Beiträge von Krypto

    Am gleichen Morgen, um 4Uhr, war Ben in Düsseldorf gelandet. Er war müde, obwohl er einige Stunden im Flugzeug geschlafen hatte. Die Passkontrolle ging wie im Traum an ihm vorbei - seine Gedanken galten nur Semir und Andrea. Was, wenn er zu spät käme? Sein Abschied vor zwei Jahren war ja nun wirklich nicht der gewesen, den die Freundschaft mit Semir verdient hätte! Ben wollte so schnell wie möglich zu ihnen. Deshalb spurtete er mit seinem kleinen Handgepäck - die Koffer kämen später per Kurier zu seiner Schwester Julia, wo er erstmal unterkommen würde - aus dem Flughafen hinaus. Es war kalt und noch dunkel. Im ersten Taxi saß kein Fahrer. Das zweite hatte ein Kölner Kennzeichen und war mit Werbung verschiedener Kölner Betriebe beklebt. Der Fahrer war mit seinem Smartphone beschäftigt - sicher war er froh, wenn er wieder mit einem Fahrgast bis Köln zurück fahren konnte, nahm Ben an. Er verschwendete keinen Gedanken an andere mögliche Konstellationen. Spontan riss er die Hintertür auf und setzte sich auf die Rückbank. "Zur Kölner Uni-Klinik," sagte er dem Fahrer mit dem handbreiten Bart, der sich überrascht zu ihm umdrehte.

    "Tut mir leid, bereits reserviert," sagte der bärtige Taxifahrer und machte eine entschuldigene Geste mit der Hand. Dabei berührte er die Jacke, die auf dem Beifahrersitz lag. Diese rutschte leicht nach unten und gab den Griff der belgischen Militärpistole frei, die unter der Jacke gelegen hatte. Ben sah das - sofort war ihm klar, dass hier etwas nicht stimmte! Er war plötzlich hellwach. Und auch Bayram Kader bemerkte, dass seinem Fahrgast die Waffe aufgefallen war. Blitzschnell griff Ben nach der Waffe, fast ebenso schnell griff Bayram danach. Er wollte sie Ben entreißen. In dem Taxi entbrannte ein wildes Gerangel. Bayram beugte sich nach hinten zu seinem Fahrgast und versuchte, diesen mit der rechten Hand an der Kehle zu erwischen. Der aber wich aus und packte seinen Kontrahenten mit der linken Hand am Bart. Bayram griff seinen Schlüsselbund und zog ihn mit Schwung durch Bens Gesicht. Der schrie auf, ließ aber die Waffe nicht los. Bayram versuchte weiter, diese wieder in seine Gewalt zu bringen. Der Lauf der Pistole zeigte mal nach außen, mal nach innen. Plötzlich löste sich ein Schuss, ein Knall ertönte und zeitgleich wurden die Scheiben des Taxis von innen mit blutigen Sprengseln versehen.

    Da sprach eine Frau mit wunderschöner vertrauter Stimme zu ihm, in diesem Traum. Es war der erste Traum, seit er am Ende eines Tunnels vor einer großen Öffnung gestanden und ein wundervoll in allen Farben glitzerndes, helles Licht gesehen hatte. Es war das Schönste, was er je gesehen hatte. In ihm war ein Gefühl der absoluten Zufriedenheit gewesen. Es hatte nichts mehr gegeben, was er an Bedürfnissen hatte, keinen Mangel, den er hätte ausmachen können. Kein Schmerz, keine Mühe oder Sorge hatte ihn belastet. Es war der beste Moment in seinem Leben gewesen.

    Doch irgendwas hatte ihn von diesem Ort weggezogen. Waren das die Stimmen seiner Töchter? Semir drehte sich um. Er hörte ihr glockenhelles Lachen, sah zwei Paar nackte Kinderfüße hinter einem alten Blechtor verschwinden und folgte ihnen. Dann stand er in einer alten Fabrikhalle, in der Teppiche ausgelegt worden waren. Viele Männer waren dort. Er stellte sich neben seinen Vater, den er dort gefunden hatte und seinen Bruder. Wahrscheinlich war Ramadan: Der Imam vorne rezitierte lange aus dem Koran. Semir hörte die vertraute Stimme seines früheren Lehrers, begleitet von einem gleichmäßigen Piepen, und wartete darauf, dass der Imam sich nach einem „Allahu akbar“ nach vorne beugen und das Gebet fortführen würde, doch das geschah nicht. Er wunderte sich. So hätte es doch passieren müssen, oder etwa nicht? Noch bevor er weiter forschen konnte, nahm ihn die Stimme mit in eine warme Dunkelheit, wo er sich entspannt niederließ. Alles war gut.

