Elena putzte die Küche und bereitete das Essen für die Söldner und Gefangenen für den kommenden Tag vor. Die Kovac Brüder hatten sich in ihre Schlafräume über der Garage zurückgezogen. Camil saß im Wohnzimmer vor dem überdimensionierten Fernseher und lauschte den Lokalnachrichten, während er sie durch die geöffnete Tür beobachtete. Sobald sie mit ihrer Arbeit fertig war, würden sie sich in sein Zimmer zurückziehen.
Ihre Finger griffen in die Hosentaschen ihrer Shorts und spielten mit dem Stückchen Papier, das sich darin befand. Sie musste sich etwas einfallen lassen. Auf dem Notizzettel hatte ihr Anna am Vormittag die Handynummer von Semir Gerkhan notiert und ihr klar gemacht, sie müsse nur diese Nummer anrufen und dem Türken erklären, dass sie wüsste wo Ben und Anna sich aufhalten. Den Rest, so war die Hoffnung der Ärztin, würde der Autobahnpolizist mittels Handyortung erledigen. Elenas Problem war, sie kam an kein Handy ran. Selbst als sie die vergangene Nacht bei Camil verbracht hatte, war ihr Versuch fehlgeschlagen. Das Display des kleinen Smartphones war durch Fingerabdruckscan abgesichert gewesen.
Lautstarkes Gebrüll aus dem oberen Stockwerk riss Elena aus ihren Gedanken. Zwischen Gabriela und Remzi war ein heftiger Streit in Kroatisch entbrannt. Anfangs verstand sie nicht, um was es dabei genau ging. Einzelne Gesprächsfetzen drangen bis zu ihr in die Küche. Da waren die unverständlichen Worte des Grauhaarigen, die die Kroatin in einer schrillen sich überschlagenden Tonlage beantwortete. „Kein 5-Sterne Hotel …. Ich allein bestimme, was mit den Gefangenen geschehen soll! …. Keiner … Du spinnst wohl! … Hirnverbrannte Idee … !“ In der Lautstärke um einige Dezibel lauter, brüllte Remzi zurück „Unzählige Treppenstufen …. Krücken … Wie soll das funktionieren?“
Mit einem donnernden Knall flog die Türe zu Remzis Schlafzimmer zu. Gedämpft und für die anderen Bewohner des Hauses nicht hörbar, ging der Streit zwischen Gabriela und Remzi in die nächste Runde.
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Es wurde eine Höllennacht für Anna. Das Fieber wütete in Bens Körper. Mit jeder Stunde schwand das Leben mehr und mehr aus seinem Körper. Ihr war klar, dass er dabei war auf die andere Seite abzudriften. Sie hatte ihm die maximale Dosis des Antibiotikums verabreicht.
„Nimm es an Ben! Bitte nimm das Medikament an!“, appellierte sie verzweifelt und wusste doch, es blieb ihr nichts anderes übrig als abzuwarten.
Löffelweise flößte sie ihm Flüssigkeit ein, Tee, Wasser, Brühe, immer in der Hoffnung, er möge sich nicht verschlucken. Zwischendrin kühlte sie seine Stirn, trocknete die Schweißperlen, legte ihm neue Wadenwinkel. Doch das Fieber sank nicht. In der einen Minute betete sie um das Leben ihres Liebsten, in der nächsten Minute begann sie haltlos zu fluchen und vor Hilflosigkeit vor sich hinzuschluchzen. Die Dunkelhaarige war nicht bereit aufzugeben, so lange noch ein Funken Leben in ihrem Geliebten war.
Irgendwann war der Punkt erreicht, wo ihre Grenze der Belastbarkeit überschritten war. Sie konnte einfach nicht mehr, war am Ende ihrer Kräfte angelangt. Völlig erschöpft schmiegte sich an ihn heran. Sie wusste einfach nicht mehr weiter und wollte Ben so nahe wie möglich sein, wenn es zu Ende ging. Sein Herzschlag raste in ungeahnten Dimensionen, sie konnte es deutlich unter ihrer Hand spüren, die auf seinem Oberkörper ruhte. Sie hatte wie vor zwei Tagen, seinen Kopf auf ihren Arm und so nahe an ihrer Brust gebetet, dass er ihren Herzschlag hören konnte. Ihre Finger strichen durch das schweißnasse Haar, während sie, wie beschwörend auf ihn einsprach. Sie versuchte seinen Geist in die Realität zurückzuholen. Tränen rannen ihr unaufhaltsam über ihre Wangen. Zärtliche Küsse hauchte sie auf sein Gesicht.
„Ich möchte dich nicht verlieren, hörst du? … Denk an unser Kind! … Denk an unsere gemeinsame Zukunft … unsere Pläne … du kannst mich doch nicht im Stich lassen!“
Diese und andere Worte sprach sie in einem endlosen Monolog auf ihn ein. Es würde ihr das Herz brechen, wenn Ben hier und jetzt in ihren Armen starb.
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Bilder tauchten in seiner Erinnerung auf, diese Augenblicke der Qual und Pein in der Folterkammer, verbunden mit diesen unendlichen Schmerzen. Der Schmerz wütete in jeder Faser seines Körpers, einfach überall, ließ ihn nicht los. Es kam ihm vor, als würde sein Körper in einem wahren Höllenfeuer schmoren. Ben wollte dem ganzen entrinnen … fliehen … weg einfach nur weg … irgendwo hin.
Doch da war noch etwas anderes. Diese STIMME! Ihre Stimme, die vertraute Stimme seiner Freundin ANNA, in der ein Zauber lag, der ihn magisch anzog … sie lockte ihn, vermittelte seiner Phantasie den Wunschtraum nach einer kleinen Familie … nach einem Kind … nach seinem Baby, das er in seinen Händen trug, sanft in seinen Armen wiegte, … nach einem kleinen Jungen, mit dem er am Strand Sandburgen baute … auf dem Spielplatz herumtollte, der Traum von seinem eigenen KIND.
Bens Geist wanderte zwischen der düsteren Halbwelt voller Schmerz und Qual, seinem Wunschtraum nach einer eigenen Familie und dem hellen Punkt in der Ferne, der die Illusion von Freiheit und Erlösung von allem versprach, hin und her.