Beiträge von Mikel

    Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch das große Fenster in den Kellerraum. Die Wärme der Sonne war es, die Anna weckte. Sie schlug die Augen auf. Die Helligkeit der Sonnenstrahlen blendeten sie im ersten Moment. Zuerst blinzelte sie ein bisschen und überlegte, wo sie sich befand. Mit einem Schlag kehrten alle Erinnerungen zurück. Das Gewicht von Bens Kopf lastete auf ihrem rechten Oberschenkel. Sie strich ihm zärtlich über das bleiche Gesicht und tastete nach seinem Puls an der Halsvene. Erleichterung machte sich in ihr breit, als sie das kräftige Pochen spürte. Wie nahe er in diesem Augenblick mit seinem Kopf bei seinem Kind war. Die junge Frau schloss wieder die Augen und horchte in sich hinein, ob sie irgendetwas von diesem kleinen Wesen in sich spürte. Der Termin bei ihrer Frauenärztin wäre heute gewesen. Sie hatte sich schon so darauf gefreut, das Baby auf dem Ultraschall zu sehen. Wehmut überfiel die junge Frau. Auch wenn die Schwangerschaft ungeplant war, das Schicksal hatte entschieden und letztendlich wollten sie und Ben ja zusammen Kinder haben. Gedankenverloren streichelte Anna ihrem Freund über die Wangen.


    In den letzten Tagen hatte sie lange darüber nachgedacht, wann es zu der Schwangerschaft gekommen sein könnte. Es blieb nur eine Begebenheit übrig, die Geburtstagsfeier zum 60. Geburtstag von Konrad Jäger oder die Tage danach. Sie hatte sich an jenem Tag furchtbar mit Peter Kreuzer, Julias Mann, gestritten. Peter hatte ihr, wie so oft, unterstellt, dass sie nur an Bens Geld interessiert sei. Er hatte versucht, sie vor den anwesenden Verwandten der Familie Jäger und Bekannten bloß zu stellen. Sie war damals so wütend über sich selbst gewesen, dass sie auf sein intrigantes Spiel hereingefallen war. Das beherzte Eingreifen von Ben und Julia hatten Schlimmeres verhindert. Nur etwas konnte Ben an jenen Abend nicht verhindern, Anna trank zu viel Bowle und Rotwein und hatte einen regelrechten Blackout.


    Sie wusste nicht mehr, wie und wann Ben sie ins Gästehaus gebracht hatte. Nur etwas hatte sich in ihre Erinnerung eingebrannt, den Rest der Nacht und teilweise den darauffolgenden Vormittag hatte sie vor der Toilette im Badezimmer des Gästehaueses verbracht. Ben hatte sich so rührend um sie gekümmert, als sie vor sich hin gejammert hatte, sie würde sterben und nie wieder in ihrem Leben Alkohol trinken. Sie hatte in der Folge noch tagelang Probleme mit ihrem Magen gehabt, der ihr das Saufgelage richtig übel genommen hatte. Seit jenem Tag hatte sie keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt, nicht einmal im Italienurlaub.
    Im Nachhinein betrachtet, könnte sich Anna für ihre eigene Dummheit selbst ohrfeigen. Naiv, wie ein unerfahrener Teenager hatte sie sich benommen, auf eine zusätzliche Verhütung verzichtet, obwohl Ben ihr mehrmals vorgeschlagen hatte, ein Kondom zu verwenden. „Sicher ist sicher!“, meinte er damals und sie hatte nur gelacht, weil sie der Meinung war, die Pille würde wirken. Tja, da hatte sie sich wohl gründlich getäuscht.


    Anna schüttelte unbewusst ihren Kopf, war schon irgendwie ein Witz, da war sie selbst Ärztin und hatte nicht mal bemerkt, dass sie seit mehreren Wochen schwanger war. Das Unwohlsein am Morgen und ihre Stimmungsschwankungen hatte sie auf den Stress und die Hektik auf der Arbeit geschoben, dazu kamen die Sorgen um Ben. Sie hatte die Anzeichen ihres Körpers einfach ignoriert. Ihre Hand wanderte zu ihrem leicht gewölbten Unterbauch und die andere Hand an Bens Wange, die sie leicht in Richtung ihres Bauches drückte.
    Leise murmelte sie: „Hörst du mein Schatz? … Da drinnen schlägt das kleine Herz unseres Babys? Spürst du die sanfte Wölbung meines Bauches? … Da drinnen wächst es heran und du ahnst noch gar nichts von dem kleinen Wesen. … davon das du Vater wirst … Es ist unser Baby … Ben! … Unsere gemeinsame Zukunft als Familie!“


    Sie seufzte abgrundtief auf. Von einer Sekunde zu anderen übernahmen düstere Gedanken ihr Denken. Sie schalt sich eine einfältige Närrin. Von welcher gemeinsamen Zukunft träumte sie denn? Die Realität sah anders aus. Ben und sie waren Gefangene dieser von Rachsucht besessenen Frau. Flucht? Niemals … niemals würde sie Ben noch einmal im Stich lassen … alleine lassen. Und Rettung? Würden Semir und seine Kollegen sie jemals finden? Die nächste Frage keimte in ihr auf. Hätte sie das hier alles verhindern können, wenn sie Ben geglaubt hätte? Die Entführung? All die Qualen, denen er ausgesetzt war? Es ließ sich nicht mehr ändern. Jetzt und hier ging es nur noch ums Überleben. Anna durchfuhr ein Schauer nach dem anderen. Die Gänsehaut rannte über ihren Körper. Sie merkte wie eine unbeschreibliche Angst sie in Besitz nahm, fast schon übermächtig wurde. Mit all ihrem Willen, den sie aufbrachte, kämpfte sie dagegen an. Noch lebten sie? Noch gab es Hoffnung? Es war langsam an der Zeit, den Raum, in dem sie gefangen gehalten wurde, näher in Augenschein zu nehmen. Sie zwang sich ihre Augen aufzuschlagen und scannte regelrecht den Fitnessraum. Ihr gegenüber befand sich die Eingangstür. Links neben der Tür waren im Halbkreis verschiedene Fitnessgeräte aufgestellt, die sie aus ihrem Sportscenter kannte. Unter dem einzigen Fenster befand sich eine Ruderbank. Ein Teil des Kellergeschosses ragte aus dem Erdreich heraus. Das Kellerfenster glich einem Panorama-Fenster und erstreckte sich fast über die komplette Breite des Raumes. Nur links und rechts war ein schmaler Streifen Mauerwerk. Es begann unterhalb der Decke und endete knapp über dem Erdreich. Doch es gab kein Entkommen. Ein Eisengitter war vor dem Fenster angebracht worden. Die einfallenden Sonnenstrahlen zeichneten durch das Gitter bizarre Muster an die gegenüberliegende Wand. Dahinter lag ein Badezimmer. Bei diesen Gedanken meldete sich ein menschliches Bedürfnis. Vorsichtig schälte sie sich unter Ben hervor und bettete seinen Kopf auf dem provisorischen Kopfkissen. Ihre Beine waren von der starren Sitzhaltung völlig steif und schmerzten, als sie sich aufrichtete. In ihrem rechten Bein kam die Blutzirkulation in Gang und es kribbelte in den Zehen, als würde eine Heerschar Ameisen daran hochlaufen. Langsam, ein bisschen humpelnd, bewegte sich Anna auf die Badezimmertür zu. Als sie sich auf der Toilette erleichterte, ließ sie ihren Blick im Raum umherschweifen. Verglichen mit dem Bad in ihrer Wohnung, war dieser Raum in seinen Dimensionen ein Tanzpalast. Es war in schwarzem Marmor gehalten, der mit feinen weißen Fäden durchzogen war. Das Waschbecken, die Toilette und die begehbare Dusche waren in Grautönen gehalten und bildeten einen farblichen Kontrast. In einer Ecke lagen auf einem Haufen getürmt, benutzte Handtücher und Duschtücher. Nach dem Händewaschen öffnete sie die verschiedenen Fächer des Badezimmerschrankes unter dem Waschbecken. Außer einem Vorrat an frischen Handtüchern befand sich nichts darin. Durch den Türspalt drang das Stöhnen von Ben zu ihr und mahnte sie zur Eile.


    Ben hatte sich auf seine rechte Seite gedreht. Anna umrundete die Bodenmatte und sank neben dem Verletzten auf die Knie. Mit Hilfe von Stethoskop und Blutdruckmanschette prüfte sie gründlich Bens Vitalwerte. Mehr als einmal war ein leises Stöhnen über seine Lippen gekommen. Er regte sich ein wenig und es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis Ben erwachen würde. Sie prüfte die verbliebenen Ampullen mit Schmerzmittel und spritzte ihrem Freund eines der Medikamente, dessen Wirkung sollte zumindest die Schmerzen der Operation etwas dämpfen. Sie verharrte noch einige Minuten in der knienden Haltung und beobachtete Ben. Langsam wanderte ihr Blick über die Bodenmatte und deren Umgebung. Überall befanden sich eingetrocknete Blutspritzer, lagen blutdurchtränkte Kompressen und Verbandsmaterial, Operationsbesteck. Es glich einem Schlachtfeld.


    Am Ende der Fußmatte stand der Weidenkorb mit ein wenig Obst, belegten Broten und Mineralwasserflaschen. Ihr Magen grummelte vor sich hin und signalisierte ihr: Hunger. Sie holte sich eine Banane und einen Apfel aus dem Weidenkorb, biss mit Appetit hinein. Während sie hungrig das Obst vertilgte, führte ihr Gang in Richtung des Fensters. Dort stellte sie zu ihrer Enttäuschung fest, sie war wieder einmal einige Zentimeter zu klein geraten war, denn sie konnte den Fensterriegel nicht ergreifen. Auf dem zweiten Blick erkannte sie zudem, dass dieser abgeschlossen war. Keine Chance auf frische Luft. Sie drehte sich um und verharrte in der Bewegung. Ben war zwischenzeitlich wach geworden und beobachtete sie aus seinen dunklen Augen. Anna eilte zu ihm hin und fiel vor ihm auf die Knie.


    Als Ben langsam wieder zu sich kam, öffnete er die Augen. Sein Blick wanderte in Richtung des Fensters, wo er eine Bewegung wahrgenommen hatte. Dann erkannte er Anna. Sie trug eine hellblaue Leinenhose und darüber ein cremefarbenes Shirt. Ihre Kleidung war mit Blutflecken übersät. Er wurde sich bewusst, was geschehen war. Seine Hand wanderte zu der Schussverletzung am Bauch, tastete über den Rand eines großen Wundpflasters. Das wütende Tier, welches ihn innerlich aufgefressen hatte, war verschwunden, der Schmerz auf ein erträgliches Maß reduziert. Seine Kehle brannte, er hatte furchtbaren Durst. Er setzte an, nach ihr zu rufen, als sie sich zu ihm umdrehte. Ein freudiges Leuchten huschte über ihr Gesicht, als sie erkannte, dass er wach war. Sie eilte auf ihn zu und kniete sich neben ihm nieder und er schaffte es tatsächlich, dass ein Laut über seine spröden Lippen kam.


    „Durst …!“ krächzte er.


    Sie schob ihre Hand unter seinem Kopf, hob ihn an und ließ ihn aus einer Mineralwasserflasche, die in Reichweite gestanden hatte, trinken.


    „Besser?“ fragte sie und er nickte. „Wie fühlst du dich?“


    „Als wäre ich … bei einem … Crash zwischen zwei LKWs geraten!“, ächzte er.


    Annas Hand hielt fortwährend seinen Kopf. Sie war ihm so nahe. Ihr vertrauter Geruch, seine Finger vergruben sich in ihrem Haar und er zog sie zu sich herunter, bis sich ihre Lippen fanden. Es war ein Augenblick des Friedens für beide, bis sie sich voneinander lösten.

    So nach und nach trudelten die ersten Kollegen der Frühschicht ein und erkundigten sich nach dem Stand der Ermittlungen. Die Gespräche lenkten Semir ein bisschen ab, bis Susanne als Letzte gegen neun Uhr eintraf. Sie musterte den Kommissar von oben bis unten und schüttelte den Kopf. Der Türke war unrasiert, die Kleidung zerknittert und dunkle Ringe lagen um seine geröteten Augen.


    „Guten Morgen, Semir!“, begrüßte sie ihn „Sag nichts, du hast den Rest der Nacht hier verbracht oder!“ Sie erwartete gar keine Antwort und hielt ihm statt dessen eine Tüte vom Bäcker hin, der in der Nähe ihrer Wohnung eine Filiale hatte. „Hier Frühstück! … Essen und keine Widerrede! Andrea killt mich sonst!“
    Semir zog sich in sein Büro zurück. Neben einem belegten Brötchen und zwei Croissants fand er auch einen großen Becher mit extra starken Kaffee in der Papiertüte. Ohne Appetit vertilgte er das Essen und schlürfte langsam das heiße Getränk. Dabei beobachtete er das Treiben im Großraumbüro. Zu seiner Verwunderung stellte er fest, dass Frau Krüger noch nicht eingetroffen war. Mit dem Kaffeebecher in der Hand stellte er sich neben Susannes Schreibtisch.
    „Wo bleibt denn die Krüger heute? Weißt du was?“
    Die Sekretärin zuckte mit den Schultern und setzte zu einer Antwort an „Naja, das war vielleicht ….“


    Frau Krüger betrat im gleichen Augenblick die PAST, gefolgt von Oberstaatsanwalt van den Bergh. Die vergangene Nacht hatte auch die Chefin gezeichnet. Ihre Augen lagen tiefer in den Höhlen und hatten dunkle Ringe. Sie hielt an Susannes Schreibtisch inne. Nach einer Begrüßung in die Runde, ordnete sie eine Besprechung im großen Besprechungszimmer in zehn Minuten an, um alle Beteiligten der Dienststelle auf den aktuellen Stand der Ermittlungen zu bringen. Der Anblick des Staatsanwalts, dem Semir nach wie vor eine Hauptschuld an der Entführung von Anna gab, wirkte auf ihn wie ein rotes Tuch. Doch er riss sich zusammen und beherrschte sich. Das Klingeln seines Handys lenkte ihn zusätzlich ab. Er fischte das Mobiltelefon aus seiner Hosentasche und blickte auf das Display. Hartmut rief an. Er drehte sich um, schaute durch das Fenster auf den Parkplatz hinaus und nahm das Gespräch an.


