Nachdem Gabriela den Raum verlassen hatte, betrachtete Elena den Gegenstand in ihrer Hand. Sie hatte von ihr den Schlüssel für den Fensterriegel erhalten. Um den Größenunterschied auszugleichen, kletterte sie geschickt auf die Hantelbank unter dem Panoramafenster und öffnete einen der Fensterflügel. Gierig sogen sie und Anna, die ihr gefolgt war, die frische Luft in ihre Lungen. Mit einem Sprung hüpfte sie auf den Boden zurück und drückte der jungen Ärztin den Schlüssel in die Hand. Gleichzeitig erklang das wütende Gekreische von Gabriela aus dem Erdgeschoss bis in den Kellerraum.
„Nicht gut!“, entfuhr es Elena bestürzt. „Gar nicht gut!“
Diesen Tonfall der Kroatin kannte sie schon und bedeutete für sie Alarmstufe rot. Es dauerte nur wenige Sekunden, in denen sie auf den Boden starrte und das Risiko für sich abwog. Sollte sie zu ihrer eigenen Sicherheit lieber im Kellerraum bei den beiden Gefangenen bleiben, um Gabriela aus dem Weg zu gehen? Dabei hob Elena den Kopf und blickte in das besorgte Gesicht der Dunkelhaarigen, die ihr direkt gegenüberstand und ihr Blick wanderte weiter zu dem Verletzten, der leise vor sich hin stöhnte. Wenn sie ihren Plan in die Tat umsetzen wollte, um den beiden Gefangenen in dem Kellerloch zu helfen, durfte sie sich nicht ängstlich wie ein Kaninchen in seinem Bau verkriechen. Da gab es noch einige Sachen, welche sie unbedingt noch den beiden Gefangenen bringen wollte und so wie die Kroatin gerade in der Eingangshalle tobte und tickte, war Eile geboten, bevor sie dem Ganzen einen Riegel vorschob.
„Bleiben hier! … Kommen gleich zurück!“, raunte Elena der Ärztin entschlossen zu und huschte aus dem Fitnessraum. Die Zugangstür ließ sie unverschlossen. Das Gekeife in der Eingangshalle verstummte, während sie den langen Kellergang entlang lief. Elena hielt am Treppenabsatz zum Erdgeschoss an und sondierte vorsichtig ihre Umgebung. Wo war Gabriela abgeblieben? Als sie die verhasste Kroatin auf der Terrasse entdeckte, schlich sie in die Küche. So geräuschlos wie möglich, packte sie einige Essensvorräte für Anna und Ben zusammen. Die vorbereitete Brühe für den Verletzten füllte sie in eine Thermoskanne um, ebenso den Früchtetee, der mittlerweile mehr als gut durchgezogen war, für die junge Ärztin. Anschließend riss sie nacheinander alle Schubladen und Schränke auf und durchsuchte sie, nach der einen Schachtel Schmerztabletten.
„Verdammt, irgendwo muss sie doch sein!“, murmelte sie leise in ihrer Muttersprache vor sich hin. Sie war sich sicher gewesen, dass irgendwo eine Packung liegen müsste. Nichts … die waren weg, einfach verschwunden. Mit zusammengekniffenen Lippen grübelte sie kurz nach, Anna hatte nach weiterem Verbandsmaterial gebeten. Durch die geöffnete Küchentür sah sie das Objekt ihrer Begierde. Wie eine Versuchung lag der gefleckte Armeerucksack auf der untersten Treppenstufe zum Obergeschoß. Der rote Halbmond auf weißen Untergrund leuchtete ihr förmlich entgegen. Doch das erschien ihr zu gewagt, ohne die Zustimmung der Söldner den Rucksack in den Kellerraum zu schaffen. In ihrer Position konnte es sich die junge Frau nicht leisten, die beiden Männer zu vergraulen. Noch einmal warf Elena einen prüfenden Blick in den großen Weidenkorb, als Gabriela mit ihrem Handy am Ohr in Richtung Eingangstür an der geöffneten Küchentür vorbei ging, ohne Elena eines Blickes zu würdigen. Vor dem Bedienungsmodul der Alarmanlage, das rechts neben der Tür angebracht war, blieb sie stehen und tippte einen Zahlencode ein.
Elena wusste, dass man damit über Funk das Tor auf der Zufahrt zum Grundstück öffnen konnte. Solange Gabriela dort stand, wagte es die Russin nicht, die Eingangshalle zu durchqueren, um zum Treppenabgang in das Kellergeschoß zu gelangen. Sie drückte sich gegen den Türrahmen und beobachtete die Kroatin, die zwischenzeitlich die Eingangstür geöffnet hatte und nach draußen marschiert war. Wie üblich zündete sich Gabriela eine ihrer Zigarillos an und inhalierte den Rauch tief in ihre Lungen.
