Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch das große Fenster in den Kellerraum. Die Wärme der Sonne war es, die Anna weckte. Sie schlug die Augen auf. Die Helligkeit der Sonnenstrahlen blendeten sie im ersten Moment. Zuerst blinzelte sie ein bisschen und überlegte, wo sie sich befand. Mit einem Schlag kehrten alle Erinnerungen zurück. Das Gewicht von Bens Kopf lastete auf ihrem rechten Oberschenkel. Sie strich ihm zärtlich über das bleiche Gesicht und tastete nach seinem Puls an der Halsvene. Erleichterung machte sich in ihr breit, als sie das kräftige Pochen spürte. Wie nahe er in diesem Augenblick mit seinem Kopf bei seinem Kind war. Die junge Frau schloss wieder die Augen und horchte in sich hinein, ob sie irgendetwas von diesem kleinen Wesen in sich spürte. Der Termin bei ihrer Frauenärztin wäre heute gewesen. Sie hatte sich schon so darauf gefreut, das Baby auf dem Ultraschall zu sehen. Wehmut überfiel die junge Frau. Auch wenn die Schwangerschaft ungeplant war, das Schicksal hatte entschieden und letztendlich wollten sie und Ben ja zusammen Kinder haben. Gedankenverloren streichelte Anna ihrem Freund über die Wangen.
In den letzten Tagen hatte sie lange darüber nachgedacht, wann es zu der Schwangerschaft gekommen sein könnte. Es blieb nur eine Begebenheit übrig, die Geburtstagsfeier zum 60. Geburtstag von Konrad Jäger oder die Tage danach. Sie hatte sich an jenem Tag furchtbar mit Peter Kreuzer, Julias Mann, gestritten. Peter hatte ihr, wie so oft, unterstellt, dass sie nur an Bens Geld interessiert sei. Er hatte versucht, sie vor den anwesenden Verwandten der Familie Jäger und Bekannten bloß zu stellen. Sie war damals so wütend über sich selbst gewesen, dass sie auf sein intrigantes Spiel hereingefallen war. Das beherzte Eingreifen von Ben und Julia hatten Schlimmeres verhindert. Nur etwas konnte Ben an jenen Abend nicht verhindern, Anna trank zu viel Bowle und Rotwein und hatte einen regelrechten Blackout.
Sie wusste nicht mehr, wie und wann Ben sie ins Gästehaus gebracht hatte. Nur etwas hatte sich in ihre Erinnerung eingebrannt, den Rest der Nacht und teilweise den darauffolgenden Vormittag hatte sie vor der Toilette im Badezimmer des Gästehaueses verbracht. Ben hatte sich so rührend um sie gekümmert, als sie vor sich hin gejammert hatte, sie würde sterben und nie wieder in ihrem Leben Alkohol trinken. Sie hatte in der Folge noch tagelang Probleme mit ihrem Magen gehabt, der ihr das Saufgelage richtig übel genommen hatte. Seit jenem Tag hatte sie keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt, nicht einmal im Italienurlaub.
Im Nachhinein betrachtet, könnte sich Anna für ihre eigene Dummheit selbst ohrfeigen. Naiv, wie ein unerfahrener Teenager hatte sie sich benommen, auf eine zusätzliche Verhütung verzichtet, obwohl Ben ihr mehrmals vorgeschlagen hatte, ein Kondom zu verwenden. „Sicher ist sicher!“, meinte er damals und sie hatte nur gelacht, weil sie der Meinung war, die Pille würde wirken. Tja, da hatte sie sich wohl gründlich getäuscht.
Anna schüttelte unbewusst ihren Kopf, war schon irgendwie ein Witz, da war sie selbst Ärztin und hatte nicht mal bemerkt, dass sie seit mehreren Wochen schwanger war. Das Unwohlsein am Morgen und ihre Stimmungsschwankungen hatte sie auf den Stress und die Hektik auf der Arbeit geschoben, dazu kamen die Sorgen um Ben. Sie hatte die Anzeichen ihres Körpers einfach ignoriert. Ihre Hand wanderte zu ihrem leicht gewölbten Unterbauch und die andere Hand an Bens Wange, die sie leicht in Richtung ihres Bauches drückte.