    Andrea hatte glücklich zur Kenntnis genommen, dass Semirs Hand während des Vortrages des Imams gezuckt hatte. Auch der Arzt lächelte, als sie ihm das erzählte. „Das klingt doch gut. Wir werden ihn weiter langsam aufwachen lassen. Bitte erschrecken Sie nicht: Wir müssen seine Hände am Bett fixieren, damit er - falls er aufwacht, sich nicht selbst den Tubus oder die Magensonde herauszieht. Das könnte schwere Verletzungen geben.“
    Andrea nickte, das kannte sie schon.
    „Wir reduzieren auch die Beatmung schrittweise. Er darf schon ein bisschen mitatmen, momentan schafft er noch keinen einzigen Atemzug alleine. Das wird sich mit der Zeit bessern.“

    " Übrigens: Großes Lob für Ihre Mitarbeiter. Frau Dorn hat die Zeugin Demir gerettet, als ein Sprengsatz in ihrer Wohnung detonierte. Im Radio haben wir das allerdings anders dargestellt. Kader soll sich in Sicherheit wähnen." "Danke. Wie geht es den Kollegen?" "Ihre Leute sind unversehrt, Frau Krüger. Also vielleicht ein paar Kratzer. Zwei Beamte des SEK sind durch Splitter verwundet worden, einer der Jungs wird derzeit operiert. Aber bei beiden keine Lebensgefahr...."

    Am nächsten Morgen traf Andrea im Krankenhaus bereits auf eine lächelnde Schwester : „Ihrem Mann geht es besser. Das Fieber ist inzwischen fast weg, der Hirndruck ist weiter gesunken. Wir haben die Sedierung reduziert. Wenn Sie jetzt mit ihm sprechen, kann er Sie hören, das sehen Sie dann an der Herzfrequenz. Wegen der Lungenentzündung können wir die Beatmung aber nur langsam zurückfahren.“

    Andrea war nicht mehr zu halten. Sie stürzte auf Semir zu und streichelte ihm zärtlich über die Wange:
    „Semir, ist das wahr, hörst du mich?“ Prompt erhöhte sich die Herzfrequenz leicht. Andrea registrierte erleichtert, dass Semirs Augen nicht mehr verklebt waren. Sie nahm Platz und begann ihrem Mann zu erzählen, was ihr einfiel. Von ihrer Angst, von den Kindern, von ihrem Schwager. Der kam nach einer Stunde leise hinzu und freute sich ebenso über die guten Nachrichten.

    Bald darauf hörte Bayram im Radio, dass bei einer Explosion die Bewohnerin einer Wohnung in Neu-Tannenbusch ums Leben gekommen und ein Polizist schwer verletzt worden sei. Dass es wohl Didem getroffen hatte, bedauerte er kurz. Aber nur wegen seiner Bedürfnisse - doch die konnte eine neue Frau aus Syrien bestimmt mindestens ebenso gut befriedigen und würde sich dabei noch glücklich schätzen, dem Krieg zu entkommen! Über sein Gesicht flog ein seliges Lächeln - das würde sein nächstes Projekt, wenn er aus Düsseldorf zurück wäre und er Rima beerdigt hätte!

