Der Türke betrat das Gerichtsgebäude. Im Eingangsbereich fand wie üblich eine Sicherheitskontrolle statt. Neben dem Wachpersonal, das für die Kontrollen verantwortlich war, saß dort in einem Glaskasten der Pförtner, Herr Müllender, der Semir persönlich kannte.
Während der Polizist seine Dienstwaffe und alle Gegenstände, die sich in seinen Taschen befanden, in das bereitliegende Fach legte und der Wachmann ihn mit dem Metalldetektor scannte, kam der Pförtner um die Ecke. Hinter der Sicherheitsschleuse wartete er auf den Türken, der seine Sachen wieder sorgfältig verstaute.
„Hallo, Herr Gerkhan! … Einen Moment mal bitte! …!“, begrüßte ihn Herr Müllender, der nur noch wenige Monate bis zu seiner Rente zu arbeiten hatte. In seiner Rechten hielt er ein Blatt Papier und wedelte damit herum. „Ich habe eine Nachricht für Sie! Sie sollen unbedingt noch ihre Frau anrufen, bevor sie in die Gerichtsverhandlung gehen.“
„Danke, Herr Müllender! Ich habe bereits mit ihr telefoniert.“, seufzte der Türke und weckte damit das Interesse des Pförtners, der ihn eingehend musterte.
„Schlechte Nachrichten? … Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen!“, erwiderte der weißhaarige Mann mitfühlend.
„So kann man es nennen.“ Semirs Blick fiel auf die Uhr im Eingangsbereich. „Wer hat ihnen die Nachricht gegeben?“, forschte der Türke nach.
„Kann ich ihnen nicht sagen.“, gab er als Antwort zurück und zuckte mit den Achseln. „Die Nachricht lag nach der Mittagspause auf meinen Platz mit dem Vermerk eilig. Den kann praktisch jeder reingelegt haben, der in dem Zeitraum Post geholt oder abgeliefert hat. Günter hast du was gesehen?“, wandte sich der Pförtner an den Sicherheitsbeamten, der nur den Kopf schüttelte. „Wäre das wichtig gewesen, Herr Gerkhan?“ Dieser winkte ab, die Zeit drängte. „Ich muss weiter. Danke!“, murmelte er und huschte die Treppenstufen hoch ins erste Obergeschoss, wo sich der Sitzungssaal befand. Noch einmal probierte er seinen Partner auf dem Handy zu erreichen. Diesmal kam die Ansage, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei. Lautlos fluchte der Türke vor sich hin. An der Hinweistafel zum Gerichtssaal leuchtete die Aufschrift, dass die Verhandlung bereits begonnen hatte. Ehe sich Semir weitere Gedanken zu Andreas Anruf machen konnte, kam über dem Lautsprecher die Aufforderung, dass er als Zeuge den Sitzungssaal betreten sollte.
Er wurde vom Richter Schmidt aufgefordert auf dem Zeugenstuhl Platz zu nehmen. Nachdem seine Personalien festgestellt worden waren, belehrte ihn der Richter über seine Rechte und Pflichten als Zeuge, die Folgen einer Falschaussage und dass er unter Eid gestellt werden könnte.
Selbstsicher begann die Staatsanwältin mit ihrer Befragung zum Unfallhergang bis es zur entscheidenden Stelle der Aussage kam.
„Ist Herr Schneider der Fahrer des schwarzen Audi TT, das Fahrzeug, das den Unfall verursacht hat Herr Hauptkommissar Gerkhan?“
„Das kann ich leider nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Ich habe am Rastplatz nur einen jungen Mann am Steuer erkannt.“
In den Augen der Staatsanwältin blitzte es auf und sie schnappte förmlich nach Luft. Ihre Blicke schienen Semir förmlich zu hypnotisieren und zu durchbohren. Man konnte spüren, wie ihr Groll über die gerade getroffene Aussage wuchs.
„Herr Gerkhan, das widerspricht komplett dem, was Sie gestern zu Protokoll gegeben haben! Also nochmal: Ist Herr Schneider der Fahrer des Wagens gewesen, ja oder nein?“, kam es sehr energisch von der erbosten Staatsanwältin.