Leise murmelte sie: „Hörst du mein Schatz? … Da drinnen schlägt das kleine Herz unseres Babys? Spürst du die sanfte Wölbung meines Bauches? … Da drinnen wächst es heran und du ahnst noch gar nichts von dem kleinen Wesen. … davon das du Vater wirst … Es ist unser Baby … Ben! … Unsere gemeinsame Zukunft als Familie!“
Sie seufzte abgrundtief auf. Von einer Sekunde zu anderen übernahmen düstere Gedanken ihr Denken. Sie schalt sich eine einfältige Närrin. Von welcher gemeinsamen Zukunft träumte sie denn? Die Realität sah anders aus. Ben und sie waren Gefangene dieser von Rachsucht besessenen Frau. Flucht? Niemals … niemals würde sie Ben noch einmal im Stich lassen … alleine lassen. Und Rettung? Würden Semir und seine Kollegen sie jemals finden? Die nächste Frage keimte in ihr auf. Hätte sie das hier alles verhindern können, wenn sie Ben geglaubt hätte? Die Entführung? All die Qualen, denen er ausgesetzt war? Es ließ sich nicht mehr ändern. Jetzt und hier ging es nur noch ums Überleben. Anna durchfuhr ein Schauer nach dem anderen. Die Gänsehaut rannte über ihren Körper. Sie merkte wie eine unbeschreibliche Angst sie in Besitz nahm, fast schon übermächtig wurde. Mit all ihrem Willen, den sie aufbrachte, kämpfte sie dagegen an. Noch lebten sie? Noch gab es Hoffnung? Es war langsam an der Zeit, den Raum, in dem sie gefangen gehalten wurde, näher in Augenschein zu nehmen. Sie zwang sich ihre Augen aufzuschlagen und scannte regelrecht den Fitnessraum. Ihr gegenüber befand sich die Eingangstür. Links neben der Tür waren im Halbkreis verschiedene Fitnessgeräte aufgestellt, die sie aus ihrem Sportscenter kannte. Unter dem einzigen Fenster befand sich eine Ruderbank. Ein Teil des Kellergeschosses ragte aus dem Erdreich heraus. Das Kellerfenster glich einem Panorama-Fenster und erstreckte sich fast über die komplette Breite des Raumes. Nur links und rechts war ein schmaler Streifen Mauerwerk. Es begann unterhalb der Decke und endete knapp über dem Erdreich. Doch es gab kein Entkommen. Ein Eisengitter war vor dem Fenster angebracht worden. Die einfallenden Sonnenstrahlen zeichneten durch das Gitter bizarre Muster an die gegenüberliegende Wand. Dahinter lag ein Badezimmer. Bei diesen Gedanken meldete sich ein menschliches Bedürfnis. Vorsichtig schälte sie sich unter Ben hervor und bettete seinen Kopf auf dem provisorischen Kopfkissen. Ihre Beine waren von der starren Sitzhaltung völlig steif und schmerzten, als sie sich aufrichtete. In ihrem rechten Bein kam die Blutzirkulation in Gang und es kribbelte in den Zehen, als würde eine Heerschar Ameisen daran hochlaufen. Langsam, ein bisschen humpelnd, bewegte sich Anna auf die Badezimmertür zu. Als sie sich auf der Toilette erleichterte, ließ sie ihren Blick im Raum umherschweifen. Verglichen mit dem Bad in ihrer Wohnung, war dieser Raum in seinen Dimensionen ein Tanzpalast. Es war in schwarzem Marmor gehalten, der mit feinen weißen Fäden durchzogen war. Das Waschbecken, die Toilette und die begehbare Dusche waren in Grautönen gehalten und bildeten einen farblichen Kontrast. In einer Ecke lagen auf einem Haufen getürmt, benutzte Handtücher und Duschtücher. Nach dem Händewaschen öffnete sie die verschiedenen Fächer des Badezimmerschrankes unter dem Waschbecken. Außer einem Vorrat an frischen Handtüchern befand sich nichts darin. Durch den Türspalt drang das Stöhnen von Ben zu ihr und mahnte sie zur Eile.