    „Guten Morgen Einstein! Sag mir bitte, dass du was gefunden hast!“ Angespannt lauschte der Kommissar den Ausführungen seines Kollegen. „Sehr gut! … Sehr gut … Endlich mal ein Lichtblick! … Schick mir alles, was du zu dem Kerl gefunden hast! … Und du hast etwas gut bei mir Hartmut!“
    Eine gewisse Erleichterung spiegelte sich auf seinem Gesicht wieder, als er das Gespräch beendet hatte und sein Handy in der Hosentasche verstaute. Erwartungsvoll schaute ihn Susanne an.
    „Hartmut hat an Annas Wagen einen verwertbaren Fingerabdruck sichern können. Dazu gibt es einen Volltreffer in der Datenbank das BKAs. Er sendet uns alles per Mail rüber!“ Er hatte noch nicht ausgesprochen, als an Susannes Bildschirm ein Popup aufblinkte. ‚Sie haben eine neue Nachricht‘.
    „Ja mach halt“, forderte er ungeduldig.
    Susanne öffnete die Mail und den dazugehörigen Dateianhang. Darin befand sich eine Ermittlungsakte, auf der sich das Passbild von Remzi Berisha befand, das schon ein paar Jahre alt war. Darauf waren die Haare des Serben noch schwarz und er trug einen dunklen Vollbart. Das BKA war vor einigen Jahren auf ihn im Laufe von Ermittlungen gestoßen, die im Zusammenhang mit Waffenschmuggel im Bosnienkrieg durchgeführt worden waren. Damals konnte ihm nichts nachgewiesen werden, so dass der erlassene internationale Haftbefehl wieder zurückgenommen wurde. Darüber hinaus stand er auch im Verdacht, als Ausbilder in diversen Söldnercamps tätig gewesen zu sein.
    „Susanne fordere mir alle Unterlagen vom BKA an, an die du ran kommst! … Ach ja, und schalte Interpol ein, vielleicht kennen die den Typen ja auch. Ich informiere zwischenzeitlich Frau Krüger, falls die überhaupt aufnahmefähig ist, für solche Fakten“, meinte er lakonisch und setzte sich in Bewegung Richtung Büro der Chefin.
    „Ähm Semir, schon vergessen?“, unterbrach ihn Susanne und erhob sich gleichzeitig von ihrem Bürostuhl „Wir haben gleich Besprechung im großen Besprechungsraum!“ Sie deutete auf den Flur „Da geht es entlang.“


    Semir brummte nur eine Antwort und folgte seiner Kollegin. Sie waren die Letzten, die dort eintrafen. Im Besprechungsraum waren neben Dieter Bonrath und Jenny noch vier weitere Kollegen vom Streifendienst anwesend. Der Oberstaatsanwalt lehnte lässig an einem Fensterbrett und hielt seine Arme vor der Brust verschränkt, während er den Ausführungen folgte, die Kim Krüger hielt. Die Chefin der PAST stand vor der Videoleinwand und informierte die Anwesenden über die Vorkommnisse und Ermittlungsergebnisse der vergangenen Nacht auf dem Parkplatz der Uni-Klinik. Als sie geendet hatte, übergab sie das Wort an Susanne und Semir, die ihrerseits ihre neuesten Erkenntnisse mit Hilfe der Videoleinwand darlegten. Zum Schluss kam das Foto von Remzi Berisha als möglichen Entführer von Anna.


    An dieser Stelle fiel ihm der Oberstaatsanwalt ins Wort und meine mit einem süffisanten Unterton.
    „Respekt Herr Gerkan! Sie waren ja mächtig fleißig gewesen vergangene Nacht!“
    Dieser Satz wirkte auf Semir wie eine Provokation und er stapfte auf den Oberstaatsanwalt zu. Innerhalb von einer Minute entbrannte zwischen den beiden Männern ein heftiger Streit.
    „Verdammt noch Mal es reicht jetzt meine Herren!“, brüllte Kim Krüger los und schlug mit voller Wucht die Akten in ihrer Hand auf die Tischplatte. Es gab einen mächtigen Knall, der die Anwesenden zusammenzucken ließ. „Mit diesen gegenseitigen Schuldzuweisungen kommen wir keinen einzigen Schritt weiter.“
    Sowohl der Hendrik van den Bergh, als auch Semir verstummten und starrten Kim an. Gleichzeitig ging Bonrath zu seinen Kollegen, umfasste dessen linken Oberarm mit einem eisernen Griff und zog ihn vom Staatsanwalt weg. Mit seiner ruhigen Stimme sprach er auf Semir ein.
    „Lass mal gut sein Semir!“ Der schlaksige Mann stellte sich praktisch als Prellbock zwischen dem Türken und van den Bergh.


    „Danke!“, murmelte Kim in Richtung ihres Dienst-ältesten Mitarbeiters. „Ich denke, wir sollten alle unseren Job machen, umso größer sind die Chancen, Frau Dr. Becker und Herrn Jäger wieder zu finden.“ Sie drehte sich zum Oberstaatsanwalt. „Hendrik, die Beweise von Herrn Freund sollten doch ausreichen, um gegen diesen Remzi Berisha einen Haftbefehl zu erwirken und diesen zur Fahndung ausschreiben zu lassen? Kümmerst du dich darum? … Am besten sofort!“, meinte sie bestimmend.
    „Natürlich!“, gab dieser etwas kleinlaut zurück, zückte sein Handy aus der Anzugjacke und verließ den Raum.
    „Gut! Ich setze mich selbst mit dem BKA in Verbindung und mache den Herrschaften mal Feuer unterm Hinterm, damit die die Daten und Unterlagen zu diesem Remzi Berisha so schnell wie möglich rausrücken!“ So verteilte sie nach und nach Aufgaben an die einzelnen Beamten, bis zum Schluss nur noch sie und Semir im Raum verweilten.


    „Sie haben zusammen mit Frau König vergangene Nacht hervorragende Arbeit geleistet!“ Ihr Tonfall wurde ruhig und fast schon ein wenig beschwörend. „Herr Gerkan, bitte, wir alle haben Fehler gemacht. Sie …. Ich … der Oberstaatsanwalt! … Wir haben alle die Gefahr unterschätzt, in der Frau Becker schwebte. Doch nichts und niemand kann es rückgängig machen. Verstehen sie?“
    Semir verstand worauf seine Chefin hinauswollte und blickte etwas schuldbewusst zu Boden.
    „Wenn wir uns hier gegenseitig zerfleischen, hat letztendlich nur eine gewonnen: Gabriela Kilic!“, fuhr Kim mit ihrer Ansprache fort und umfasste die Schultern ihres Mitarbeiters. „Bitte! …“
    „Schon gut … schon gut Chefin! … Ich werde mich zukünftig beherrschen!“, lenkte er etwas zerknirscht ein.
    „Danke! Und keine Sorge, ich werde mit Herrn van den Bergh ebenfalls diesbezüglich noch ein ernstes Gespräch führen.“ Sie zog einen Notizzettel aus der Ermittlungsakte, die Susanne ihr zu Beginn der Besprechung übergeben hatte. „Ich denke die Adresse in Düsseldorf werden sie selbst überprüfen wollen. Anschließend fahren sie bitte nach Hause, duschen sich und frische Kleidung würde auch nicht schaden.“, meinte sie mit einem leichten Lächeln im Mundwinkel.


    Der Türke steuerte den Ausgang der PAST an, nicht wissend, dass ab diesem Augenblick, als er in seinen silbernen BMW einstieg und vom Parkplatz der Dienststelle fuhr, jeder seiner Schritte beobachtet wurde.

    Zurück auf der PAST in der gleichen Nacht


    Semir saß mit Susanne, die er aus dem Bett geklingelt hatte, vor den Monitoren und studierte die Videobänder der Notaufnahme. Seine Augen tränten bereits vor Anstrengung und die sechste Tasse Kaffee bewahrte ihn vor dem Einschlafen. Er schüttelte kurz den Kopf, rieb sich die Schläfen und die Augenlider, als es vor seinen Augen flimmerte.


    „Sollten wir nicht lieber Schluss machen Semir? … Du kannst kaum noch die Augen offen halten! … Machen wir morgen früh weiter! Es ist schon zwei Uhr nachts!“

    „Nein! … Nein!“, verkündete der eigensinnig. „Das letzte Band schauen wir uns auch noch an!“ und seine Beharrlichkeit wurde belohnt. Kaum war das Videoband angelaufen, schrie er Susanne an: „Halt! … Halt! … Spul noch mal zurück … Da … da bei Minute drei und zwanzig Sekunden!“
    Der Türke erhob sich aufgeregt von seinem Stuhl und stellte sich direkt vor den Monitor, in der Hoffnung so noch mehr Details erkennen zu können.
    Man erkannte auf dem Video einen Mann, der es geschickt verstanden hatte, außerhalb des Blickwinkels der Kamera sich dem offen stehenden Rettungswagen zu nähern. Er trug ein graues Kapuzenshirt und hatte sich die Kapuze weit über den Kopf gezogen. Zusätzlich hatte er noch eine Baseballmütze ohne Werbeaufdrucke auf dem Kopf, um sein Aussehen unkenntlich zu machen.
    „Da .. schau der Kerl! … Zoome mal näher ran …!“ Semir deutete aufgeregt auf den Handrücken des Mannes „noch näher! …. Treffer …“ Deutlich konnte man das Tattoo, das einen Skorpion darstellte, erkennen. „Jag das mal durch den Computer Susanne!“
    „Wie jetzt? Semir schau mal auf die Uhr!“
    Doch der kleine Türke gab nicht nach. Genervt rollte die Sekretärin ihre Augen nach oben.
    „Ja jetzt sofort!“, bekräftigte Semir seinen Wunsch, „Es geht um Ben und Anna! … Schon vergessen?“
    „Nein, habe ich nicht. Du brauchst mich auch nicht daran zu erinnern. Ich möchte nur nicht vor lauter Müdigkeit einen Fehler machen!“, rechtfertigte sie ihren Protest gegen die Verlängerung ihrer unfreiwilligen Nachtschicht. Geschickt tippte sie auf der Tastatur herum und durchsuchte die Datenbanken.

    Währenddessen kochte Semir eine neue Kanne Kaffee und tigerte anschließend mit der Kaffeetasse in der Hand durchs Büro. Nach dreißig Minuten wurde Susanne fündig.
    „Hier schau! … das könnte passen!“
    Auf ihrem Bildschirm erschien eine Akte des BKA über eine serbische Söldnertruppe, die sich durch ihre Greueltaten im Kosovo Krieg einen blutigen Ruf verschafft hatte. Deren Erkennungszeichen war diese Tattoo: der bewusste Skorpion. Wieder ein Indiz mehr, das bestätigte, dass mit größter Wahrscheinlichkeit Gabriela Kilic hinter der Entführung von Anna steckte. Zwischen dem Türken und der Sekretärin entbrannte ein neues Wortgefecht, bis Semir endlich einsah, mehr konnte man zu so später Nachtstunde nicht erreichen. Er gab sich geschlagen und versprach Susanne, ebenfalls nach Hause zu fahren, um einige Stunden zu schlafen, als diese völlig übermüdet die PAST verließ. Doch statt heim zu fahren, legte er sich im Bereitschaftsraum zum Schlafen nieder.


    *****


    Nachdem Susanne das Bürogebäude verlassen hatte, begab sich Semir in den Bereitschaftsraum und legte sich auf einer der unbequemen Pritschen zum Schlafen nieder. Er verfiel in einen unruhigen Schlaf, wälzte sich von einer Seite auf die andere. Noch vor Beginn der Frühschicht erwachte er. Als er sich aufrichtete und seine Füße auf den Boden stellte, fühlten sich seine Glieder bleischwer an, so als hätte er überhaupt nicht geschlafen. Mit müden Schritten schleppte sich der Türke zurück in sein Büro. In trüben Gedanken versunken saß Semir an seinem Schreibtisch. In seiner Verzweiflung rief er trotz der frühen Morgenstunde Andrea auf dem Handy an und riss seine Frau aus dem Schlaf. Es war wie Balsam auf seine Seele ihre Stimme zu hören. Andrea war entsetzt, als er ihr von Annas Entführung berichtete. Sie sprach ihm Mut zu, machte ihm Hoffnung, dass er Ben und Anna finden würde. Um ihn ein bisschen von seinen Sorgen abzulenken, erzählte sie von Aida und Lilly, wie die beiden Mädels zusammen mit Mehmets Kindern am Strand und im Meer spielten und glücklich waren. Aber die Mädchen vermissten ihren Papa. Mehmet und dessen Familie hatten mit Andrea und den Kindern Ausflüge unternommen und alles gemacht, damit der Urlaub in der Türkei ein unvergessliches Erlebnis für die Kinder werden würde. Es war für ihn beruhigend zu wissen, dass seine Liebsten in Sicherheit waren. Doch er war auch gleichzeitig unsagbar traurig darüber, dass er nicht bei seiner Familie sein konnte. Zum Abschied versprach er seiner Frau, „Andrea! Versprochen! Sobald ich Ben und Anna gefunden habe, sitze ich im nächsten Flieger und komme zu euch!“ Er hauchte einen liebevollen Kuss auf das Display.


    In Wehmut zu verfallen, würde ihm nicht helfen seine beiden Freunde zu finden. Also versuchte er sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Über Interpol hatte er eine weitere Suchanfrage zu dieser serbischen Spezialeinheit gemacht. Die Antwort des BKAs stand noch aus. Wahrscheinlich würde sich erst mit Beginn des normalen Dienstes dort jemand die Mühe machen, die Anfrage zu sichten und zu beantworten.
    Zum X-ten Mal hatte er alle Berichte studiert, die mit dem Verschwinden von Ben und dem Ausbruch von Gabriela Kilic zusammenhingen. Er war sich sicher, irgendein winziges Detail hatte er übersehen. Diesen einen entscheidenden kleinen Hinweis … Der kleine Türke fühlte sich so hilflos, er suchte im wahrsten Sinn des Wortes nach der Stecknadel im Heuhaufen.

    Die Freunde auf der Intensivstation vereint ... :)

    kann mir die Überraschung der Beiden gut vorstellen

    während es bei Semir langsam aufwärts geht, mache ich mir bei Ben einige Sorgen

    also gut ... so ein kleiner minimal invasiver Eingriff, um Blutungen zu stillen ist erlaubt ... aber ansonsten wünsche ich mir ein weiteres Drama mehr

    dem Tierarzt wünsche ich nur eines: Der Arm möge abfaulen ... der soll leiden, für das war er den Tieren und unseren beiden Lieblingspolizisten angetan hat

    hmmm ... aber wenn die Flucht nach Rumänien gelingt ... :/

    gibt es einen Zeitsprung ... unsere Polizisten genesen ... gehen in Draculas Heimat auf Verbrecherjagd ...

    ich weiß, das Kopfkino geht schon wieder mit mir durch ;)

    ich lasse mich überraschen, wie die Geschichte weiter geht

    Anna blieb keine Zeit zum Ausruhen oder Nachdenken über Gabrielas Worte. Die entzündeten Wunden am Rücken und am restlichen Körper mussten ebenfalls gereinigt und versorgt werden. Die Ärztin hatte schon bemerkt, dass die Sedierung langsam nachließ. Verzweifelt suchte sie mit ihren Blicken den kleinen Medikamentenvorrat ab. Da war nichts mehr, was sie Ben zur Sedierung verabreichen konnte. Der Bestand an starken Schmerzmitteln war begrenzt und sie wollte deren Verabreichung solange wie möglich hinauszögern. „Halt noch ein bisschen durch Schatz!“ murmelte sie vor sich hin. Behutsam begann sie an der linken Schulterwunde die Wundränder zu säubern. Kleine Stofffasern und die Maden pulte sie mit einer Pinzette heraus, spülte mit dem letzten Rest Kochsalzlösung die Wunde aus. Diese Verletzung war entzündet und sah richtig übel aus.