„Ich bin mir nicht sicher Frau Staatsanwältin. Tut mir leid!“
Sie erhob sich von ihrem Stuhl und stampfte auf den Zeugen zu. Ihre Gesichtsfarbe hatte vor Zorn auf dunkelrot gewechselt. Ihr Körper bebte vor Erregung, so wie ihre Stimme als sie fortfuhr: „Herr Gerkhan, ich warne Sie!“ Geräuschvoll atmete sie mehrmals ein und aus. „Überlegen Sie sich das genau! … Sie wissen, was das heißt, Herr Hauptkommissar! Sie widerrufen somit Ihre Aussage im Protokoll von gestern.“
„Oh ja Frau Staatsanwältin!“, kam es leise von Semirs Lippen. Sein Blick wanderte rüber zur Anklagebank. Durch die Zuschauerreihen hinter ihm ging ein Raunen.
Über das Gesicht des Angeklagten huschte ein hämisches Grinsen. Die Zeugenaussage des Kommissars bedeutete nämlich seinen Freispruch. Der junge Mann wusste bereits durch seinen Anwalt, dass es in der KTU ein Feuer gegeben hatte und somit alle sonstigen Spuren vernichtet worden waren. Es konnten keine Fingerabdrücke im beschlagnahmten Audi TT sichergestellt werden. Semirs Zeugenaussage war zum dem Zeitpunkt der Haftprüfung das einzige Beweismittel für seine Schuld, der einzige Grund ihn weiter in Untersuchungshaft zu behalten.
Erst jetzt registrierte der Kommissar, dass neben dem Angeklagten ein stadtbekannter Strafverteidiger saß, Dr. Hans-Heinrich Hinrichsen. In Semir kam die Frage hoch, wie konnte sich ein Nicolas Schneider einen solch sündhaft teuren Strafverteidiger leisten?
Der sicher geglaubte Fall zerrann der Staatsanwältin zwischen den Fingern. Ihr Stolz war verletzt. Ihre Wut richtete sich gegen ihren Hauptbelastungszeugen.
„Wir sprechen uns noch Herr Hauptkommissar Gerkhan! Gerichtsdiener führen Sie Herrn Gerkhan ab in mein Büro. So nicht … nicht mit mir! Das wird Konsequenzen für Sie haben!“, drohte sie Semir noch im Gerichtssaal.
Schweigend und mit hängenden Schultern ließ der Türke sich abführen. Als er an der Anklagebank vorbeilief, lehnte sich der Angeklagte lässig in seinen Stuhl zurück und grinste ihn hinterhältig an, während sich sein Anwalt erhob und eine Erklärung seines Mandanten vorlas. Semir bekam noch den größten Teil der Erklärung mit, bei der sich teilweise seine Nackenhärchen aufstellten.
„Mein Mandant möchte zu Protokoll geben, er sei nur ein willkürliches Opfer der Autobahnpolizei gewesen, die für den Unfall einen Schuldigen gesucht hatten. Er sei vom Unfall so geschockt gewesen, dass er orientierungslos umhergeirrt sei. Als die beiden Polizisten mit gezückter Waffe auf ihn zugestürmt sind, bekam er es mit der Angst zu tun und ist davongerannt. Es ist ja offensichtlich, dass es sich hier wieder mal ein klarer Fall von Justizirrtum vorliegt. Ich beantrage hiermit, Herrn Nickolas Schneider in allen Punkten der Anklage frei zu sprechen.“
Semir kochte innerlich vor Wut. Justizirrtum, schon allein dieser Begriff! Doch was sollte er tun? Die beiden Sicherheitsbeamten begleiteten den Polizisten zum Büro der Staatsanwältin. Auf dem Steinboden hallten die Schritte. Niemand sprach ein Wort. Die Zimmertür wurde geschlossen und die beiden Sicherheitsbeamten stellten sich davor, als wollten sie jeglichen Fluchtversuch des Polizisten verhindern. Der Türke war sich darüber im Klaren, dass seine Aussage ein Disziplinarverfahren und Ermittlungen der Internen Abteilung nach sich ziehen würde. Unruhig wanderte er im Büro der Staatsanwältin hin und her. Hilflos musste Semir durch eines der großen Fenster, die einen direkten Blick auf den Vorplatz des Landgerichts erlaubten, mit ansehen, wie Nicholas Schneider in einen dunklen Audi Q7 einstieg. Es war für ihn offensichtlich, dass der junge Mann erwartet wurde. Er fühlte sich schuldig, denn letztendlich hatte seine Aussage dazu beigetragen, dass dieser Mann, der für den Tod von vier Unschuldigen verantwortlich war, vom Richter frei gesprochen wurde. In ihm brannte der Wunsch, den Verdächtigen zu verfolgen. Aber in seinem Kopf hallten die Worte des Telefongesprächs mit Andrea nach.