklich das Patientenzimmer und begab sich nach draußen vor die Intensivstation. Schon wieder hieß es, einfach nur warten.
Der Kommissar hatte sich noch nicht richtig auf einen der unbequemen Plastikstühle gesetzt, als Konrad Jäger den Krankenhausflur entlang auf ihn zu gehetzt kam.
„Hallo Gerkhan! Wie geht es meinem Sohn? Ist etwas passiert?“, fragte er gleich beunruhigt nach. „Wieso sitzen Sie vor der Intensivstation?“ Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde aschfahl und spiegelte seine Sorgen wieder.
„Bens Zustand ist unverändert, Herr Jäger. Nur keine Aufregung. Der Krankenpfleger ist nur gerade bei ihm und versorgt ihn. Anschließend ist Visite und nur deshalb wurde rausgeschickt!“
„Gut! Gut! Ich dachte schon …“ Den Rest des Satzes behielt er für sich und atmete erleichtert auf. „Frau Krüger hat mich angerufen, nachdem Sie auf ihrem Handy nicht erreichbar waren.“
Semir hatte gar nicht daran gedacht, dass er telefonisch nicht erreichbar war, weil er gemäß den Hinweisschildern an der Eingangstür der Intensivstation sein Handy ausgeschaltet hatte. Nur mit halben Ohr hörte er, wie Konrad Jäger ihm mitteilte: „Ich soll Ihnen ausrichten, ihre Chefin holt Sie gegen 18.00 h am Haupteingang ab!“
Bens Vater setzte sich auf den leeren Stuhl neben Semir. Der Türke merkte, dass dieser innerlich total aufgewühlt zu sein schien. Kaum verständlich nuschelte Konrad Jäger vor sich hin: „Ich war noch mal bei Peter.“ Der Polizist runzelte verwundert die Stirn und blickte fragend den Vater seines Freundes an. „Bei Professor Dr. Kraus, dem Chefarzt! Er bleibt bei seiner Aussage. Bedingt durch die schweren inneren Verletzungen kann er noch nicht sagen, ob Ben über den Berg ist oder nicht. Es kann jederzeit zu Komplikationen kommen und auch dieser andere Professor von der Urologie gab nur ausweichende Antworten.“
Konrad Jäger ächzte gequält auf und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch seine grauen Haare. Man sah ihm an, wie ihn die Angst innerlich auffraß. Semir konnte so mit ihm fühlen, erging es ihm doch letztendlich nicht anders. Leise nuschelte der Grauhaarige fast unhörbar vor sich hin: „Hoffentlich hat es Julia geschafft, rechtzeitig ihren Rückflug nach Deutschland zu bekommen, wenn sie Ben noch mal lebend sehen will.“ Er schlug sich die Hände vor sein Gesicht, schüttelte seinen Kopf und schwieg.
Die Versorgung von Ben durch den Krankenpfleger zog sich doch länger hin, als Semir erwartet hatte. Der Zeiger der Uhr rückte unaufhaltsam in Richtung 18.00 h. Schweren Herzens stand er auf und verabschiedete sich von Konrad Jäger. Während er die langen Krankenhausflure entlang schritt, überfiel ihm das schlechte Gewissen seiner Familie gegenüber. Ihm wurde bewusst, wieviel Zeit er in der Uniklinik verbracht hatte und dabei hätten ihn Andrea und Aida ebenfalls gebraucht. Er war für seine Familie wie der Fels in der Brandung, der ihnen Schutz und Kraft verlieh und dennoch hatte er sie fast den kompletten Tag alleine im Marienhospital zurückgelassen.