Ben hatte sich auf seine rechte Seite gedreht. Anna umrundete die Bodenmatte und sank neben dem Verletzten auf die Knie. Mit Hilfe von Stethoskop und Blutdruckmanschette prüfte sie gründlich Bens Vitalwerte. Mehr als einmal war ein leises Stöhnen über seine Lippen gekommen. Er regte sich ein wenig und es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis Ben erwachen würde. Sie prüfte die verbliebenen Ampullen mit Schmerzmittel und spritzte ihrem Freund eines der Medikamente, dessen Wirkung sollte zumindest die Schmerzen der Operation etwas dämpfen. Sie verharrte noch einige Minuten in der knienden Haltung und beobachtete Ben. Langsam wanderte ihr Blick über die Bodenmatte und deren Umgebung. Überall befanden sich eingetrocknete Blutspritzer, lagen blutdurchtränkte Kompressen und Verbandsmaterial, Operationsbesteck. Es glich einem Schlachtfeld.
Am Ende der Fußmatte stand der Weidenkorb mit ein wenig Obst, belegten Broten und Mineralwasserflaschen. Ihr Magen grummelte vor sich hin und signalisierte ihr: Hunger. Sie holte sich eine Banane und einen Apfel aus dem Weidenkorb, biss mit Appetit hinein. Während sie hungrig das Obst vertilgte, führte ihr Gang in Richtung des Fensters. Dort stellte sie zu ihrer Enttäuschung fest, sie war wieder einmal einige Zentimeter zu klein geraten war, denn sie konnte den Fensterriegel nicht ergreifen. Auf dem zweiten Blick erkannte sie zudem, dass dieser abgeschlossen war. Keine Chance auf frische Luft. Sie drehte sich um und verharrte in der Bewegung. Ben war zwischenzeitlich wach geworden und beobachtete sie aus seinen dunklen Augen. Anna eilte zu ihm hin und fiel vor ihm auf die Knie.
Als Ben langsam wieder zu sich kam, öffnete er die Augen. Sein Blick wanderte in Richtung des Fensters, wo er eine Bewegung wahrgenommen hatte. Dann erkannte er Anna. Sie trug eine hellblaue Leinenhose und darüber ein cremefarbenes Shirt. Ihre Kleidung war mit Blutflecken übersät. Er wurde sich bewusst, was geschehen war. Seine Hand wanderte zu der Schussverletzung am Bauch, tastete über den Rand eines großen Wundpflasters. Das wütende Tier, welches ihn innerlich aufgefressen hatte, war verschwunden, der Schmerz auf ein erträgliches Maß reduziert. Seine Kehle brannte, er hatte furchtbaren Durst. Er setzte an, nach ihr zu rufen, als sie sich zu ihm umdrehte. Ein freudiges Leuchten huschte über ihr Gesicht, als sie erkannte, dass er wach war. Sie eilte auf ihn zu und kniete sich neben ihm nieder und er schaffte es tatsächlich, dass ein Laut über seine spröden Lippen kam.
„Durst …!“ krächzte er.
Sie schob ihre Hand unter seinem Kopf, hob ihn an und ließ ihn aus einer Mineralwasserflasche, die in Reichweite gestanden hatte, trinken.
„Besser?“ fragte sie und er nickte. „Wie fühlst du dich?“
„Als wäre ich … bei einem … Crash zwischen zwei LKWs geraten!“, ächzte er.
Annas Hand hielt fortwährend seinen Kopf. Sie war ihm so nahe. Ihr vertrauter Geruch, seine Finger vergruben sich in ihrem Haar und er zog sie zu sich herunter, bis sich ihre Lippen fanden. Es war ein Augenblick des Friedens für beide, bis sie sich voneinander lösten.