„Luca? Luca, wo bist du? Was ist los!“, erklang die dunkle Stimme von Mario als er über den Waldweg rannte. Vor dem Schuppen verlangsamte er seine Schritte. Ben hielt den Atem an. Würde Mario ebenfalls so leichtsinnig in ihre Falle tappen? Das Geräusch einer Waffe, die entsichert wurde, durchbrach die Stille. Durch die Bretterwand hörte der dunkelhaarige Kommissar die gepressten Atemzüge seines Gegners. Durch ein Handzeichen gab er Andrea zu verstehen, dass sie sich aus dem Sichtbereich des Schuppentors zurückziehen sollte.
„Ihr Schweine! Ihr verdammten Schweine, was habt ihr mit Luca gemacht?“, heulte Mario wütend auf. Er konnte von seiner Position am Eingangstor seinen am bodenliegenden Cousin erkennen, um dessen Hals und Kopf sich eine riesige Blutlache ausgebreitet hatte. „Ich bringe euch alle um!“, drohte er wutentbrannt weiter. Vorsichtig, die Schuppentür im Rücken schlich er in den Schuppen. Die nachfolgenden Ereignisse überschlugen sich und geschahen innerhalb weniger Sekunden.
Ben ergriff die Initiative und versuchte die Aufmerksamkeit des Gangsters auf sich zu ziehen. „Hallo Arschloch! …. Suchst du mich?“, zischte er ihn von der Seite her an. Auch Mario rechnete nicht damit, dass Ben neben der Tür des Schuppens stand. Die Waffe im Anschlag drehte er sich in Richtung der Stimme und zog sofort den Abzug der Waffe durch. Ben zuckte zusammen, als die Kugel wie ein Peitschenhieb über seine linke Seite strich. Trotz des brennenden Schmerzes schaffte es der Polizist, mit dem Holzbrett auf den Geiselnehmer einzuschlagen. Der Angriff lenkte ihn den entscheidenden Moment von Andrea ab. Aus dem Augenwinkel erkannte Mario zu spät, dass die Frau eine Pistole auf ihn gerichtet hatte.
„Lass die Waffe fallen oder ich schieße!“, forderte sie ihn energisch auf.
„Das traust du dich doch eh nicht, du Miststück!“ Der Gangster zögerte einen Moment, er wusste nicht so recht, auf wen er sich zuerst stürzen sollte, attackieren sollte. Mario dachte gar nicht daran der Aufforderung von Andrea Folge zu leisten. Statt dessen lachte er hämisch auf und wollte nochmals auf Ben schießen. Andrea hatte keine andere Wahl … hier ging es nur noch ums nackte Überleben und so zog sie den Abzug durch. Am Arm getroffen, fiel der Mann auf die Knie, drehte sich in ihre Richtung …und sie schoss ein zweites Mal … sah, wie Mario einen Schlag gegen die Brust bekam. Die Waffe entfiel seiner Hand. Ben nutzte seine Chance, ihn durch einen Schlag mit dem Brett auf den Kopf endgültig bewusstlos zu schlagen … der Entführer sank zu Boden.
„Und jetzt nichts wie raus hier! Komm Aida mein Schatz!“, forderte Andrea ihre Tochter auf ins Freie zu laufen.
„Andrea … durchsuche ihn! Wir … brauchen … ein Handy!“ Seine linke Seite brannte wie die Hölle … etwas Warmes lief ihm am Bein hinunter … nicht stöhnen … nichts anmerken lassen … Mühsam, auf das abgebrochene Brett gestützt, humpelte Ben hinter Aida ins Freie. Dabei wankte er bedrohlich. Ständig hatte er das Gefühl, dass er das Gleichgewicht verlieren und zu Boden stürzen würde. Aida stand neben ihm und schaute ihn mit ihren dunklen Augen voller Hoffnung an „Gehen wir jetzt zu Papa Ben?“ Er konnte nur nicken.
Andrea trat ebenfalls ins Freie und erschrak bis ins Mark, als sie den jungen Mann, der nur wenige Meter von ihr entfernt auf dem Trampelpfad stand, bei Tageslicht näher betrachten konnte. Oh Gott… seine Haare hingen ihm von Blut und Dreck verklebt in Strähnen herunter. Sein Gesicht war kreidebleich. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Ein dünner Schweißfilm überzog sein Gesicht. Die Qualen der letzten Tage, der letzten Minuten, waren deutlich darin zu lesen. Seine Körperhaltung verkrümmt … eine Schonhaltung um möglichst wenig Schmerzen zu erleiden … das rechte Hosenbein … Der Verband … blutdurchtränkt … mehr und mehr wurde Andrea bewusst, in welch schlechten Zustand sich ihr junger Begleiter tatsächlich befand. Es grenzte schon an ein Wunder, dass er sich noch auf den Beinen halten konnte … dass er sich überhaupt fortbewegen konnte.