    Ihre Augen tränten von der Anstrengung Sie seufzte vor sich hin. Als sie ungefähr die Hälfte der Wunden gesäubert hatte, teilweise mit einer Naht verschlossen hatte, begann Ben seinen Kopf unruhig hin und her zu bewegen. Anna hatte ihn auf den Bauch gedreht, um leichter die Wunden aus seinen Rücken versorgen zu können. Sein Stöhnen wurde intensiver und lauter. Die Schmerzlaute glichen anfangs einem leisen Wimmern, wurden lauter und lauter. Seine rechte Hand war zu einer Faust geballt. Er krallte sie in die Bodenmatte, dass das weiße seiner Fingerknochen hervortrat. Er versuchte seinen Oberkörper aufzurichten und nur mit Mühe gelang es der jungen Frau ihn zurück in die liegende Position zu drücken.


    „Ben … Ben … alles gut! … Um Himmels Willen bleib liegen! … Bitte!“ flehte sie ihn an. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, welche Qualen er im Moment durchlitt. „Alles gut … alles gut! … Ich gebe dir was gegen die Schmerzen! Aber bitte, bewege dich nicht mehr!“
    Sie drehte sich zu den bereitgelegten Medikamenten um, wählte ein starkes Schmerzmittel aus und verabreichte es ihm. Seine dunklen Augen blickten sie angsterfüllt und voller Schmerz an.
    Für Ben war das Auftauchen aus dem dunstigen Nebel der Dunkelheit, die ihn umgeben hatte, die Rückkehr in die Folterkammer. Irgendein wildes Tier schien sich in seiner linken Bauchseite festgesetzt zu haben und hatte begonnen, daran zu nagen, einzelne kleine Stückchen herauszureißen. Der Schmerz durchflutete jede einzelne seiner Körperzellen. Er wollte seinen Schmerz herausschreien, doch nur ein erbärmliches Stöhnen kam über seine Lippen. Sein Rücken brannte wie ein Höllenfeuer … probierte dieser grauhaarige Sadist wieder seine Schlachtermesser an ihm aus … seine Hände waren frei … er musste sich wehren … aufstehen … wegrennen ….Sein Herzschlag hämmerte … hallte in seinem Kopf wider. Sein Geist war völlig verwirrt … gaukelte ihm furchterregende Bilder vor … weg … er wollte weg … Auf einmal war da diese vertraute Stimme … Anna … was redete sie denn zu ihm … er spürte ihre weiche Hand an seiner Wange … etwas durchströmte seine Adern … verbreitete ein angenehmes Gefühl … der Schmerz ebbte ab. ….Langsam verstand er, was seine Freundin zu ihm sagte.
    „Ich habe es gleich geschafft … nur noch eine dieser grauenhaften Striemen …. Ja, halt nur noch ein bisschen durch! Die kleinen Kratzer schaffst du auch noch!“


    Der Nebel hüllte ihn wieder ein und er schien zu schweben. Langsam driftete er wieder ab in die Schattenwelt.
    Als Anna bemerkte, wie sich der Körper ihres Patienten wieder ein wenig entspannte, fuhr sie mit ihrer Versorgung der Wunden fort. Den Abschluss bildeten die verschorften Brandwunden. Jede einzelne Verletzung führte Anna vor Augen, welche physische Gewalt und Qualen Ben in den letzten Tagen durchlebt hatte. Einige der Verletzungen waren mindestens schon über eine Woche alt. Sie fasste ihn am Oberarm und Schulter an und drehte ihn vorsichtig auf den Rücken. Unter seinen Kopf schob Anna eine der zusammengefalteten Decken, die ihr die junge Russin gebracht hat. Mit einer anderen deckte sie ihn sorgfältig zu und versuchte ihn auf der harten Unterlage so gut es ging zu betten. Zärtlich strich sie ihm eine der verschwitzten Haarsträhnen aus der Stirn und studierte sein Gesicht. Keine Regung, kein Zucken eines Muskels entging ihr. Mehr als einmal flatterten seine Augenlider und sie hoffte, dass er diese aufschlug. Längst hatte sie die blutverschmierten Handschuhe abgestreift und auf den Haufen mit blutdurchtränken Kompressen geworfen. Mit ihren Händen umschlang sie seine Rechte. Bildete sie sich es nur ein oder hatte er tatsächlich den Druck ihrer Finger erwidert? Sie verharrte einige Minuten in ihrer knienden Haltung und wartete. Aber aus einem schmerzerfüllten Stöhnen kam keine Reaktion mehr von Ben. Während die letzte Infusion über den Zugang in Bens Venen floss, sortierte Anna ihre verbliebenen Medikamente und das restliche Verbandsmaterial. Alles was sie nicht akut benötigen würde, legte sie zurück in den Rettungsrucksack. Nur Präparate, die sie für den Notfall benötigte, ließ sie griffbereit neben sich auf der Bodenmatte liegen.
    Nachdem sie den leeren Infusionsbeutel ab gestöpselt hatte, lies sie sich völlig erschöpft neben ihrem verwundeten Freund nieder. Mehrmals hatte sie seine Vitalwerte geprüft. Seine Atmung war sehr flach und sie betete inbrünstig, dass sein Kreislauf nicht versagte oder es zu anderen Komplikationen kommen würde. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand an und kämpfte gegen ihre Müdigkeit an. Bens Kopf hatte sie auf ihrem Schoß gebetet. Keine Regung von ihm entging ihr. Mehr konnte sie im Augenblick nicht mehr für Ben tun. In ihren Gedanken betete sie darum, dass Semir sie und Ben finden möge.
    Als draußen ein schmaler Lichtstreif am nächtlichen Himmel den kommenden Tag ankündigte, schlief sie vor Erschöpfung ein.

    Zurück blieben im Kellerraum Anna und ihr verwundeter Freund. Durch Elenas Putztätigkeit hatte die Ärztin die Erkenntnis gewonnen, dass sich hinter der zweiten Tür ein kleines Badezimmer verbarg. Sie hatte keinen Blick für die kostbare Ausstattung des Bades. Für sie zählte nur, dass sie sich notdürftig waschen konnte und ihre dunklen Haare, die ihr bis zur Taille reichten, zu einem Zopf zu flechten. Bens Stöhnen mahnte sie zur Eile. Er hatte seinen Kopf in Richtung Bad gewendet, und seine dunklen Augen waren auf sie gerichtet. Trotz des Schmerzmittels, das sie ihn verabreicht hatte, konnte sie seine Not und Qual daraus ablesen. Es erinnerte sie daran, warum sie hier war! Sie wollte ihrem verletzten Freund helfen, sein Leben retten. Anna eilte zu ihm zurück und kniete sich an seiner rechten Seite nieder. Ihre Hände umfassten seinen Kopf. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn, ließ ihn noch einmal all ihre Zuneigung und Liebe spüren. Ihre Blicke trafen sich.
    „Bevor ich dich sedieren kann, muss ich dich so genau wie möglich untersuchen. Ich brauche dazu deine Hilfe, denn ich habe keinen Röntgenblick. Es wird also beim Abtasten höllisch weh tun, verstehst du?“


    Er nickte verstehend und sie sah, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten. Sie streifte sich ein paar sterile Handschuhe über und begann so einfühlsam wie möglich, mit ihren Fingerkuppen den Bereich um die Einschusslöcher im Bauchraum, an der rechten Flanke und an der Hüfte abzutasten. Vorsichtig drehte sie ihn zur Seite und untersuchte seinen Rücken. Mehr als einmal entfuhr Ben trotz zusammengepresster Lippen ein Schmerzensschrei. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Anna sprach beruhigend auf ihn ein und erklärte ihm ihre Vorgehensweise. Sie untersuchte nochmals gründlich seine Hämatome am Oberkörper, versuchte sich ein Bild darüber zu machen, ob Rippen gebrochen waren oder der Verdacht auf innere Verletzungen bestand. Dank der Infusionen und Medikamente hatte sich zumindest Bens Zustand stabilisiert, so dass sie den nächsten Schritt wagen konnte, das Entfernen der Kugeln.


    Sorgfältig bereitete sie auf einigen sterilen Tüchern alles für die bevorstehende Operation vor. Die Instrumente, selbst-auflösendes Nähmaterial aus ihrem Arztkoffer, Medikamente, die sie vorsorglich in Einwegspritzen aufzog, Kompressen, Tupfer und Verbandsmaterial.
    An diesem unwirklichen Ort war Improvisation pur gefragt. Sie konnte Bens fragende Blicke fast körperlich spüren und so versuchte sie, ihrer Stimme einen aufmunternden Klang zu verleihen.
    „Ich werde dich jetzt betäuben und ich kann dir nichts versprechen Ben, außer, dass ich mein Bestes geben werde!“ Sie gab ihm nochmals einen innigen Kuss, in dem sie all ihre Liebe legte, die sie für ihn empfand.


    Bevor Anna mit der Operation begann, wusch sie sich noch einmal so gründlich es ging, in dem kleinen Badezimmer. Anschließend streifte sie sich ein Paar sterile Chirurgenhandschuhe über und ihr Blick wanderte nochmals über das sorgfältig bereit gelegte Operationsbesteck und die paar Medikamente, die ihr für den Notfall noch zur Verfügung standen. Angesichts der Schwere der Verletzung und der äußeren Umstände überfiel sie ein Anfall von Panik. ‚Ich werde Ben umbringen,‘ der Gedanke nahm regelrecht Besitz von ihrem Gehirn. ‚Das ist der pure Wahnsinn, den du da gerade vor hast‘. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und ein Schauer nach dem anderen jagte durch ihren Körper. Ihr Herzschlag raste in neue Dimensionen und kalter Schweiß brach ihr aus. Oh Gott, beschwor sie sich, reiß dich zusammen, schön langsam einatmen und ausatmen. Langsam zählte sie von zehn rückwärts. Mühsam schaffte sie es die Panikattacke unter Kontrolle zu bringen. Ben schien zu erahnen, was in ihr vorging. Mit einer matten Bewegung ergriff er ihren Arm und hauchte: „Du schaffst das mein Schatz! … Da kannst das!“


    Mühsam schluckte sie die würgende Enge in ihrer Kehle hinunter. Ihre Hände zitterten immer noch, als sie Ben über den Zugang, dem sie ihm zusätzlich zur Infusion gelegt hatte, das Narkosemittel Ketamin spritzte, das sie in der Ausrüstung gefunden hatte. Inbrünstig betete sie, dass sie die Dosis richtig bemessen hatte und die Wirkung lange genug vorhalten würde. Nur ein kümmerlicher Rest verblieb in der Spritze.
    Das Narkosemittel schien zu wirken. Ben wurde müde und schläfrig. Sein Körper entspannte sich. Sicherheitshalber prüfte sie nochmals über die angelegte Blutdruckmanschette Bens Vitalwerte. Sein Kreislauf schien soweit stabil zu sein. Sie atmete mehrmals tief durch. Die Luft in dem Kellerraum war stickig. Ihre Finger fingen wieder an zu zittern, als sie das Skalpell aus der sterilen Verpackung holte. Es kostete sie eine wahnsinnige Überwindung das scharfe Messer an Bens Haut anzusetzen. Was würde geschehen, wenn er ihr unter den Händen verblutete oder ihr gar unter den Händen wegstarb? Sie bemühte sich all ihre Gefühle aus ihrem Kopf zu verbannen. Du hast es in der Hand, Ben das Leben zu retten, ermahnte sie sich. Denk an euer gemeinsames Kind, das in deinem Bauch heranwächst. Überlebte er die Operation, stieg mit jeder Stunde, die sie sein Leben verlängerte, die Chance, dass Semir sie finden würde. Sie musste dem kleinen Türken Zeit verschaffen. Ein letztes Mal schloss sie die Augen, sammelte sich und versuchte gleichzeitig auszublenden, wer da vor ihr lag.


    Mit jedem Handgriff, den sie ausführte, wurde sie ruhiger, gewann die Ärztin in ihr die Oberhand und bestimmte ihr Handeln. Kleine Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Stirn und ihrer Nasenspitze. Mit ihrem Ärmel wischte sie darüber. Es gab hier keine Röntgengeräte, kein Ultraschall, welche ihr die Diagnose erleichterten. Hier waren einfach nur ihr Wissen und das Geschick ihrer Hände gefragt. Während ihres Studiums hatte sie sich für die Geschichte der Medizin interessiert, war ihre Leidenschaft geworden, vor allem wie sich die chirurgischen Eingriffe im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hatten. Darüber hatte sie ihre Doktorarbeit verfasst. Genau diese Kenntnisse halfen ihr trotz ihrer geringen Erfahrung als Chirurgin die Kugel aus dem Bauchraum zu entfernen. Sie säuberte die Wundränder, entfernte zerfetzte Gewebeteile und unternahm alles, um die auftretenden Blutungen zu stoppen. Als sie den Verlauf des Schusskanals erfasste, glomm ein Hoffnungsschimmer in ihr auf. Die Kugel war schräg in den Körper eingedrungen. Um endgültige Gewissheit über die Schwere der inneren Verletzungen zu haben, musste sie den Bauchraum weiter öffnen. Bens Schutzengel hatten Überstunden geleistet. Die Kugel hatte zwar den Darm gestreift aber nicht zerrissen. Anna hätte vor Glück aufschreien können. Sie war sich bewusst, dass dies noch keine Überlebensgarantie für Ben war. Allerdings machte es ihr Mut, auch wenn die Skeptikerin in ihrem Hinterkopf vor den vielen Komplikationen warnte, die noch in den nächsten Stunden auftreten könnten. Um den Eingriff zu beenden, war sie gezwungen den letzten Rest des Ketamins zu spritzen. Mit einer Sonde entfernte sie endgültig die Kugel, die im Muskelgewebe der rechten Flanke stecken geblieben war, übernähte sicherheitshalber die Verletzung am Darm und legte eine provisorische Drainage, damit die Wundflüssigkeit abfließen konnte.


    Nachdem sie die Schusswunde an der Hüfte versorgt und verbunden hatte, lagen einige Zeit später die beiden Bleigeschosse blutüberzogen neben ihr auf der Bodenmatte. Ihr Schweiß perlte an der Schläfe herab, als sie sich aufrichtete, bahnten sich dieser seinen Weg am Hals entlang. Ihr T-Shirt klebte schweißdurchtränkt an ihrem Körper. Die Halogenleuchte strahlte unbarmherzig ihre Hitze aus.
    Von Anna unbemerkt, war Gabriela unter dem Türrahmen gestanden und hatte regungslos den größten Teil der Operation beobachtet. Sie schritt auf die junge Frau zu.