    Kim Krüger griff zum Telefon und informierte Herrn Weinzierl - auf blöde Sprüche von dessen Vorgesetzen konnte sie nämlich verzichten. Jetzt brauchte sie jemanden, der erfahren war und zupacken konnte!
    "Ja, Krüger, Kripo Autobahn! Haben Sie Herrn Kader? Nein? Okay, dann passen Sie auf. Meine Mitarbeiter haben ihm eine Falle gestellt. Er wird morgen früh um 5 Uhr 30 in einem Taxi mit Kölner Kennzeichen, Ludwig Martha 67, auf Abdel Waarit warten, um ihm einen mit dem fehlenden Sprengsatz präparierten Kinderwagen zu übergeben... " Kurz herrschte Stille. Dann fragte der LKA-Mann :
    " Ist die Information gesichert? "" Ja, "bestätigte die PAST Leiterin und hoffte inständig, dass diesmal nichts schief ginge.

    "Dorn, Kripo Autobahn. Bitte verlassen Sie den Flur, " sagte eine Stimme dicht neben ihr und drängte sie schnell weiter Richtung Treppenhaus. Didem hörte mehrere Personen hinter ihr mit harten, schnellen Stiefelschritten den Flur entlang laufen. Sie sah sich um und erblickte mehrere voll maskierte Polizisten mit Helm und Pistolen im Anschlag, wie sie in ihre Wohnung stürmten. Auch Jenny sah in ihr Gesicht.
    "Krass! Diese Augen! Genau wie bei Ahmet Toprak," dachte sie sich und fragte:
    "Didem? Didem Demir?" Die junge Frau nickte und hörte erstaunt, wie Jenny etwas rief, was sich anhörte wie "sie ist hier". Doch ein heftiger lauter Knall und eine Druckwelle verzerrten alle Geräusche. Jenny riss Didem zu Boden. Um sie herum war Rauch und Staub.


    "Was für eine Scheiße," schimpfte der junge Wichtigtuer, während die Rettungskräfte noch damit beschäftigt waren, die Verletzten zu bergen.
    "Wo ist Bayram Kader? Frau Demir, wo ist ihr Mann, " fragte er sie harsch. Der Abstand zwischen ihren Gesichtern betrug nur noch wenige Zentimeter. Didem wich zurück und zuckte mit den Schultern.
    "Müll... Düsseldorf", stammelte die verstörte junge Frau. Sie sah von einem zum anderen. Es war lange her, dass sie zum letzten Mal Deutsch gesprochen hatte. Und was hier gerade passierte, war ihr auch nicht klar. Sie klammerte sich noch immer an Jennys Arm, die das zuließ.
    "Der BMW, mit dem er herkam, steht noch hier," meldete Endres und zeigte dem LKA-Mann das Foto auf dem Smartphone.
    "Mein Auto," sagte Didem leise.


    Bayram Kader hatte tatsächlich den Müll runter bringen wollen. Dabei hatte er eine Stimme gehört, die ihm bekannt vorkam. Tatsächlich hatte er aus seinem Versteck heraus Herrn Weinzierl beobachtet, den er bereits aus mehreren Vernehmungen beim LKA kannte. Er war mit mehreren Männern im Gespräch vertieft gewesen - immer wieder war ihr Blick nach oben in dem Häuserblock geschweift. Jetzt war es wohl besser zu verschwinden! Bayram Kader war froh, dass er schon bei seiner Ankunft alle mitgeführten Taschen umgelagert hatte. So setzte er sich nun hinter das Steuer des Taxis, mit dem sein Schwager zuletzt seinen Lebensunterhalt verdient hatte und fuhr vorsichtig aus der Tiefgarage. Gerade kamen mehrere Leute von der Arbeit nach Hause - es fiel kaum auf, dass auch er unterwegs war.
    Ein bisschen ärgerte er sich ja schon, denn eigentlich hatte er sich gleich noch seiner zweiten Frau widmen wollen. Die Angst in ihren wassergrünen Augen, dieser um Gnade bettelnde Blick, der wunderschöne Mund, der längst nicht mehr wagte, ihm zu widersprechen - allein der Gedanke daran war so intensiv, dass beinahe eine ganze Grünphase an der Ampel verpasst hätte, wäre hinter ihm kein Hupkonzert ausgebrochen. Er seufzte. Rima war tot. Zwar hatte sie ihm keine Kinder geschenkt. Aber sie hatte ihn verstanden. In jeder Hinsicht. Sie hatte verstanden, wie wichtig ihm die Entwicklung des Kalifats war und ihn nach Kräften unterstützt. Rima hatte mehrere junge Frauen aus ihrem Umfeld in Ehen mit erprobten Kämpfern vermittelt. Und überhaupt war sie ein gutes Vorbild für andere Frauen gewesen, fand der Witwer. Sie waren ein wirklich gutes Team gewesen - zusammen mit ihrem Bruder geradezu perfekt! Er würde dafür sorgen, dass sie ein schönes Grab bekämen!