„Andrea verschließ den Schuppen! Schnell! Das Handy …. Hast du ein Handy?“, ächzte er gequält. Ein Handy war seine letzte Hoffnung auf mögliche Rettung. Andrea hielt ein Smartphone in der Hand. In ihm wollte sich schon Erleichterung breit machen, als er das zerschossene Display erkannte. „Das bescheuerte Ding hat dem Typen das Leben gerettet Ben!“ Sie zeigte es ihm und warf es anschließend wutentbrannt in die angrenzende Schlehenhecke.
Ben seufzte gequält auf. Ok, das ließ sich nicht mehr ändern. Es blieb nur noch die Flucht zu Fuß. Geblendet vom grellen Licht der Sonne blinzelte er. Der verletzte Polizist versuchte sich zu orientieren …. Zu konzentrieren … die Umgebung … die Gebäude … den Waldrand … und die Zufahrtsstraße… einen Fluchtweg zu finden. Krampfhaft versuchte er sich daran zu erinnern, was die beiden Gangster wegen Gabriela gesagt hatten … die wollte doch heute wieder kommen … damit fiel der Zufahrtsweg als Fluchtweg aus. Blieb nur der Ausweg mitten durch den Wald. Oh Gott … wie sollte er das nur schaffen?
Er spürte wie seine Knie weich wurden, seine Beine den Dienst versagen wollten. Ben überlegte schon aufzugeben, sich einfach auf den Boden fallen zu lassen … der Gedanke war so verlockend.
Andrea kam auf ihn zu. Ihre Blicke, mit denen sie ihn musterte, sprachen Bände.
„In welche Richtung wollen wir gehen Ben?“ Er deutete in Richtung des Waldrandes. Zwischen dem Dickicht aus Brombeersträuchern und Schlehen war eine kleine Lücke.
„Da rüber! Los …. Macht schon … wir müssen hier weg!“
„Komm stütz dich auf mich!“ forderte sie ihn auf, ihre Hilfe anzunehmen. Bevor Ben reagieren konnte, nahm sie seinen linken Arm und legte ihn auf ihre Schulter. Unwillkürlich streifte ihre rechte Hand seine linke Flanke. Nach dem ersten Schritt schrie er vor Schmerzen auf. Andreas Hand zuckte erschrocken zurück. Sie hatte etwas Warmes, etwas Feuchtes gespürt. Eine furchtbare Ahnung stieg in ihr auf.
„Es geht … so … nicht …. Andrea! Lass mich … alleine … laufen“, keuchte er. Das was als gutgemeinte Hilfe und Erleichterung gedacht war, fügte ihn nur mehr Qualen zu, als wenn er alleine laufen würde. Zusätzlich hatte sie unbewusst die Schusswunde berührt.
„Der Kerl … die Kugel … er hat dich getroffen! Ben! Warum … hast du nichts gesagt?“ fragte sie ihn vorwurfsvoll. „Lass mich sehen! Ich muss die Blutung stoppen!“ Sie blickte ihm direkt in die Augen und sah seinen verzweifelten Blick, im gleichen Augenblick bereute sie ihre Worte. Wortlos öffnete sie ihre grüne Jacke und riss aus ihrem Shirt einen breiten Streifen heraus. Vorsichtig zog sie das T-Shirt des Polizisten hoch und hielt die Luft an. Die Kugel hatte eine tiefe Furche eine Handbreit unterhalb des linken Rippenbogens hinterlassen. Sie drückte das Stück Stoff wie eine Kompresse auf die Wunde. Der Hosenbund fixierte es. Dabei hatte sie erneut Gelegenheit die rechte Rückenseite des jungen Mannes zu betrachten. Die Hämatome waren in dunkellila übergegangen und zusätzlich waren noch deutliche Schwellungen zu sehen.
Kein Laut kam über Bens Lippen. Er hörte wie sein Herz raste, während die Schmerzen wie Feuerlohen durch seinen Körper tobten. Krampfhaft hielt er sich an dem Brett fest. Während Andrea versuchte die Blutung zu stoppen, hatte er seine Augen geschlossen und versuchte so flach wie möglich zu atmen.
„Ok, so müsste es gehen Ben!“ - „Du sagst nichts dazu?“, presste er hervor „Sieht es so schlimm aus?“ Sie nickte und hatte dabei Tränen in den Augen. Ihr war klar, was gerade in ihm vorging. „Ich lass dich nicht hier Ben! Ich lass dich nicht zurück! Denke nicht einmal daran!“, wisperte sie energisch. Es gab ein Mittel, um ihn zu motivieren, dass er nicht aufgab, dass er weiter um sein Leben kämpfte. Fast hasste sie sich selbst dafür, was jetzt machte. Ihr Blick fiel auf ihre Tochter. „Ben, schau dir Aida an! Das kannst du ihr doch nicht antun!“, flehte sie ihn förmlich an. Die dunklen Augen des Mädchens strahlten ihn so hoffnungsvoll an.