    „Wo sind die Kugeln?“, auffordernd hielt sie die Hand auf. Anna deutete auf eine blutige Wundauflage, auf der die beiden Kugeln lagen. Die Kroatin bückte sich und nahm die blutüberzogenen Geschosse in die Hand. Gabrielas Blick wanderte zurück zu Ben. In ihren Augen glitzerte es freudig, als sie das gleichmäßige Heben und Senken des Brustkorbs sah.

    „Na Schätzchen, was habe ich dir prophezeit? … Man braucht keine Krankenhaus um eine Kugel zu entfernen!“ Dabei ließ sie die Kugeln spielerisch durch ihre Finger gleiten und setzte ein versonnenes Lächeln auf, als würde sie mit ihrem Lieblingsspielzeug spielen.
    „Pass mir schön auf meinen Lieblingsbullen auf, Schätzchen!“, zischelte sie und verließ den Raum.
    Was Anna nicht ahnte, Gabriela hatte nicht damit gerechnet, dass es der Ärztin tatsächlich gelingen würde, das Geschoss aus dem Bauchraum zu entfernen und Ben die Operation überlebte.

    ich gebe zu, ich war beeindruckt von Beschreibung der OP des Neuro-Chirurgen bei Lucky ... ich weiß ja aus eigener Erfahrung, was in der Tiermedizin mittlerweile alles möglich ist ... aber trotzdem :thumbup::)

    Ich wusste ebenfalls nicht, dass Levetriracetam ebenfalls in der Tiermedizin als Anti-Epilepileptika eingesetzt wird ... als Dauermedikation? Ich gehe davon aus, als krampflösendes Notfallmedikament etwas anderes eingesetzt wird.

    Zum Glück kann Sarah die gute Nachricht über Lucky noch an Ben weiter geben ... tja, wenn der wüsste, wer sein Bettnachbar ist

    unwillkürlich hatte ich bei deiner Beschreibung die Szene aus der Folge "Landei" im Kopf ... :D

    Der Verletzte stöhnte gequält auf. Sofort wandte die Ärztin, die Elena ebenfalls eingehend gemustert hatte, ihre Aufmerksamkeit dem Mann wieder zu und redete beruhigend auf ihn ein. Nicht nur ihre Worte, sondern auch der Ausdruck ihrer Augen, ihre Mimik und Gestik verrieten der Russin, diese Frau liebte den dunkelhaarigen Mann.
    Elena erkannte in dem Verletzten auf der Bodenmatte den Mann aus den Videos wieder. Augenblicklich wurde ihr klar, dass Gabriela dort oben im Wohnzimmer in den letzten Tagen keinen Horrorfilm der normalen Art angeschaut hatte, sondern dass die Folterungen und Misshandlungen alle in Wirklichkeit stattgefunden hatten. Auch Rashids Rolle in diesem perversen Spiel wurde ihr plötzlich klar. Das Verbot, warum sie das Kellergeschoß nicht betreten durfte, bekam einen anderen Sinn. Der letzte Funken Zuneigung, den sie für den jungen Mann empfunden hatte, erlosch in diesem Moment. Niemand hatte in ihren Augen das Recht, einen anderen Menschen so zu quälen und ein solches Leid an zu tun. Das Grauen, das sie überfiel, lähmte sie.
    Elena überhörte Camils Ruf und starrte die beiden Personen auf der Bodenmatte wie hypnotisiert an. Sie sah den warmen Ausdruck in Annas Augen und verstand auch ohne Worte. „Danke!“


    „Vorwärts! Mach endlich, dass du herkommst Mädchen! Da draußen liegt noch mehr Zeug rum, dass du reinschaffen sollst!“, forderte sie der Söldner in einem scharfen Tonfall auf, zu ihm zu kommen. „Vor allem, schaff diesen stinkenden Abfall weg!“ Dabei deutete er angewidert auf Bens Jeanshose, die neben der Eingangstür lag. Ihr Gesicht schien ihre Empfindungen wieder zu spiegeln. Gereizt brummte er sie an: „Denk nicht einmal darüber nach, was passiert ist. Zu deiner eigenen Sicherheit, halte dich raus!“


    Mit gesenktem Kopf schlich Elena an Camil vorbei. Im Haushaltsraum im Erdgeschoss suchte sie nach Abfallbeuteln, Haushaltstüchern, Reinigungsmitteln und Handschuhen. Widerspruchslos reinigte Elena die Bodenmatte von Bens Exkrementen. Vor allem als sie mit Hilfe von Anna, die ihr leise Anweisungen zu flüsterte, den Verletzten säuberte, warf sie ein ums andere Mal einen fassungslosen Blick auf den geschundenen Körper des Polizisten. Bei der kleinsten Bewegung seines Körpers stöhnte der Verletzte schmerzerfüllt auf. Elena durchfuhr dabei jedes Mal selbst ein Stich, der einem Stromschlag glich.
    Camil überwachte die Säuberungsaktion mit einem gebührenden Abstand. Aus dem Augenwinkel beobachtete ihn Elena. Ihre Versuche mit Anna ein Gespräch zu beginnen, erstickte er im Keim. Zu ihrer Überraschung holte er aus seiner Hosentasche einen kleinen Spezialriegel und öffnete damit das überdimensionierte Kellerfenster. Während sie das verschmutzte Badetuch, die verdreckte Hose und den restlichen Abfall aufsammelte, wusch die Ärztin behutsam das Gesicht ihres Freundes. Seine Blöße hatte die Dunkelhaarige durch eine der mitgebrachten Decken bedeckt. Elena blieb keine Zeit mehr, die Frau weiter zu beobachten. Camil trieb sie zur Eile an. Sorgfältig verschloss er wieder das Kellerfenster und ließ den Fensterriegel in seine Hosentasche zurückgleiten. Zum Schluss stellte er den Halogen-Deckenfluter mit Leselampe neben der Bodenmatte ab und verließ zusammen mit Elena endgültig den Raum.
    *****
    Elena fühlte sich in einem Alptraum gefangen, als sie die Abfallsäcke schleppend, den Kellergang hoch ins Erdgeschoss stieg. Der Anblick des verwundeten Mannes, der verdreckt und verwahrlost auf der Bodenmatte gelegen hatte, hatte ihr fast den Verstand geraubt. Ihr wurde bewusst, die Menschen, mit denen sie hier unter einem Dach lebte, waren menschliche Bestien. Sie hatte die Drohung, die die Kroatin auf der Terrasse ausgesprochen hatte, nicht vergessen. Diese bekamen eine neue Dimension. In den vergangenen Wochen hatte sie des Öfteren erlebt, wie brutal Remzi Berisha gegenüber Rashid und auch ihr gewesen war. Ihr Denken wurde beherrscht von der Furcht, was sie erwarten würde, was man ihr antun würde, was dieser grauhaarige Söldner ihr antun würde. Während der Zeit im Bordell, als man sie zur Prostitution gezwungen hatte, hatte sie die bittere und schmerzhafte Erfahrung gemacht, wozu Männer fähig waren, um Frauen gefügig zu machen. Jeder Widerstand war zwecklos gewesen. Am Ende der Treppe riss sie Camils Befehl aus ihren Gedanken.


    „Schaff den Abfall raus und anschließend gehst du hoch in mein Zimmer. Dort wartest du auf mich!“ Überrascht drehte sie sich um und blickte ihn fragend an, was bedeutete dieser Befehl für sie. „Na los! Mach schon!“, bekräftigte er seine Aufforderung.


    Die Mülltonne stand draußen neben dem Carport. Sie huschte durch die Eingangshalle, die nach wie vor hell erleuchtet war. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass Gabriela im Wohnzimmer herumtigerte. Remzi stand vor der großen Eingangstür, telefonierte mit dem Handy. Zwischen seinen Lippen hing eine Zigarette, an der er heftig zog. Camil gesellte sich zu ihm. Die beiden Männer diskutierten in ihrer Muttersprache. Aus seiner Mimik und Gestik schloss Elena, dass der Grauhaarige ziemlich wütend zu sein schien. Die junge Frau wollte keinesfalls für den älteren Söldner als Ventil für dessen Wut dienen. Sie erledigte den aufgetragenen Auftrag so schnell sie konnte und beeilte sich ins Obergeschoss zu gelangen.


    Erleichtert drückte sie die Tür zu Camils Schlafzimmer ins Schloss, trat einen Schritt zur Seite und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Zumindest dem Zugriff von Remzi war sie erst einmal entkommen. Ihr Blick richtete sich auf das Doppelbett, an der gegenüberliegenden Wand.


    Warum fragte sie sich benommen? Warum meinte es das Schicksal nicht gut mit ihr? Sie war der Hölle der Zwangsprostitution entkommen und war in einer neuen Hölle in dieser Villa gelandet. Es war wie ein Aufschrei ihrer gequälten Seele. Leise schluchzend, murmelte sie das Wort immer wieder vor sich hin. Sie drohte innerlich unter der Last dieses Alptraumes zusammenzubrechen. War das ihre Bestimmung, an diesem Ort zu sterben? Sie kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Die Türklinke wurde runtergedrückt und Camil stand im Raum.


    Er wischte mit seinen Fingern ihre Tränen zur Seite. Zärtlich strich er über ihre Wangen, am Hals entlang bis zu ihrer Brust. Elena zuckte bei der Berührung zusammen und machte sich steif.
    „Hey, keine Angst! Auch wenn ich ein ehemaliger Söldner und Soldat bin, der schlimme Dinge gemacht hat, ein bisschen Selbstachtung besitze ich noch. Ich bin nicht der Typ Mann, der darauf steht, eine Frau mit Gewalt zu nehmen, einer Frau Gewalt an zu tun!“
    Camil blickte ihr dabei voll in die Augen. Sie konnte darin eine Spur von Mitgefühl und noch ein bisschen mehr lesen. Er nahm seine Hand zurück und musterte sie forschend. „Ich will nichts, was du nicht bereit bist, mir freiwillig zu geben. Nur erzähle mir nicht, dass der Albaner deine große Liebe war.“ Er trat einen Schritt von ihr weg und zündete sich eine Zigarette an. „Ich sehe das so: Du hast den Kerl wahrscheinlich sogar ein wenig gemocht und er war deine große Chance auf ein anderes Leben.“
    Er verstummte und Elena fühlte sich ertappt. Verlegen blickte sie zu Boden, was sollte sie darauf antworten? Die Wahrheit? Eine leichte Röte schoss in ihr Gesicht.
    „Dachte ich es mir doch!“, durchbrach er die Stille. „Etwas solltest du vielleicht noch wissen. Wahrscheinlich bin ich ein Idiot. Aber ich mag dich irgendwie und ich werde dich so gut es geht vor Remzi und den anderen Kerlen beschützen, die morgen ankommen.“ Er inhalierte mehrmals tief den Rauch der Zigarette und blies ihn hörbar und sichtbar raus. „Und wer weiß, vielleicht nehme ich dich sogar mit zurück in meine Heimat, wenn der Scheiß hier vorbei ist. Geh erst einmal duschen und denke nach!“ Er wandte sich von ihr ab und ging raus auf den kleinen Balkon zum Rauchen.


    Elena ging ins Badezimmer und streifte ihre verschmutzte Kleidung ab. Während das warme Wasser über ihren Rücken lief, arbeitete ihr Verstand auf Hochtouren. Wenn sie das Gespräch auf der Terrasse nicht belauscht hätte, hätte sie Camils Worten Glauben geschenkt. Doch Gabriela hatte ihr Todesurteil ausgesprochen. Sie hatte furchtbare Angst, Todesangst, aber sie wollte nicht sterben, sondern fliehen. Für einen Fluchtplan musste sie Zeit gewinnen. Ein neuer Reisepass und ein Ausweis mit einer kroatischen Identität für sie lagen gut versteckt in Rashids Badezimmer. Elena focht einen inneren Kampf mit sich aus. Sollte sie die Chance ergreifen, die sich hier bot? Meinte es der Schnauzbärtige ehrlich? Sie hatte in seinen Augen nicht nur Mitleid gesehen, sondern auch Zuneigung. War der Preis zu hoch für ein bisschen Schutz und Sicherheit? Nein, denn in ihr war auch die Sehnsucht nach Geborgenheit, Liebe und ein bisschen menschliche Zuneigung, damit diese innere Qual alleine zu sein, verlassen vom Rest der Welt, wenn auch nur für einen kurzen Zeitraum verschwand.
    Sie trocknete ihre Haare und schlang ein Badetuch um ihren Oberkörper, das ihre Blöße bedeckte und ging zurück ins Schlafzimmer.

    Camil stand unter der geöffneten Balkontür und blickte ihr erwartungsvoll entgegen. Elena atmete mehrmals tief durch und gestand ihm „Elena … Angst! Große Angst vor böser Frau!“
    Bei ihren Worten lief ihr die Gänsehaut über den Körper. Mit ihren tiefblauen schaute sie Camil verzweifelt an. Sie glichen in ihrer Farbe und Intensität der Farbe des Meeres an den kroatischen Küsten und erinnerten ihn an die Heimat. Er schritt auf sie zu und nahm die junge Frau in seine Arme. Im Gegensatz zu ein paar Minuten vorher, schmiegte sie sich an ihn heran. Er spürte wie die Feuchtigkeit ihrer Tränen sein Shirt durchnässten. „Psst … schon gut …. Schon gut!“, murmelte er beruhigend und streichelte ihr zärtlich über den Rücken. Ihre Hände schoben sich dabei unter den Saum seines Shirts. Sie klammerte sich förmlich an ihn heran und spürte unter ihren Fingern seine durchtrainierten Muskeln.
    „Willst du es wirklich?“, fragte er mit einer heißeren Stimme.
    „Ja!“, hauchte Elena zurück.

    Ein unglaubliches Gefühl von Wärme und Zuneigung durchflutete ihn, als er sie mit seinem Blick fixierte.
    Ihr Gespräch wurde unterbrochen. Anna hätte so gerne diesen Moment, wo Ben so klar und ansprechbar war, weiter ausgenutzt. Der Schlüssel der Zimmertür wurde im Schloss umgedreht. Ihre Entführer kamen zurück. Annas Blick wanderte in Richtung der Tür. Zu ihrer großen Überraschung erschien eine junge Frau im Türrahmen, die von Camil begleitet wurde. Ihr hübsches Gesicht wurde von einer brünetten Haarpracht, die bis zu den Schultern reichte, eingerahmt. Anna musterte die zierliche Frau, die sie auf Anfang zwanzig schätzte. Wie kam sie wohl hierher? Ihr blasses Gesicht stand im krassen Gegensatz zu der gebräunten Haut ihrer Oberarme und Beine. In ihren blauen Augen flackerte Angst. Grenzenlose Angst.