    Er war schon auf der Autobahn Richtung Düsseldorf unterwegs, als sein Handy einen schrillen Ton von sich gab: Es war die Alarmnachricht der Explosion.
    "Das haben diese Schnüffler jetzt davon," dachte er sich. Für den Fall, dass ihm jemand zu dicht auf den Fersen war, hatte er sich von Hassan Bari eine Konstruktion bauen lassen: Wenn eine unbekannte Person die Wohnung unberechtigt betrat, wurden mit kurzer Verzögerung die Propangasflaschen am Grill auf dem Balkon gezündet. Und - zufällig lagerten auf dem Grill noch eine Menge Schrauben und Nägel...

    Sehr schön, dass es Ben und Semir gut geht. Das die Kilic das so gut überlebt, habe ich mir ehrlich nicht gewünscht - auch wenn der Arm steif ist und sie im Gefängnis ist - der Rachedurst bleibt..... Bin gespannt wie es weitergeht!

    Danke für das Lob!
    Also was die Zeitverschiebung angeht, habe ich mich da verrechnet? Bei Andrea ist es mittags, dann müsste es bei Ben früher Morgen sein. Er wird mittags losfliegen und ist am frühen Morgen des nächsten Tages in Deutschland. Oder?
    Falls es nicht so ist - denkt es euch bitte so.
    Ach ja, was die Figuren angeht, denkt euch in 2015 zurück - Kemal als Schlüsseldienstinhaber und "anständig", nicht so wie in der letzten Staffel. Die Präsidentenbegründung hab ich jetzt noch eingefügt...

    Zum ersten Mal seit Tagen betrat Didem Demir den Außenflur. Endlich sah und spürte sie einmal wieder die Sonne auf ihrem Gesicht. Sie reckte sich, genoss jeden einzelnen der Strahlen. Sie stand wenige Schritte vor der Tür ihrer Wohnung, die eigentlich ein komfortables Gefängnis war. Vor über einer viertel Stunde hatte Bayram gesagt, er wolle nur kurz den Müll hinunter bringen. Seither war er verschwunden-was normalerweise gar nicht seine Art war. Die Tür einen Spalt breit offen zu lassen, war es schon eher - er war ja sonst immer sofort wieder da gewesen und wo sollte sie denn so schnell schon hin? Auch jetzt war die Tür wieder einen Spalt weit offen gestanden und Didem wusste: Solange die Tür offen stand, funktionierte die Überwachungskamera nicht. Sie hatte die Gelegenheit genutzt, sich schnell eine Jacke und ein Tuch über gezogen und war vor die Wohnungstür gegangen.
    Nur einmal kurz die Freiheit spüren, die sie nicht hatte! Die Freiheit, die Sie zukünftig noch viel weniger haben würde - denn Bayram hatte ihr mitgeteilt, dass Rima, seine erste Frau, tot war. Das Verhältnis zwischen ihr und Rima war zwar angespannt gewesen, aber Didem wusste, was ihr Tod für sie bedeutete:
    Bayram würde nun noch mehr Zeit bei ihr verbringen und noch häufiger versuchen, ein Kind zu zeugen. Sie dachte an die Zeit, in der Rima die Ausbildung in Syrien gemacht hatte. Sie meinte, noch immer die Schmerzen dieser Zeit in ihrer Mitte zu spüren und ihr kamen die Tränen. Kurz wünschte sie sich an Rimas Stelle. Wie ein Fingerzeig von oben kam da jedoch ein Windstoß - die Tür hinter ihr schlug zu!
    Sie erschrak zutiefst - bevor sie weiter nachdenken konnte, packten sie zwei Hände und zogen sie mit sich.