Die Sonnenstrahlen fielen durch die offen stehende Eingangstür ins Innere der Villa, in denen feine Staubkörner flimmerten und ihren ureigenen Tanz vollführten. Eine angenehme Wärme verbreitete sich bis in die Küche.
Der Kies auf der Zufahrt knirschte, ein Fahrzeug näherte sich dem Haus an. Schnell huschte Elena zurück zu dem Küchenfenster, das ihr einen Blick auf die Zufahrt und den Parkplätzen vor dem Eingangsportal erlaubte. Eng schmiegte sie sich an den Fenstersims, in der Hoffnung, dass man sie von draußen nicht sehen konnte. Durch den gekippten Fensterflügel drangen die Geräusche an ihr Ohr. Doch anstelle des erwarteten schwarzen Toyotas oder dem Jeep, der von Sascha und dessen Komplizen benutzt wurde, rollte dort ein schwarzer Passat Kombi mit einem ausländischen Kennzeichen heran. Gabriela stapfte die Treppe hinunter, um ihre Gäste dort zu begrüßen. Zuerst öffnete sich die Beifahrertür und ihr entstieg ein Mann, bei dessen Anblick Elena erst einmal schluckte. Er überragte die Kroatin um Haupteslänge. Seine glattrasierte Glatze spiegelte sich im Sonnenlicht. Im krassen Gegensatz dazu stand der dunkle Vollbart mit seinen silbernen Streifen, der den unteren Teil seines zerfurchten Gesichtes verdeckte. Mit seinen dunklen Augen musterte er Gabriela. Nach einigen Sekunden huschte der Ansatz eines Lächelns über ihr Gesicht und sie lief die letzten Meter auf den Glatzköpfigen zu. Die Begrüßung der Beiden fiel sehr herzlich und innig aus.
Elena durchlief ein Schauer nach dem anderen bei dem Anblick des Mannes. Ihr Magen krampfte sich
zusammen. Sie musste sich förmlich zwingen, wieder ruhig zu werden. Entschlossen packte sie den Weidenkorb, schnappte sich die kleine Autoverbandstasche und einen Sixpack Mineralwasser. Das Gemurmel in serbischer Sprache, das von der Eingangstür zu hören war, versuchte sie so gut es ging, zu verdrängen. Anna kniete neben ihrem verletzten Freund und spritzte ihm gerade etwas in den Zugang, als sie den Fitnessraum betrat.
„Ich glaube, es dauert nicht mehr lange und Ben wird wach!“, erklärte ihr die Ärztin, während sie sich erhob und ihr einige Schritte entgegen kam. „Er war so unruhig in den letzten Minuten.“
Elena stellte den Weidenkorb auf den Boden, der üppig mit belegten Broten, frischen Obst und zwei Tetra Pack Milch gefüllt war. Sie deutete auf die beiden Thermoskannen und fügte erklärend hinzu: „Tee für Anna!“ und ihr Finger wanderte zur roten Kanne „Brühe! Gut für kranken Mann!“
„Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll Elena!“, murmelte Anna.
Die Russin holte eines der belegten Brote aus dem Korb und hielt es ihr auffordernd hin. „Essen …!“ Mit einem traurigen Miene verkündete sie Anna: „Keine Medikamente … Nichts da im Haus! … Nur das hier!“, dabei holte sie die kleine Verbandstasche aus dem Korb heraus und überreichte sie Anna, die ihre Enttäuschung nicht verbergen konnte.
„Das wird nicht lange reichen! Ich brauch mehr, verstehst du Elena? Viel mehr Verbandsmaterial!“
„Einkaufscenter haben Apotheke … Nächstes Mal einkaufen … du aufschreiben!“ Elena unterstrich ihre Worte, in dem sie mit dem Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand Schreibbewegungen im linken Handteller macht. Sie versuchte Anna ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. „Komm … essen! Du brauchen viel Kraft!“ Ihr Blick wanderte dabei zu Ben und gleichzeitig hielt sie der Dunkelhaarigen erneut den Teller mit Essen hin.
Anna griff zögernd nach einem der Brote, die mit Frischkäse und ein bisschen Rohkost belegt waren. Man sah ihr an, dass sie keinen Hunger hatte und sich regelrecht zwang, in das Brot hinein zu beißen.
In der Eingangshalle wurde es laut. Gabriela brüllte lauthals nach der jungen Russin. Zum Abschied drückten sich die beiden Frauen herzlich. „Anna, bitte, Elena vertrauen!“ wisperte die junge Russin zum Schluss und huschte aus dem Fitnessraum und verschloss ihn sorgfältig, so wie es von Gabriela gefordert worden war.