    *****


    Tatsächlich schaffte es Elena mit Hilfe des Rankgitters aus Holz, welches an der Außenwand als Kletterhilfe für die Rose befestigt worden war und über das geöffnete Fenster der Gästetoilette unbemerkt zurück ins Haus zu gelangen. Die in der Decke angebrachten LED-Leuchten brannten noch. Beim Anblick der Klo-Schüssel war ihre Körperbeherrschung am Ende. In einem Schwall landete der Inhalt ihres Magens darin. Doch das Würgen ließ nicht nach. Immer wieder krampfte sich ihr Bauch zusammen. Sie weinte blind und voller Qual vor sich hin. Sie war verloren, endgültig verloren. Ihr Traum von Freiheit und einem Neuanfang in Kroatien mit Rashid war bereits am Morgen wie eine Seifenblase zerplatzt. Der junge Albaner war zwar für sie nicht die Liebe ihres Lebens gewesen aber die Möglichkeit auf eine bessere Zukunft.


    Man hatte sie vor zwei Jahren mit so vielen Versprechungen nach Deutschland gelockt. Die Chance auf ein Studium, eine Ausbildung als Dolmetscherin, ihr gut bezahlte Jobs in Aussicht gestellt. Dumm und naiv war sie darauf reingefallen. Denn die Realität war gewesen, bereits nach der Einreise nach Deutschland hatte man ihr den Reisepass abgenommen und vor ihren Augen verbrannt. Sie war in Kasachstan in einem Kinderheim aufgewachsen. Sie hatte keine Eltern und keine Verwandten mehr. Niemand würde sie vermissen. Niemand würde nach ihr suchen. Sie war damals vor zwei Jahren zu einem Niemand geworden. Man hatte sie dazu gezwungen, sich Männern hinzugeben. Weigerungen wurden gnadenlos bestraft. Im Laufe der Monate, die sie im Bordell gelebt hatte, hatte sie gelernt zu überleben, die Hoffnung auf Flucht nie aufgegeben. Und jetzt dieses Todesurteil aus Gabrielas Mund. Doch sie wollte leben.


    Gefangen in ihren Todesängsten, bemerkte Elena nicht, wie Camil die Toilette betrat. Als sich seine Hand auf ihre Schulter legte, schrie sie vor Entsetzen auf. Er kniete neben ihr nieder, reichte ihr ein feuchtes Handtuch und meinte: „Wisch dir die Tränen und die Kotze aus dem Gesicht Mädchen.“
    Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und erkannte durch ihren Tränenschleier zu ihrer Verwunderung, dass er sie besorgt anschaute.
    „Ich wusste gar nicht, dass dir der Tod von diesem Albaner so an die Nieren geht.“ Er umschlang ihr Handgelenk und zog daran. „Komm steh auf und beruhige dich. Ich weiß, dass Remzi unberechenbar und grob sein kann.“


    Mit angsterfüllten Augen blickte Elena den vor ihr stehenden Mann an und fing an zu zittern. Sie schluchzte auf und Camil nickte ihr verstehend zu.
    „Ok, ich sehe schon, du hast ihn wohl schon richtig kennen gelernt.“, meinte er mitfühlend und atmete hörbar aus. „Hör zu, ich werde schauen, was ich für dich tun kann. Zuerst gibt es einmal Arbeit.“
    Irgendwie schaffte Elena es ihre Panik unter Kontrolle zu kriegen. Auch wenn ihr Herzschlag noch wie wild pochte. Niemand schien mitbekommen zu haben, dass sie der Unterhaltung auf der Terrasse gelauscht hatte.


    Mit einer ruhigen und ausdruckslosen Stimme befahl der Schnauzbärtige eine Reihe von Sachen herzurichten, die Anna verlangt hatte. Während die Russin in der Küche ein paar belegte Brote herrichtete und Mineralwasserflaschen in einen Korb legte, hantierte Camil im Wohnzimmer. Durch die geöffnete Küchentür beobachtete Elena, wie er den Halogen-Deckenfluter aus der Leseecke holte und am Kellerabgang bereitstellte. Im Hintergrund erklang die keifende Stimme von Gabriela, die sich lautstark mit Remzi auf der Terrasse stritt. Elena konnte den Inhalt des Gespräches nicht verstehen. Denn dieses Mal sprachen die beiden Serbisch. Eine Sprache, die sie nicht verstand, obwohl sie sehr sprachbegabt war.


    Nach einigen Minuten folgte Elena dem Schnauzbärtigen, schwer bepackt mit Decken, Tüchern, den Weidenkorb und einem Putzeimer mit Lappen, in den Keller. Die Ankunft der dunkelhaarigen Frau vor einer Stunde war ihr nicht entgangen. Wurde sie im Keller gefangen gehalten? Unzählige Fragen schossen ihr durch den Kopf. Dennoch traute sie sich nicht Camil zu fragen. Zu groß war ihre Angst vor seiner Reaktion. Am Ende des Ganges fischte er einen Zimmerschlüssel aus der Hosentasche, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn um. Er drückte die Türklinke nieder und kaum hatte sich die Tür einen Spaltbreit geöffnet, schlug Elena ein extremer Geruch von menschlichen Exkrementen entgegen.


    „Beweg dich Elena! Leg die Sachen neben der Bodenmatte ab!“, blaffte der Schnauzbärtige sie an, während er unter dem Türrahmen stehen blieb und angewidert das Gesicht zu einer Grimasse verzog. „Dann holst du die restlichen Sachen und putzt die Sauerei auf, damit dieser Gestank verschwindet!“


    Misstrauisch näherte sich die Russin der Bodenmatte. Ihre Augen weiteten sich vor Grauen, als sie Bens geschundenen Oberkörper erblickte. Die untere Hälfte war notdürftig mit einem Badetuch bedeckt. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr ihrer Kehle. Als sie den Weidenkorb mit Mineralwasserflaschen und Lebensmitteln neben der dunkelhaarigen Frau auf den Boden stellte, entfielen die mitgebrachten Decken und Tücher kraftlos ihrer Hand. Ihr Blick wanderte über den Verletzten, erfasste das komplette Ausmaß seiner Wunden und ging zurück zu der Frau, die neben ihm kniete. Die Infusion, das medizinische Equipment machten ihr klar, dass diese Frau Ärztin sein musste. Hatte man sie deswegen entführt?

    Sarah ist bei ihrem Ben auf der Intensivstation angekommen ....

    also ich verzeihe ihr, dass sie das Privileg genießt, auch außerhalb der Besuchszeit zu ihrem Mann darf ;)... ich weiß ja aus eigener Erfahrung, so ab und an genießt man mal ein Privileg ... außerdem erfahren wir so, wie es um unseren Lieblingspolizisten steht

    eine Not-OP wegen der Verletzungen im Bauchraum war nicht notwendig, aber klar, die engmaschige Überwachung zeigt mir, Ben ist noch nicht über dem Berg ... also weiter Bangen und Hoffen

    und einen Gruß an die liebe Sarah: ich würde auf das Doppelzimmer bestehen, denn ich hege die leise Hoffnung, dass demnächst Semir in seinem Bett auf den leeren Platz geschoben wird

    das Kapitel ist ein wenig wie Ruhe vor Sturm

    auf der anderen Seite ... Oberschenkel OP und Ben jagt die Bösen auf Krücken ... das wäre doch was, denn einer muss ja den Tierarzt und den Händler ;)schnappen

    Inzwischen war Anna alleine mit Ben im Kellerraum. Der Kerl, den die Kroatin mit Camil angesprochen hatte, hatte ihre Forderungen schweigend entgegen genommen und nur einmal kurz genickt. Ihren Arztkoffer, den Notfallrucksack und die anderen Gegenstände hatte er einfach neben der Eingangstür zum Kellerraum abgestellt. Wortlos drehte er sich um, zog die Tür hinter sich ins Schloss und das Klick, Klick des Schlüssels machte der Ärztin klar, sie war eine Gefangene. Für einen Moment schloss sie die Augen um sich zu sammeln.
    Sie bückte sich und schleppte den Notarztkoffer und die anderen Ausrüstungsgegenstände zur Matte. Neben Bens linker Seite kniete sie sich nieder. Ihr blieb keine Zeit zum Zaudern. Sie hatte vorhin schon erkannt, in welch kritischem Zustand sich ihr Freund befand. Wenn sie Ben wirklich helfen wollte, war der Moment gekommen, wo sie all ihre Gefühle, die sie für Ben empfand, in den hintersten Winkel ihres Gehirns verbannen sollte.


    Nochmals prüfte die Ärztin seine Vitalfunktionen und erschrak. Irgendwie musste sie es schaffen, ihn zu stabilisieren. Improvisation war gefragt, sie benötigte dringend etwas, das als Infusionsständer zu gebrauchen war. Ihr Blick fiel auf einen Ergometer, der nur wenige Meter entfernt stand. Mit einiger Kraftanstrengung schob sie den Fahrradergometer neben Bens rechte Seite. Zu ihrer Freude war der Notarztkoffer fast vollständig bestückt. Auf Grund der fehlenden Medikamente ging sie davon aus, dass das Rettungsteam einen Anfallspatienten behandelt hatte. Innerhalb weniger Minuten hatte Anna ihrem Freund einen Zugang gelegt und verabreichte ihm darüber ein paar Medikamente um ihn zu stabilisieren und eine Infusion. Gewissenhaft begann sie Ben vom Kopf abwärts zu untersuchen. Die Schussverletzung am Bauch sparte sie aus. Viele der Schnittwunden waren oberflächlich, aber äußerst schmerzhaft. Seine Haut fühlte sich am Oberkörper heiß an und bestätigte sie in ihrer Meinung, dass Ben Fieber hatte und mit den entzündeten Wunden nicht zu spaßen war. Mit einer Schere zerschnitt sie die verdreckte und stinkende Hose, zog sie vorsichtig unter Ben hervor und schleuderte sie angewidert in Richtung der Eingangstür. Ihr entging nicht die Schwellung und Verfärbung am rechten Schienbein. Gebrochen, war ihre Diagnose, nach dem Abtasten. Während sie Ben untersuchte, redete sie leise, fast schon beschwörend auf ihn ein und dann kam der entscheidende Moment:
    die Schussverletzung am Bauch.


    Bens Bewusstsein tauchte aus den tiefsten dunklen Abgründen auf. Er bereute das Erwachen augenblicklich. Der gleißende Schmerz stellte sich mit aller Urgewalt ein, es war ein Gefühl, als wenn ein glühendes Stück Eisen linke untere Körperhälfte zerstörte. Wollten sie ihn schon wieder quälen?
    „Nein … nein …!“, hauchte er unhörbar.
    Der verletzte Polizist spürte die Hand an seinem Bauch, versuchte sich zu wehren, dagegen anzukämpfen, als ihn eine vertraute Stimme ansprach. Sein Herzschlag beschleunigte sich.
    „Scht … Ben … alles gut! Ich bin es Anna! … Hörst du mich? … beruhige dich! … Ich will … dir nicht wehtun! … Alles wird wieder gut, Ben …!“


    War es Wahrheit oder eine Illusion? Hatte sein schmerzumnebeltes Gehirn endgültig seine Sinne verwirrt. Ihm war klar, dass er vorhin von Anna geträumt hatte, dass sie mit ihm geredet hatte. Ihm wurde bewusst, es war keine Fiktion gewesen, sondern die Realität. Er stöhnte gequält auf.


    „Ganz ruhig Schatz, gleich wird es besser!“ Ben spürte einen leichten Einstich am rechten Arm. „Ich habe dir etwas gegen die Schmerzen gegeben! Es wirkt gleich!“ Etwas Kühles strich über die Einstichstelle. Seine rechte Hand wurde umschlungen. „Nur noch ein paar Minuten, dann wird es besser!“, sprach Annas Stimme beruhigend auf ihn an. Zärtlich streichelte sie mit ihrer Hand über seine Wange.


    Es war zweifellos Anna, die da neben ihm kniete. Seine Gedanken überschlugen sich. Hatte man ihn gefunden, war das seine Rettung? Ein Hoffnungsschimmer glomm in ihm auf und erlosch in der gleichen Sekunde … Nein, nein … das durfte nicht wahr sein. Allein schon die Vorstellung ließ ihn verrückt werden. Ben musste Gewissheit haben. Er kämpfte gegen die Schwäche seiner Augenlider an. Diese wollten ihm einfach nicht gehorchen. Nach unzähligen Versuchen gelang es ihm seine Lider zu öffnen. Alles war verschwommen. Die Umrisse einer Gestalt wurden im Nebel sichtbar. Annas Stimme redete währenddessen weiter beruhigend auf ihn ein. Ihr Gesicht nahm Formen an. Er sah das sanfte Lächeln, mit dem sie ihn ansah. Zum einen verbreitete sich in ihm ein Gefühl der Glückseligkeit. Sein größter Wunsch hatte sich erfüllt. Er konnte Anna nochmals sehen, sie spüren. Verhieß ihr Lächeln, sie hatte ihm verziehen?


    Doch das Glücksgefühl wurde von etwas Stärkerem überlagert. Angst! Panischer Angst. Seine Blicke irrten suchend im Raum umher und blieben wieder an seiner Freundin haften. An Hand seiner Umgebung hatte er erkannt, Anna war alleine mit ihm in diesem Kellerraum. Kein Semir, keine Rettungskräfte! Darauf gab es nur eine Antwort: Sie befanden sich in der Gewalt seiner Entführer. Eine grausame Furcht stieg in ihm hoch, als er diese Wahrheit erfasste. Sie schnürte ihm förmlich die Kehle zu.
    Seine Lippen bebten, er versuchte etwas zu sagen … An ihren Blick konnte er ablesen, dass sie ihn verstand, ohne dass er es aussprach. … Anna!
    „Ben …? Ben … hörst du mich?“ wisperte sie.
    Abermals setzte er an zu sprechen. Es war mehr ein Hauch. „A…n…n…a!“
    „Pst! …. Nicht sprechen Ben! …. Kannst du mir verzeihen, mir jemals verzeihen, was ich dir angetan habe? … Dass ich dir nicht vertraut habe! …. Oh Gott, ich … liebe dich doch so, Ben!“ Tränen erstickten ihre Stimme, kullerten über ihre Wangen und tropften auf sein Gesicht herab. „Wie konnte … ich … nur …glauben …!“
    Ben veränderte unter leisem Stöhnen seine Lage auf der Bodenmatte und drehte sich endgültig auf den Rücken. Er biss die Zähnen zusammen, als die Feuerlohen auf seinem Rücken aufflammten und versuchte den Schmerz zu ignorieren. Mit dem Daumen seiner linken Hand wischte er ihre Tränen zur Seite und flüsterte „Ich … liebe …dich ….Anna …. Ich … habe … nie aufgehört … dich zu lieben….Verstehst du! … Ich bin dein! … Auf … immer …. Und … ewig … dein!“
    Die junge Ärztin erfasste die Bedeutung seiner Worte. Seine SMS … sein Brief kamen ihr in den Sinn. Er war ihr niemals böse gewesen und hatte ihr schon im Moment ihres Streites verziehen gehabt. Sie ergriff seine blutverschmierte Hand, küsste sie, küsste ihn auf die Stirn, küsste ihn auf seine zerschundenen Lippen. Es war mehr ein leidenschaftlicher Hauch, wie er ihren Kuss erwiderte. Ihm fehlte einfach die Kraft. Als sie sich voneinander gelöst hatten, strich sie ihm zärtlich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht.