    "Morgen früh, gleich nach Fadjr, Taxi - Stand vor Eingang zu Terminal B. Kaf-Lam Nun. 67. Du bringst den Kinderwagen hinein. Bis morgen, inchallah," las Hartmut vor. Dann tippte er schnell ein
    "Inchallah, ich werde da sein." auf der Tastatur und schickte es ab.
    "So. Und nun?" Frau Krüger war richtig sauer. "Moment," hob Hartmut beschwichtigend die Hand. Er hielt sich das Telefon ans Ohr, während er wie wild auf der Tastatur herum tippte. Dann gab er die Nachricht telefonisch durch, während die Krüger mit verschränkten Armen neben ihm stand und fragte :
    "Mit wem zum Teufel reden Sie da, Freund?"

    Nach dem Besuch auf Intensivstation wollte Alex unbedingt nach Hause - zu wissen, dass er Semir so nah war, aber er ihm nicht helfen konnte, machte ihn wahnsinnig! Außerdem würde Tareq entlassen und noch einen Wechsel in seinem Zimmer wollte er nicht.
    Tareqs WG war in einer kleinen Wohnung im Dachgeschoss eines Altbaus ohne Aufzug. Deshalb schlug Hartmut, der seine beiden Helfer abholte, vor, dass Tareq ein paar Tage bei Alex bleiben sollte. Alex war einverstanden, denn ihm war bewusst, dass ihm die Anwesenheit des Syrers gut tat. Er grübelte dann weniger dunkel über den Zwischenfall mit Semir und sein sonstiges Leben nach. Und im Vergleich zu den Nöten, die Tareq beschäftigten - der war noch in der Probezeit gewesen und sein Chef hatte ihm jetzt den Wachdienstjob, mit dem er sich mühsam über Wasser hielt, gekündigt. Sein Bruder und sein Vater waren in Syrien verschwunden, seine Mutter und seine zwei Schwestern in einem jordanischen Flüchtlingslager Repressalien und Belästigungen ausgesetzt - kamen Alex seine eigenen Sorgen gering vor. Tareq war dankbar dafür, dass Alex ihn für die Tage, bis er gut genug mit seinen Krücken umgehen konnte, bei sich aufnahm. Er sah, wie Alex sich quälte, kaum die Ruhe fand, die er selbst benötigt hätte, um gesund zu werden. "Semir muss ein guter Freund sein...Möchtest du lieber mit dem Tod kämpfen? Für ihn?" Alex sah Tareq an. Die langen schwarzen Locken trug der gerade offen, er hatte etwas von einem Löwen. Was meinte er? "Ich sehe, dass du schreist." Sagte Tareq und legte dem Polizisten die Hand auf die Schulter.War dieser Ausdruck Absicht gewesen? "Ja. Ich hätte ihn schützen müssen, ich habe hätte schneller sein müssen. Ich wäre jetzt lieber an seiner Stelle, als hier. Um mich wäre es nicht schade. Aber Semir..." Er sah seinen Gast an, der ihm einen besorgten Blick zuwarf. "Alex, jeder hat eine Aufgabe. Die suchen wir nicht selbst. Aber wir finden sie in uns. Komm, lass uns dem Mann mit den roten Haaren helfen!" Alex seufzte und nickte.
    Gemeinsam spielten sie das Spiel weiter und kommunizierten mit Bayram Kader. Sie ließen ihn glauben, Abdel Waarit sei die Flucht aus dem Krankenhaus vor der Polizei gelungen und er würde nun auf weitere Anweisungen warten.

