Zurück auf der Dienststelle
Nach seiner Rückkehr hielt es Semir nicht sehr lange in seinem Büro aus. Er bedrängte Frau Krüger solange, bis diese ihre Zustimmung gab, dass er zusammen mit Dieter Bonrath noch mal die ehemalige Nachbarin und den Bewährungshelfer von Nicholas Schneider persönlich befragen konnte. Die Gespräche brachten leider keine neuen Erkenntnisse. So verging der Nachmittag. Der Türke und seine Kollegen kamen bei ihren Ermittlungen einfach nicht weiter.
Es war mittlerweile Abend geworden. Die nächsten Stunden bis zum Anbruch der Nacht verliefen ereignislos. Trotz wiederholter Nachfragen konnte die Firma HSG zwar noch ein paar vereinzelte Objekte im Großraum Köln nennen, die auf Anweisung des LKAs Düsseldorf, das sich zwischenzeitlich in die Ermittlungen miteingeschaltet hatte, sofort unter Objektschutz gestellt wurden. Aber die versprochene Liste der Gebäude, die außerhalb von Köln lagen, lies noch auf sich warten. Semir befand sich in einem emotionalen Ausnahmezustand. Wut, Frust und Verzweiflung wechselten sich ab mit seinem unbändigen Willen, die Hoffnung nicht aufzugeben, die Entführten wieder wohlbehalten in seine Arme schließen zu können.
Im Schuppen … im Nirgendwo
Zäh zogen sich die nächsten Stunden bis zum Anbruch der Dunkelheit hin. Weder der schwarze Sprinter, noch ihre Bewacher ließen sich nochmals sehen. Ben dämmerte während des frühen Abends nach dem spärlichen Abendessen erneut in einen tiefen Erholungsschlaf hinüber. Andrea hatte bis zur völligen Finsternis an ihrem Beobachtungsposten ausgeharrt. Es war eine sternenklare Nacht. Der Mond hatte fast seine Vollmondphase erreicht und entsprechend groß war seine Leuchtkraft. Durch die Ritzen zwischen den Brettern verirrten sich ein paar spärliche Lichtstrahlen in den Schuppen und warfen gespenstische Bilder an die Wand. Als Ben sich sicher war, dass Aida tief und fest schlief, sprach er Andrea an. Er hatte vorher gründlich darüber nachgedacht, wie offen und ehrlich er zu ihr sein sollte.
„Andrea? Bist du noch wach? Wir müssen reden!“ Leise und abgehackt kamen seine Worte.
„Ja“
„Dir ist klar, was es bedeutet, dass die Entführer ohne Masken bei uns aufgetaucht sind, ihr Verhalten heute und gestern und was die mit uns vorhaben?“ Er versuchte sich dabei etwas aufzurichten. Aida hatte sich wie am gestrigen Abend an sein unverletztes Bein herangekuschelt.
„Ja! Ben, ich habe furchtbare Angst. Die wollen uns hier nicht mehr weglassen oder?“ Ihre Stimme vibrierte vor Furcht … „Die bringen uns um …. Alle! Oh mein Gott … Aida…. !“ Der Rest ging in einem Aufschluchzen unter.
„Die wollen keine Zeugen. Die hatten schon gestern darüber geredet, dass sie uns beide beseitigen wollen. Wir müssen fliehen und können nicht drauf warten, ob uns jemand finden wird bzw. befreien wird!“
Andrea nickte zustimmend, bis sie daran dachte, dass es Ben ja wahrscheinlich in der Dunkelheit nicht sehen konnte und murmelte ihre Zustimmung.
„Gut!“ er bemühte sich weiterhin leise zu sprechen. „Du lockerst die Bretter am Fenster … wir wecken Aida und ihr versucht in der Dunkelheit zu entkommen. Denn machen wir uns nichts vor, eine Flucht durch das Fenster können wir in meinem Zustand vergessen. Und wenn die Kerle was merken, hätten die uns schneller eingeholt, als wir bis drei zählen können.“
„Nein! … Nein! … Ich lass dich hier nicht alleine in diesem Schuppen zurück. Die würden dich sofort umbringen … Außerdem wo sollen wir hinlaufen im Wald bei Nacht? Wir werden uns verirren? … Bei Tag könnte man sich orientieren …!“, protestierte sie energisch gegen Bens Vorschlag, der so etwas schon befürchtet hatte. Er spürte ihre Angst und ihren Widerstand und überlegte, mit welchen Argumenten er Andrea zu einer Flucht in der Nacht überreden könnte. Und gleichzeitig wurde ihm bewusst, er konnte sie nicht dazu zwingen. Darum lenkte er ein. „Also gut! Bei Plan B bleibt nur noch die Tür und wir müssen die Beiden zumindest eine Zeit lang außer Gefecht setzen, um einen Vorsprung zu bekommen.“ Bei sich dachte er, damit ihr einen Vorsprung bekommt. Er schnaufte einmal kurz durch. „Ohne deine Hilfe werde ich wohl nicht mal alleine auf die Beine kommen. Und wie lange ich bei einer Flucht zu Fuß durch den Wald durchhalte … keine Ahnung!“
„Verstehe doch Ben, ich lass dich in diesem Schuppen nicht zurück. Auch nicht im Wald. Niemals …“, fiel sie ihm ins Wort.
„Vergiss es und sei vernünftig! Wenn es hart auf hart kommt, ist nur noch eines wichtig. Du musst dich und Aida in Sicherheit bringen. Verstanden! … Die werden euch töten … uns töten! …. Versprich es mir Andrea!“ Er hielt dabei ihre Hand fest und forderte sie nochmals auf „Versprich es mir!“ - „Ja, Ben! Aber ich kann dich doch nicht …!“ fast schon heißer wisperte sie diese Worte. Ben ahnte, dass ihr dabei die Tränen über die Wangen liefen. „Wenn ich mit euch nicht Schritt halten kann und zurückbleiben muss, kümmerst du dich nicht um mich! Irgendwie werde ich es schon schaffen, mich in ein Loch zu verkriechen, damit die mich nicht finden. Wenn ihr es geschafft habt, schickst du mir deinen türkischen Hengst, der rettet mich dann schon!“
„Oh Gott Ben, weißt du, was du von mir verlangst?“, schluchzte sie. Sie hielt seinen Arm fest gedrückt. „Ja, Andrea ich weiß es! Glaube es mir, ich weiß es! Denk an Aida, sie hat noch ihr Ganzes Lebens vor sich! Denk an deine Tochter! …. Das ist alles was zählt oder willst du dir vorstellen, was die ihr antun könnten! Hast du die Blicke des Dicken gesehen? … Und vergiss nicht Lilly und Semir, die beiden brauchen dich, warten auf dich!“ Es zerriss ihm fast das Herz, dass er sie mit diesem Versprechen so quälen musste.
Und dann erklärte er ihr seinen Plan B. Unter Tränen besprachen sie alle Details. Es war ihre einzige Chance … Hoffentlich kam die Schwarzhaarige nicht zurück. Denn sonst wäre alles verloren.