    „Du musst durchhalten Schatz! … Semir wird uns finden!“
    Sie versuchte Zuversicht in ihre Stimme zu legen. In der Zwischenzeit hatte sie den Verband komplett von den Schusswunden gelöst. Das blanke Entsetzen stand Anna ins Gesicht geschrieben, als sie die Bauchwunde in Augenschein nahm. Die andere Verletzung an der Hüfte sah bei weitem nicht so schlimm aus. Sie kämpfte erneut mit den Tränen und setzte ein gezwungenes Lächeln auf.


    Ben war die Reaktion seiner Freundin nicht entgangen. Er wusste auch so, wie es um ihn stand, wie groß seine Überlebenschance war. Er tastete nach ihrer Hand, umfasste diese. Sein Griff war schwach. Er fühlte die Wärme ihrer Haut.
    „Ich weiß, wie es um mich steht Anna! … Machen wir uns nichts vor! …. Diese Kugel wird mich umbringen! Und ich Idiot habe es auch noch darauf angelegt …!“
    Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, um sie zu verschließen. Anna wollte die grausame Wahrheit nicht von ihm hören, seinen Wunsch zu sterben, um sie zu retten.
    „Ich weiß alles!“, wisperte sie ihm zu.
    Er bemerkte, wie sie ihren trotzigen Blick aufsetzte und ihre Lippen schürzte. Auf ihrer Stirn bildeten sich Falten und an ihren Wangen diese kleinen Grübchen, die er so sehr liebte. Energisch widersprach sie ihm.
    „Du gibst nicht einfach auf Ben Jäger! … Ich werde es auch nicht tun! … Verstanden! … Ich hole dir dieses verdammte Bleidings aus deinem Bauch raus und flick dich schon irgendwie wieder zusammen! … Wir sind zwar nicht im Krankenhaus und es gibt keine Intensivstation oder ein OP Team aus zig Ärzten … Aber ich bin da!“ Bei den letzten Worten kullerten ihr unaufhaltsam die Tränen über die Wangen. Sie schniefte auf und fuhr mit tränenerstickter Stimme fort, „Willst du, das diese Hexe ihr Ziel erreicht? … Wo ist dein Kämpferherz geblieben? Sag mir wo? … Seit wann gibt ein Ben Jäger auf?“

    Anna massierte ihre Handgelenke. Sie hegte keinen Zweifel mehr, diese Frau hatte den Verstand verloren. Das machte sie in den Augen der jungen Frau unberechenbar und gefährlich. Das leise Wimmern des Verletzten zog die Aufmerksamkeit der jungen Ärztin auf sich und erinnerte sie daran, dass das Leben ihres Freundes an einem seidenen Faden hing. Jede Sekunde war kostbar. Einen letzten Vorstoß wollte sie noch wagen.


    „Chance?“, ätzte sie in die Richtung der Kroatin, „Was nennst du Chance? Ben gehört in ein Krankenhaus und nicht hierher in dieses stinkige Dreckloch ohne vernünftige Ausrüstung?“
    „Den Gedanken schlag dir mal aus dem Kopf. Kein Krankenhaus! Genau hier!“
    Gabriela fasste die Dunkelhaarige an ihrem Kinn an und versuchte sie mit ihren Blicken einzuschüchtern, während sie gleichzeitig ihre Linke umherschweifen lies, „Hier und nirgendwo anders! … Und Ausrüstung? Das Zeug da drüben sollte wohl ausreichen!“, sie deutete auf Annas schwarzen Arztkoffer, Notarztkoffer und den Rettungsrucksack „Der Raum ist sauberer und die Ausrüstung, die dir zur Verfügung steht, ist mehr, als mancher Arzt in einem Feldlazarett im Krieg zu Hause hatte. … Der Deal ist ganz einfach. Du holst ihm die Kugel raus und flickst ihn zusammen! … Verstanden! …Egal wie! …. Vielleicht lass ich dich sogar wieder laufen! … Wer weiß?“ Sie zuckte dabei mit den Schultern und grinste Anna herablassend an. Die junge Ärztin ließ sich in dem Moment nicht provozieren. Damit verlor für Gabriela das Spiel den Reiz.
    „Falls du noch was brauchst, wende dich an Camil!“, dabei deutete sie auf den Schnauzbärtigen, der sich ebenfalls anschickte, den Raum zu verlassen. „Er wird sich darum kümmern!“
    Anschließend wandte sich die Kroatin Remzi zu.
    „Und wir beide kümmern uns zwischenzeitlich um meinen nächsten Gast!“


    Nach diesen Worten drehte sich Gabriela um, gefolgt vom Grauhaarigen, verließen sie gemeinsam den Fitnessraum. Auf den Weg ins Erdgeschoss fischte der Söldner sein Handy aus der Hosentasche und erkundigte sich bei den albanischen Mitstreitern nach Semir Gerkan. Lauthals fluchend beendete er das Gespräch.


    „Diese nichtsnutzigen Anfänger haben sich von dem Türken verarschen lassen!“, zischte er Gabriela zu, die am Ende der Treppe angehalten hatte und ihn fragend anblickte. „Wie erwartet, ist Gerkan am Parkplatz beim Auto der Ärztin aufgetaucht. Doch nicht alleine. Diese verfluchten Idioten!“ Er klopfte dabei wütend mit der geballten Faust gegen die Wand. „Anstelle, dass sie den anderen Kerl ins Jenseits befördert hätten und Gerkhan entführt, haben die einfach abgewartet, bis dort alles von Polizei gewimmelt hatte.“
    „Wo ist Gerkhan jetzt?“
    „Zurück auf seiner Dienststelle. Sascha beobachtet ihn dort und gibt uns Bescheid, wenn er diese verlässt. Die anderen warten vor seinem Haus!“
    „Der Kerl steckt doch mit dem Teufel im Bunde.“, fauchte sie wütend. Zwischenzeitlich hatte die beiden ehemaligen Weggefährten die Terrasse erreicht. Remzi holte für sich und Gabriela ein kühles Bier aus dem Kühlschrank. Gemeinsam schmiedeten sie die Pläne für die kommenden Tage. Vieles würde davon abhängen, wie lange dieser Ben Jäger noch durchhielt und wie schnell die Kroatin ihre neuen Ausweispapiere bekam. Als Remzi erneut vorschlug, aus Köln zu verschwinden und dem jungen Polizisten eine Kugel durch den Kopf zu jagen, entbrannte ein heftiges Wortgefecht zwischen den Beiden. Gabriela gab nicht nach, „Nein! … Nein! …. Und nochmals nein! … Der Kerl soll langsam vor meinen Augen verrecken! …“


    Genervt rollte der Grauhaarige mit den Augen. Die Kroatin war in ihrem Hass so verbohrt, dass er keine Chance sah, sie vom Scheitern des Unternehmens zu überzeugen. Er schwenkte zu einem anderen Thema um.
    „Und was ist mit der Russin? Sie ist eine Zeugin!“, erkundigte sich der Grauhaarige.
    „Pfff!“, meinte Gabriela abfällig, „Solange sie von Nutzen ist, lassen wir sie am Leben. Vergnügt euch mit ihr, macht mit ihr, was ihr wollt! Es ist mir egal! Wenn wir hier verschwinden, verschwindet sie auch auf nimmer wiedersehen!“


    Unbemerkt hatte Elena dem Gespräch auf der Terrasse gelauscht. Dank der Sprach-CDs, die ihr Rashid schon vor Monaten besorgt hatte, verstand sie den größten Teil der Unterhaltung, die in Kroatisch geführt worden war. Hinter einer riesigen Kletterrose hatte sie sich versteckt gehalten. Sie presste ihren Körper nahe an die Außenwand. Ihr Herzschlag raste wie wild, als sie ihr eigenes Todesurteil hörte. Fast zu spät, bemerkte sie, dass Camil das Haus nach ihr absuchte.

    beim Lesen des Kapitels ist mir wieder einmal bewusst geworden, welche Fortschritte es mittlerweile in der Tiermedizin gibt

    ... Wahnsinn ... Da gibt es tatsächlich einen Neurologen, der Lucky operieren wird. Zumindest gehört Sarah zu den vernünftigen Tierhaltern, der das Wohl des Hundes am Herzen liegt ... Lucky soll nicht unnötig leiden. Da habe ich im wahren Leben schon ganz andere Dinge erlebt.

    Ben ist zwischenzeitlich in der Klinik angekommen ... die medizinische Versorgung hört sich vorerst einmal nach Routine-Programm an ... wobei, was ist mit den Verletzungen im Bauchraum?

    Konservative Behandlung mit viel Bettruhe und engmaschiger Überwachung.

    Jetzt wünsche ich mir eigentlich nur, dass er neben Semir aufwacht.

    Eine letzte Frage habe ich noch: Wer jagt denn die Bösen? Der Tierarzt und der Tierhändler werden doch nicht flüchten können?

    Ben ist auf jeden Fall länger außer Gefecht. Semir sowieso ...

    Wer?

    Anna zog das Saunatuch weiter nach unten und entdeckte den blutigen Verband, der Bens Unterleib verdeckte. Die junge Frau wagte gar nicht darüber nachzudenken, welche Verletzung sich darunter verbarg. Schon allein bei der Vorstellung zog sich ihr Magen zu einem eisigen Klumpen zusammen. Das Blut rauschte in ihrem Kopf, ihr wurde schwindlig und sie musste sich zwingen, nicht ohnmächtig zu werden.


    „Jetzt schaut euch dieses Turteltäubchen an! Da haben wir so viel Zeit und Mühe darin investiert die beiden auseinander zu bringen! Kaum sieht sie ihn und Bäng! Schon knutscht die ihn hier vor uns einfach ab!“, sagte Gabriela, die zwischenzeitlich den Kellerraum betreten hatte, mit einem sadistischen Unterton, „Komm Schätzchen, küsse ihn noch mal, für uns! …. Für mich! … Vielleicht merkt er es ja noch!“
    Remzi und auch Camil fielen in das gehässige Lachen mit ein.
    „Na los! Knutsche ihn ab!“, befahl sie in einem scharfen Tonfall, der Anna zusammenzucken ließ. „So wie all diese verliebten Weiber in diesen kitschigen Kinofilmen, wenn ihr Held sie aus einer gefährlichen Situation gerettet hat.“ Sie lachte schallend auf. „Weißt du was, dein Held fertig gebracht hat!“, ihre Stimme schwang um und bekamen einen höhnischen Unterton, „Diese Flasche hat sich doch glatt absichtlich eine Kugel in seinen Bauch knallen lassen, in der Hoffnung er würde sterben und ich dich in Ruhe lassen! Stell dir mal vor Schätzchen, um dich zu retten und nun habe ich dich doch!“


    Beim letzten Satz vibrierte die Stimme der Kroatin vor Hohn und Kälte.
    Annas Blick wanderte von ihren Entführern zurück zu Ben und verharrte auf dem blutigen Verband. Langsam drang Wort für Wort in ihr Gehirn vor und sie wurde sich, der Tragweite dieser Sätze bewusst. Unwillkürlich verschloss sie mit ihrer flachen Hand ihren Mund, um nicht lauthals aufzuschreien. Wie viel Liebe musste Ben für sie empfinden und gleichzeitig wie verzweifelt musste er gewesen sein, dass er sich dazu entschlossen hatte, sein Leben zu opfern, um ihres zu retten. Wieder war da das Verlangen in ihr, einfach gellend loszubrüllen.
    In ihr schlugen die Erinnerungen an ihr letztes Gespräch mit Ben zu. Dieser unselige Streit, wie sie ihn mit ihren Worten verletzt hatte. Die Tage danach, wie sie selbst unter der Trennung gelitten hatte. Das war alles geschehen, weil diese rachsüchtige Frau, sie in ihren Plänen wie eine Schachfigur benutzt hatte. Semir hatte mit seinen Behauptungen, was die entflohene Kroatin betraf, Recht gehabt. Diese Frau hatte unzählige Menschen in Bens Umfeld nach allen Regeln der Kunst beeinflusst und manipuliert. Gabriela kam ihr wie das personifizierte Böse vor, eine Ausgeburt der Hölle.


    Die zynischen Bemerkungen lösten noch etwas in Anna aus. Von einem Augenblick zum anderen kippte in ihrem Kopf ein Schalter um und entfachte ein emotionales Erdbeben in ihrem Inneren. Sie verwandelten die junge Frau binnen Sekunden in eine Kämpferin, die man in die Enge getrieben hatte und der bewusst wurde, dass sie und Ben absolut nichts mehr zu verlieren hatten.
    Die Ärztin erhob sich und stapfte mit wütend funkelnden Augen auf ihre Entführer zu. Der Schnauzbärtige, bepackt mit den Ausrüstungsgegenständen aus dem Rettungswagen und dem breiten Pflaster über der Nase, hielt sich im Hintergrund. Der grauhaarige Riese stand neben Gabriela Kilic und blickte sie amüsiert an. Das reizte Anna noch mehr. Zielgerichtet strebte sie auf den Mann zu, der sie um Haupteslänge überragte. Mit ihren gefesselten Händen hämmerte sie auf dessen behaarte Brust ein, die aus dem offen stehenden Hemd hervor stach.


    „Du Scheusal! Gib es zu! Du warst das Schwein, das Ben so zugerichtet hat. Ich sehe es dir an!“, fauchte Anna Remzi an, „Wie kann man nur zu solch einen menschlichen Ungeheuer verkommen, dass andere so bestialisch zurichtet.“
    Remzi rümpfte verärgert die Nase. So sprach keine Gefangene mit ihm. Der sollte er gleich mal Manieren beibringen. Er wollte schon ausholen, um ihr als Vorgeschmack eine Ohrfeige zu verpassen. Doch Gabriela fing die Hand des Grauhaarigen ab.
    „Noch nicht!“, ermahnte sie ihn „Später!“
    In Gedanken fügte der Söldner hinzu, später, ja später, wenn sie mir gehört. So war die Abmachung mit Gabriela. Seine Zeit war gekommen, wenn Jäger das Zeitliche gesegnet hatte! Die junge Frau war wider Erwarten eine kleine Wildkatze. Das erhöhte den Reiz für ihn umso mehr. Er stellte sich gerade vor, wie er diese in seinem Bett zähmen würde und leckte sich genüsslich über seine Lippen.


    Anna war das begehrliche Aufleuchten in den Augen des Mannes nicht entgangen. Doch auch dies schüchterte sie nicht ein. Im Gegenteil! Sollte er es ruhig wagen sie anzufassen, sie wusste sich zu wehren.
    „Na los! Schlag doch zu! … Das ist doch alles was du kannst! … Andere verletzen oder töten!“, forderte die Ärztin ihren Gegner weiter heraus, „Ihr seid alle Abschaum der Menschheit. Ihr verdient die Bezeichnung Mensch überhaupt nicht.“
    Dem Schnauzbärtigen entwich zischend die Atemluft.
    „Schätzchen, du gefällst mir!“, fiel Gabriela ihr ins Wort und zog Annas Aufmerksamkeit auf sich, die sich unvermittelt der Kroatin zuwandte. Sie hatte so einen gewissen Punkt ihrer Angst überschritten, an dem einen alles egal ist. Dementsprechend aufgebracht brüllte sie Gabriela an.
    „Was hast du Ben angetan? … Warum? … Sag mir warum? Weil er deinen Bruder im Kampf getötet hat? … Der hatte es wohl mehr als verdient gehabt!“
    In den eiskalten Augen von Gabriela flackerte es verdächtig auf. Sie griff hinter sich und zog ihre Pistole aus dem Hosenbund, entsicherte diese und legte auf Anna an.
    „Nein, vergiss es!“, lautete Annas Antwort, die regungslos vor der Kroatin stand, „Damit schüchterst du Hexe mich nicht ein. Na los, schieß! … Schieß doch endlich und setze diesem abartigen Spiel ein Ende hier!“, auffordernd tippte sie mit ihren gefesselten Händen die Mündung der Waffe an. „Du wolltest doch, dass Ben stirbt. Warum sonst hast du ihn so grausam foltern lassen? Was soll diese Farce hier, mit meiner Entführung und ich solle ihn medizinisch versorgen? Der Satz, ich soll Bens Leben retten! Um was geht es dir wirklich?“
    Anna schrie Gabriela nicht mehr an. Nein, im Gegenteil ihr Tonfall war mit jedem Satz ruhiger geworden, was den Aussagen noch mehr Emotionen verlieh. Innerlich vibrierte sie vor Erregung, als sie ihre gefesselten Hände ihr auffordernd entgegenhielt.


    „Entscheide dich! Entweder du jagst mir eine Kugel durch den Kopf und Ben gleich mit oder du gibst mir eine Chance sein Leben zu retten! Dann zerschneide diese Fesseln!“ Die junge Ärztin stand wie eine Statue da und beobachtete die Frau ihr gegenüber, sah, wie es hinter der Stirn der Kroatin arbeitete.


    Gabriela hatte nach den Bildern und Videos der letzten Tage eine verschüchterte und ängstliche Frau erwartet, die heulend vor ihr auf den Knien lag und um das Leben ihres Liebsten bettelte. Mit dieser Reaktion der Ärztin hatte sie einfach nicht gerechnet. Vor ihr stand eine kämpfende Löwin. Die Augen der Kroatin bekamen wieder diesen irren Glanz. Sie fing leise an, vor sich hinzukichern und wurde immer lauter. Dabei schüttelte sie wild ihren Kopf hin und her. Gabriela liefen die Tränen über die Wangen. Die Vorstellung, dass der junge Polizist unter den Händen seiner Freundin wegsterben würde, sie wahrscheinlich dessen Leiden verlängern würde, er elendig dahinsiechen würde, befriedigte sie, löste einen wahren Schub an Glückshormonen und Gefühlen in ihrem Körper aus. Denn bei der Schwere der Schussverletzung konnte Gabriela sich einfach nicht vorstellen, dass Ben Jäger noch zu retten war. Ja …. Ja… das würde noch viel mehr Spaß machen, als sie es sich in ihren Träumen am Nachmittag ausgemalt hatte.
    Zum großen Finale fehlte nur noch der kleine Türke. Ja, der kleine Türke! … Dann war die Show perfekt.
    Mit einem Mal fiel ihr ein, dass Rashid nicht mehr da war. Sie legte den Kopf etwas zur Seite nach rechts und anschließend nach links, überlegte … schade … irgendwie schade …. Auch wenn der junge Albaner zu sonst nicht viel zu gebrauchen gewesen war, war er doch ein Meister im Schneiden der Videoaufzeichnungen gewesen. Das wäre bestimmt sein Meisterstück und ihr Lieblingsvideo geworden: Der Todeskampf von Ben Jäger. In ihrem Kopf ratterten die Gedanken nacheinander durch.
    „Beruhige dich Schätzchen! Keine Sorge, du kriegst deine Chance! Und damit wir uns richtig verstehen, du holst ihm die Kugel aus seinem Bauch raus! Ich will sie hier in meinen Händen halten!“ Gabriela drückte dabei die Mündung ihrer Waffe an Annas Hals und hielt ihr die Hand des verkrüppelten rechten Armes hin. Als diese zustimmend nickte, steckte die Kroatin ihre Waffe weg, griff nach Remzis Kampfmesser und zog es aus dem Holster. Mit einem Schnitt durchtrennte sie den Kabelbinder, mit denen Annas Hände gefesselt worden waren.
    „Etwas verspreche ich dir Schätzchen!“, erklärte sie mit einem hämischen Unterton und deutete in Richtung Ben Jäger, „Stirbt er, stirbst du auch!“

    Energisch befreite sich die junge Frau aus dem Griff ihres Widersachers. Wie in Trance setzte Anna einen Schritt vor den anderen und bewegte sich auf Ben zu. Die Beklemmung schnürte ihr die Brust ein und raubte ihr fast den Atem. Ihr Herz pochte wie wild mit jedem Meter, den sie sich ihm näherte. Auf der Matte fiel sie vor ihm auf die Knie und vermied es, die Lache aus Erbrochenen zu berühren. Der säuerliche Geruch reizte ihre Magennerven noch mehr. Ihr Pulsschlag raste in ungeahnte Dimensionen, als sie sein Antlitz näher betrachtete.
    Der dunkle Vollbart bedeckte die unter Hälfte seines Gesichtes. Der Rest war totenbleich, unterbrochen von Verfärbungen und Schwellungen. Teilweise hatte er sich die Unterlippe vor Schmerz blutig gebissen. Sein hübsches Gesicht war kaum wieder zuerkennen. Oh Gott, was hatten die Ben nur angetan, dachte sie bei sich. Ein dünner Schweißfilm bedeckte seine Stirn. Seine Atmung war sehr flach und schnell. Fast schon routinemäßig griff sie mit ihrer Hand an die Halsschlagader und prüfte seinen Puls.


    Noch lebte Ben.
    Es fragte sich nur wie lange noch?


    Vorsichtig zog Anna die Zudecke zur Seite und betrachtete den entblößten Oberkörper ihres Freundes. Falls sie noch Zweifel gehegt hatte, wer die misshandelte Person war, die vor ihr lag, gab ihr das Tattoo am linken Oberarm endgültige Gewissheit. Bens Anblick raubte ihr fast den Verstand. Falls Wie konnten Menschen nur so barbarisch sein und jemanden so auf das Übelste zurichten. Ihr Freund lag auf seiner rechten Körperseite. Der Oberkörper war übersät mit unzähligen kleinen Schnittwunden. Dazu kamen noch viele kleine und größere Hämatome, die in allen Regenbogenfarben schillerten. Doch dies war nichts im Vergleich zu den Verletzungen auf seinem Rücken, der teilweise mit tiefen blutigen Striemen überzogen war. Einige der Wunden waren verschorft und begannen abzuheilen. Andere Verletzungen waren entzündet. Deren Wundränder waren angeschwollen und dunkelrot verfärbt. Winzige Fetzen seines T-Shirts klebten in den Wunden. In deren Mitte hatten sich vereinzelt Abszesse gebildet, die mit geblichen Eiter gefüllt waren. Auf der linken Schulter war eine der schlimmsten Wunden. Darin bewegte sich etwas. Nein … nein … fast hätte sie hysterisch aufgeschrien. Anna glaubte, ihre Augen spielten ihr eine Wahnvorstellung vor. Schmeißfliegen umschwirrten ihn, angelockt vom süßlichen Geruch des Blutes. Mit ihren gefesselten Händen verjagte sie die lästigen Plagegeister.


    „Ben?“, stieß sie leise und voller Entsetzen hervor, „Oh mein Gott, was haben die dir nur angetan! … Ben? … hörst du mich?“
    Mit ihren Fingerkuppen fuhr sie die Konturen seiner Lippen nach, streichelte ihn voller Liebe und Zuneigung … sie küsste ihn liebevoll auf die geschundenen Lippen.
    „Ben, bleib mir! … Hörst du mich? … Ben! … Bitte lass mich nicht alleine zurück. Ich liebe dich!“


    *****


    Er hatte Schmerzen, immer noch diese fürchterlichen Schmerzen. Ihm war nicht bewusst, dass er leise vor sich hin stöhnte. Ihm war heiß und gleichzeitig kalt. Auf einmal fühlte es sich völlig anders an. Ben konnte es sich selbst nicht erklären. Er schien zu schweben. Schien schwerelos zu sein. Seine Atmung wurde unregelmäßig und flacher. Er war sich sicher, bald hatte er es überstanden, würde er seinen Frieden finden, keine Schmerzen und keine Qualen mehr. Niemand, der wegen ihm mehr leiden oder gar sterben musste. Er war bereit zu gehen, als ihn auf einmal diese Stimme erreichte, Annas Stimme, die seinen Namen flüsterte. Es war ihre magische Stimme, die seinen Namen flüsterte. Ben spürte die Wärme einer Hand, die ihn zärtlich über das Gesicht streichelte, seine Lippen berührte. Ihre Worte, es waren ihre Worte, die ihn aufhielten, davon abhielten endgültig los zulassen.

    Bei Semir sieht ja alles gut aus … die nächste OP wenn gut verläuft, kann es nur noch aufwärts gehen. :):thumbup:Wenn ich daran denke, wie furchtbar seine Verletzungen waren, grenzt das fast schon an ein kleines Wunder.
    Ach wie süß … die Notärztin heißt Frau Dr. Krüger … :/;)
    Ben hat auf jeden Fall einiges abgekriegt, als das Pferd in seiner Panik und Verzweiflung nach ihm getreten hatte. Bauchtrauma … da dreht sich bei mir das Gedankenkarussell auf Dauerschleife … der Oberschenkel, ist wohl die harmloseste Verletzung … wobei gibt es so was überhaupt:/
    Dank Jenny wird Ben in die Uni-Klinik gebracht … :)
    Na die werden sich freuen, wenn ihr Stammgast wieder einmal eingeliefert wird
    So und was ist mit den Flüchtigen?

    Währenddessen … irgendwo in Köln
    Das Fahrzeug wurde am Ziel ihrer unfreiwilligen Autofahrt gestoppt. Die Schiebetür wurde geöffnet und man zerrte Anna unsanft aus dem Auto. Ihre Knie waren ein bisschen weich und sie kämpfte gegen das aufkommende Schwindelgefühl an, als sie auf ihren eigenen Füßen stand. Jemand zog ihr den Sack vom Kopf. Ihre verschwitzten Haare klebten an der Stirn. Gierig sog sie die frische Luft in ihre Lungen. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich ihre Augen an die diffusen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Die Abenddämmerung wich langsam den Schatten der Nacht.


    Blinzelnd blickte sich die junge Ärztin um. Sie befand sich auf der Zufahrt vor einer riesigen Villa. Seitlich von der Auffahrt stiegen feuchte Nebel aus dem Rasen, der mehr einer verwilderten Unkrautwiese ähnelte. Schemenhaft waren dahinter im Dunkel der Nacht die Umrisse einiger Baumriesen zu erkennen, die Anna einen Eindruck über die Dimension des Grundstücks gaben. Die nächsten Nachbarn wohnten wohl einige hundert Meter weit entfernt. Die Zufahrt selbst war asphaltiert, der Parkplatz vor der Villa war mit feinem Kies bedeckt, der unter Annas Füßen knirschte. Remzi hielt Anna an ihrem Arm fest und schob sie vor sich her. Sein Kumpel war zurückgeblieben. Im Hintergrund war zu hören, dass er den Kofferraum des Vans öffnete und sich an einigen Gegenständen zu schaffen machte.


    Das Eingangsportal erinnerte sie mit den marmorierten Kalksteinsäulen und den Treppenstufen an dem Zugang zu einem römischen Tempel. Insgesamt ähnelte die äußere Fassade des zweistöckigen Anwesens eher einem mediterranen Landhaus. Die raumhohen Fenster im Erdgeschoss waren von innen heraus taghell erleuchtet. Über mehrere Stufen, die ebenfalls aus polierten Kalksteinplatten bestanden, erreichten sie die Eingangshalle.


    „Halt!“, befahl ihr Entführer in einem barschen Kommandoton und gab damit der Ärztin Gelegenheit sich umzublicken. Unter anderen Umständen hätte Anna die riesige Eingangshalle mit ihrer Ausstattung bewundert. Der Fußboden war mit kostbarem italienischem Marmor ausgelegt. Rund um die Halle herum zog sich im Obergeschoss eine Galerie, die über eine breite Freitreppe, deren Stufen ebenfalls aus Marmor waren, erreicht werden konnte. An den Wänden waren kleine Kunstwerke aufgehängt worden, in denen der Maler die wunderbare Landschaft der Toskana festgehalten hatte. Die Skulpturen und Vasen, die in den Wandnischen standen, vervollständigten das südländische Flair. Die Stuckarbeiten an Wand und Decke hatte ein wahrer Meister seines Faches angefertigt.


    Annas Blick schweifte weiter umher, wanderte zu einer geöffneten Tür, hinter der sich das Wohnzimmer befand. Aus der Sitzecke, die mit weißen Leder überzogen war, erhob sich eine blonde Frau und kam direkt auf sie zu. Die Absätze ihrer Sandalen klapperten auf dem Boden, während sie sich Anna näherte. Ohne das die Blonde sich vorstellen musste, wusste die Ärztin wer vor ihr stand: Gabriela Kilic. Dieses Wissen jagte ihr einen Schauder über den Rücken.
    „Willkommen in meiner bescheidenen Hütte, Frau Doktor Becker!“, begrüßte die Kroatin ihren unfreiwilligen Gast. Ihre Stimme troff vor Spott.


    Gabriela umfasste Annas Kinn und hielt es fest. Mit dem Blick ihrer eisgrauen Augen versuchte sie die junge Frau einzuschüchtern. Fast schon meisterhaft schaffte es Anna dem Blick ihrer Widersacherin Stand zu halten. Kein Muskel zuckte in ihrem Gesicht. Stattdessen setzte sie eine trotzige Miene auf. Die Kroatin ließ sie los, umrundete sie und musterte die Gefangene eingehend.


    „Schaffe sie runter in den Keller! Ich komme gleich hinterher!“
    Gabriela wandte sich Camil zu. „Was trägst du da?“, blaffte sie den Schnauzbärtigen an.


    Die Antwort des Serben hörte Anna schon nicht mehr. Remzi hatte sie am rechten Oberarm gepackt und unaufhaltsam einen Gang entlang in Richtung der Kellertreppe entgegen geschoben. Die Ärztin hatte die Bosheit, die Gabriela Kilic ausstrahlte, fast körperlich spüren können, als sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. Ihre Hände zitterten vor Anspannung je näher sie der Kellertreppe kamen und sich runter ins Untergeschoß bewegten. Die Halogenleuchten in der Decke erhellten den Gang taghell, an dessen Ende schien eine angelehnte Tür das Ziel zu sein. Je näher sie der Tür kamen, desto deutlicher drang das klägliche Stöhnen eines Menschen an ihr Ohr.


    Der andere Mann, der sie zwischenzeitlich wieder eingeholt hatte, schritt hinter ihnen her, dicht gefolgt von Gabriela, deren Absätze auf dem Fliesenboden klapperten. Anna riskierte einen kleinen Blick über ihre Schulter und erkannte, dass der Schnauzbärtige in seinen Händen und über seine Schulter einige Ausrüstungsgegenstände aus dem RTW und dem Notarztwagen zusammen mit ihrer Arzttasche trug.
    Der Grauhaarige öffnete die Tür mit einem leichten Tritt und knipste mit seinem Ellenbogen das Licht an. Die Luft im Raum, die ihnen entgegen schlug, war schwül und stickig, begleitet von dem strengen Geruch von Schweiß, Urin, Erbrochenem und Blut. Ihr leerer Magen rebellierte gegen diesen Gestank. Nur mühsam gelang es ihr den gallenbitteren Saft wieder hinunter zu würgen, der sich in ihrem Mund ansammelte. Auf der Matte an der gegenüberliegenden Wand lag der verkrümmte Körper eines Menschen. Man hatte ihn mit einem dunkelblauen Sauna-Handtuch zugedeckt. Nur der Kopf des Mannes und seine dunklen Haare, die verschwitzt an seinem Kopf klebten, waren sichtbar.


    Anna hatte keine Zweifel, da lag Ben!

    Ein qualvoller Hustenreiz holte Ben zurück ins Leben. Ein wahres Höllenfeuer wurde auf seinen Lippen entfacht, breitete sich über seinen Mund aus und rann seiner Kehle hinab. Der Geschmack von Wodka überlagerte den eisenhaltigen Geschmack des Blutes in seinem Mund. Er schnappte nach Atem und versuchte das Husten zu unterdrücken, es tat weh, so höllisch weh, das es jedes Mal eine feurige Lohe von Schmerzen durch seinen Körper jagte. Dann hörte er es, dieses teuflische und gehässige Lachen. Gabriela.


    Ben presste die Lippen aufeinander und versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Wieder war da ihr Gekicher, unterbrochen von Worten, deren Sinn der Dunkelhaarige so nach und nach erfasste.


    „Hallo Jägerlein!“ Sie tätschelte seine Wange, „Noch ein Schlückchen Wodka. Das Teufelszeug weckt Tote auf, behauptet zumindest Remzi immer!“ Sie kicherte wieder und er hörte, wie sie die Flasche ansetzte und selbst einen kräftigen Schluck nahm. „Los, mach die Augen auf! Ich weiß, dass da noch ein Fünkchen Leben in dir steckt. Weißt du, mir ist gerade langweilig und ich muss mir die Zeit ein wenig vertreiben.“


    Die Drohung wirkte. Ben öffnete mühselig die Augen und blickte zur Seite, woher die Stimme kam. Er blinzelte, um den Sternennebel der davor hing, verschwinden zu lassen. Langsam erkannte er ihre Umrisse, die wieder verschwammen. Sie saß neben ihm auf der Bodenmatte. Ihm war überhaupt nicht bewusst, dass er vor Schmerz vor sich hin keuchte und stöhnte.


    „Was hast du dir nur dabei gedacht? Lässt sich einfach von diesem albanischen Weichei über den Haufen knallen und hofft so meiner Rache zu entgehen. Du warst wirklich ein unartiger Junge, Jägerlein. Nun siehst du, was du davon hast, ein hässliches Loch in deinem Bauch! Tut es sehr weg?“, fragte sie mit einem vor Ironie triefenden Unterton und drückte dabei auf die Schusswunde.

    Ben stieß markerschütternde Schmerzensschreie aus. Eine wahre Flutwelle auf Schmerzen überrollte ihn und raubte ihn fast wieder die Besinnung.
    „Hey! … Hey! … Nicht wieder bewusstlos werden. So haben wir nicht gewettet. Ich muss dir doch noch einiges erzählen!“

    Sie setzte die Wodkaflasche an seine Lippen an. Gierig trank Ben einige Schlucke, in der Hoffnung der Alkohol würde zumindest einen Teil der Qualen betäuben. Gabriela gönnte ihn ein paar Minuten Erholungszeit, bevor sie in einem Plauderton zu erzählen begann, als würde sie über das Wetter reden und nicht über ihre weiteren Pläne.

    „Ich habe schon einige Männer im Krieg an solchen Schusswunden verrecken sehen. Die Kugel hat da drinnen wahrscheinlich einiges zerrissen. Ist kein schöner Anblick Jägerlein, wenn dir so in zwei oder drei Tagen der Eiter aus dem Bauch quillt. Aber wenn es dich tröstet, du musst das nicht alleine durchstehen. Ich habe eine Überraschung für dich. Ich habe beschlossen, dir jemanden als Sterbebegleiter zur Seite zu stellen. Deinen großen Beschützer Semir Gerkhan!“


    Ungewollt riss Ben vor Entsetzen seine Augen weit auf und wollte etwas erwidern, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Panik machte sich in ihm breit.


    „Ah ich sehe schon, du freust dich drauf. Keine Angst, ich werde diesen türkischen Giftzwerg nicht umbringen. Sondern ihm nur einfach alles wegnehmen, was ihm im Leben wichtig ist. Seinen besten Freund … seine Arbeit. Denn ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Krüppel bei der Polizei noch eine Anstellung findet.“

    Sie lachte wieder teuflisch auf und verzog ihr Gesicht zu einer ärgerlichen Grimasse.

    „Ach da wäre noch seine Familie, denn ich habe da so ein Problem. Ich kann den Bälgern einfach nichts antun.“ Sie zuckte wie hilflos mit den Schultern und grinste ihn hämisch an. „Ist so ein blöder Tick von mir. Dafür war ja früher mein Bruder zuständig. Aber seine Frau … seine Frau!“ Sie kicherte wieder wild drauf los, „Auf die wird er wohl in Zukunft verzichten müssen!“


    Voller Bestürzung wollte Ben sich aufrichten, was ihm sein Körper völlig übel nahm und so sehr auch dagegen ankämpfte, mit einem Schlag kam die Dunkelheit, die ihn mit ihrem Klammergriff mit sich riss, begleitet vom gehässigen Lachen der Kroatin.


    Als Gabriela erkannte, dass selbst der Wodka den verletzten Polizisten nicht mehr zurück ins Bewusstsein holen würde, erhob sie sich. Mit einem leisen Bedauern in der Stimme meinte sie: „Schade Jägerlein! Ich hätte dir zu gerne noch erzählt, was für eine besondere Überraschung ich noch für dich habe!“ Mit der Spitze ihres Schuhes trat sie Ben leicht in die Seite. Doch von dem kam keine Regung mehr. „Echt schade, deine hübsche Freundin trifft in einigen Minuten hier ein!“
    Gabriela hoffte nur, dass auch die Albaner ihren Auftrag erfüllen würden und die Entführung des Türken ebenfalls glücken würde.

    Verzweifelt hatte Semir während der Fahrt in die Kölner Innenstadt mehrmals versucht Anna auf ihrem Handy zu erreichen. Erfolglos. Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Innerlich hoffte er, dass sich die junge Ärztin endlich melden würde. Über die Freisprecheinrichtung nahm er das Gespräch an.


    „Semir Gerkahn hier!“ …
    „Ok, ganz ruhig Basti! Ich bin bereits bei der Ausfahrt Köln Nord. In ein paar Minuten bin ich bei dir!“ ….
    „Nein, nichts anrühren!“ …


    Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. In ihm schlich eine böse Ahnung hoch, er fluchte vor sich hin. „Verdammt! Verdammt! Ich habe es gewusst!“ Wütend schlug er mit der Handfläche gegen das Lenkrad. Unzählige Flüche kamen ihm in den nächsten Minuten über seine Lippen. Aber es änderte nichts mehr an den Tatsachen. Der kleine Türke holte alles aus dem silbernen BMW heraus. Mit Blaulicht und Sirene bahnte er sich seinen Weg durch den abendlichen Verkehr in Richtung Kölner Innenstadt zur Uni-Klinik.


    Der Parkplatz für das Personal der Uni-Klinik wurde durch eine Schranke, die man nur mit Berechtigungsausweis passieren konnte, abgesperrt. Semir parkte seinen BMW im Halteverbot auf dem Gehsteig. Das flackernde Blaulicht hinter der Windschutzscheibe warf gespenstische Schatten auf die Umgebung.
    Mit ausgreifenden Schritten rannte der Autobahnpolizist quer über den Parkplatz bis er etwas außer Atem den blonden Krankenpfleger erreichte, der ihn an Annas schwarzen Golf erwartete. Im Lichtschein der Straßenlaternen konnte der Kommissar deutlich die Sorge sehen, die dem Sebastian ins Gesicht geschrieben stand.
    „Sie ist weg Semir … verschwunden! … Ich habe alles abgesucht. Seit dem Besuch bei Bens Schwester auf der Privatstation hat sie niemand mehr gesehen.“
    Der Blonde fischte sein Handy aus der Hosentasche und wählte Annas Handy Nummer. Nach kurzer Zeit bimmelte es aus dem Kofferraum. Nun wurde auch der Türke kreidebleich. Etwas schnürte förmlich seine Kehle zu und er versucht die schlimmsten Befürchtungen, die in ihm hochstiegen, zu verdrängen. Er räusperte sich und schob Sebastian zur Seite.
    „Lass da mal einen Profi ran!“
    Aus seiner Hosentasche zog er ein kleines Werkzeugset, wählte ein Teil aus und hatte mit etwas Geschick innerhalb von ein paar Sekunden das Kofferraumschloss geknackt. Semir hielt die Luft an, während er den Kofferraumdeckel nach oben drückte. Neben ihm schnaufte auch Sebastian deutlich hörbar aus, als sie darin nur Annas Handtasche in der kümmerlichen Beleuchtung entdeckten. Der Krankenpfleger wollte danach greifen, als ihn Semir am Ärmel packte und zurückhielt.
    „Ich glaube, das ist ein Fall für unsere Spurensicherung! Fass nichts an!“


    Über sein Handy informierte er seine Kollegen von der Spurensicherung und auch Frau Krüger. Innerlich schalt er sich einen Narren und zerging vor Selbstvorwürfen. Warum hatte er nur nachgeben? Er hätte darauf bestehen sollen, dass man Anna unter Polizeischutz stellte. Dieser Idiot von einem Oberstaatsanwalt van den Bergh hatte die drohende Gefahr völlig unterschätzt. Und er selbst? Warum war er nur zur PAST gefahren, anstelle bei Anna zu bleiben. Diese eine Nacht hätte sie bei ihm zu Hause im Gästezimmer schlafen können! Warum nur? Der Türke ließ seinen Blick in die Runde schweifen und suchte nach verräterischen Spuren, die einen Hinweis auf die Entführer liefern könnte. Da war nichts, einfach nichts. Gedankenverloren starrte Semir vor sich hin. Sebastian tippte ihn an der Schulter an und zog die Aufmerksamkeit des Türken auf sich.


    „Ich weiß ja nicht, ob das wichtig ist Semir, aber vor einer knappen halben Stunde, fast zeitgleich mit Annas Verschwinden, wurden aus einem der Rettungswagen und Notarztwagen, die vor der Notaufnahme standen, Ausrüstungsgegenstände gestohlen. Das Rettungsteam hatte einen heiklen Notfallpatienten und ließ die Türen des RTWs offen stehen. Deine Kollegen, die den Diebstahl aufgenommen hatten, dachten, dass Drogenjunkies die Notfalltaschen geraubt haben. Ist in der Vergangenheit schon das eine oder andere Mal passiert, dass Süchtige, die scharf auf Betäubungsmittel oder andere Medikamente gewesen sind, mit Tricks versucht haben an den Medikamentenkoffer zu gelangen. Aber jetzt? … Glaubst du, das hat was mit Annas Verschwinden zu tun?“
    Semir streifte sich mit seiner Hand nachdenklich über das Gesicht, bevor er die Frage beantwortete. „Ich befürchte ja Basti!“ Den Rest seiner Befürchtungen sprach er nicht aus. Semir fühlte sich endgültig wieder in einem Alptraum gefangen.


    Nacheinander trafen die Kollegen der KTU unter Hartmuts Leitung, die Spurensicherung, Jenny und Frau Krüger ein, die Oberstaatsanwalt van den Bergh im Schlepptau hatte. Semir musste sich so zusammenreißen, dass er sich nicht sofort mit diesem aalglatten Typen an die Gurgel ging, als dieser bei seiner Ankunft verkündete, „Die Ermittlungen leite ab sofort ich, Herr Gerkhan!“
    „Ermittlungen, Ermittlungen!“, äffte Semir seinen arroganten Unterton nach, „Vielleicht sollten sie endlich mal drüber nachdenken, dass hier keine Ermittlungen notwendig wären, wenn sie ihre Hausaufgaben gemacht hätten!“, und packte den Staatsanwalt an seinen Jackenaufschlägen. Der Türke kochte vor Wut. Selbst im Dämmerlicht waren die Zornesfalten unübersehbar.
    „Gerkhan, reißen sie sich zusammen!“, fiel ihm Frau Krüger aufgebracht ins Wort.
    „Chefin!“, brüllte er zurück und ließ den Oberstaatsanwalt los, „Wenn dieser Paragraphenreiter nur einmal seinen Gehirnkasten zum Denken nutzen würde und nicht …!“
    „Verdammt noch mal es reicht!“ In der Lautstärke nicht minder leise, unterbrach Kim ihren Kommissar, bevor noch ein Unglück geschah. „Wir sollten uns professionell verhalten. Denn nur so können wir Frau Becker und Ben finden!“


    Als er gegen diese Ansage aufbegehren wollte, erntete er einen vernichtenden Blick von Kim Krüger und zog es vor den Rückzug anzutreten. Semir hatte seine eigenen Pläne, wie er Ben und seine Freundin finden wollte. Mit Sebastians Hilfe wollte er sich die Überwachungsvideos, die den Einlieferungsbereich der Notaufnahme aufzeichneten, und der Parkplatzüberwachung besorgen. Um Mitternacht gestaltete sich dieses Vorhaben selbst in einer Uni-Klinik schwieriger als gedacht.