    In der PAST herrschte Katerstimmung. Nach dem, was Susanne ihnen mitgeteilt hatte, bangten alle um Semir. Sie trafen sich im Besprechungsraum.
    "Meine Herren, lassen Sie uns die Lage besprechen," forderte Kim Krüger mit Sorge in der Stimme Ihre LKA-Kollegen auf. Der Wichtigtuer stand auf und wies in Richtung Jenny und Endres :" Ich habe ja keine Ahnung, wie und wo Sie das her hatten. Aber das mit Ahmed Toprak scheint eine Fehlinformation gewesen zu sein : Der hat nichts mit Bayram Kader zu tun - es gibt keinerlei Verbindungen und er hat auch keine Cousinen. Die Kollegen von der Drogenfahndung waren allerdings ganz entzückt... ""Das stimmt nicht ganz," erwiderte Jenny: "Ihr Ahmed Toprak hat keine Cousine. Aber es gibt einen weiteren Ahmet Toprak - mit" t" statt "d" - ebenfalls wohnhaft im Norden von Bonn und der hat eine Cousine namens Didem Demir. Diese wiederum ist auf Druck ihres Vaters eine Beziehung mit Bayram Kader eingegangen. Wir haben Hinweise darauf bekommen, dass er die Frau misshandelt. Wahrscheinlich ist er bei ihr in Neu-Tannenbusch. " Der Wichtigtuer wurde erst bleich, dann rot im Gesicht, bevor er Kim Krüger anzischte:" Hatten wir nicht vereinbart, dass wir die Ermittlungen übernehmen. Das ist eine klare Missachtung... "".... der Fakten. Wenn Sie jetzt nicht handeln und jeder noch so kleinen Spur nachgehen, verschaffen wir Kader weiteren Vorsprung. Und das könnte Menschen das Leben kosten." fiel Kim dem Anzugträger ins Wort. "Trotzdem..." wollte er sich wehren, "sollten wir jetzt zusammen arbeiten. Wir informieren das SEK. In einer Stunde muss in Bonn alles klar zum Zugriff sein," überfuhr der einsatzerfahrene Weinzierl - der eine weitere Blamage verhindern wollte - seinen Chef. Der hatte begriffen, dass jetzt der falsche Zeitpunkt für Auseinandersetzungen war und ging hinaus zum Telefon.
    Alle Fahrzeuge wurden besetzt, da rannte Hartmut auf den Hof und rannte zum Dienstwagen der Leiterin. "Chefin, haben Sie einen Moment? Wir müssen dringend etwas besprechen," rief Hartmut in das heruntergelassene Fenster hinein. Kim Krüger war nicht traurig, dass sie sich nicht weiter mit dem Wichtigtuer auseinander setzten musste und wünschte ihren Leuten über Funk einen erfolgreichen Einsatz. Dann stieg sie aus und ging mit Hartmut in die PAST.
    " Herr Freund, was gibt es denn so Dringendes?" "Also, Abdel Waarit ist doch noch am Leben..."
    "Ja, aber nicht ansprechbar. Was ist denn? " Hartmut knetete nervös seine Hände:"Also, ähm, ich habe mich als Abdel Waarit ausgegeben. Und Bayram Kader geschrieben, dass ich aus dem Krankenhaus geflohen bin." Ungläubig sah Frau Krüger ihren Mitarbeiter an. "Sie haben WAS?" Hartmut zog schützend seine Schultern etwas höher und drehte seinen Laptop zu Frau Krüger. "Hier, das Forum über dessen Private Nachrichten Abdel Waarit seine Befehle von Bayram Kader empfangen hat." Frau Krüger las scrollte sich durch den Text und die Nachrichtenhistorie. "Also, ich verstehe nicht alles, aber Bayram Kader weiß, dass seine Frau und sein Schwager verstorben sind. Er geht jedoch davon aus, dass diese zuvor die beiden Mädchen getötet haben. Wer hat denn das bloß an die Zeitung rausgegeben?" Hartmut nahm den Laptop schnell zu sich :"Ich habe eine weitere Nachricht empfangen. Wenn ich darauf klicke, sende ich eine Empfangsbestätigung" sagte er und zeigte auf den Brief-Button. Kim Krüger sah ihn an, rollte seufzend mit den Augen und nickte.

    Es konnte ja nur die Klinik sein! Semir hatte wohl gewartet, bis sie gegangen war! Dass Menschen entweder auf das Kommen oder das Gehen eines geliebten Menschen warteten, um zu sterben - davon hatte sie schon häufiger gehört. In ihr breitete sich die Schwäche aus, sie musste sich setzen. Das alles fand in den Sekundenbruchteilen statt, bis sie die andere Stimme wahrnam:

    "Hallo Andrea! Hier ist Ben... Andrea?" "Ben!" Andrea blieb nach Aussprache des Namens still - Sie musste sich gerade neu sortieren. Das war ja gar nicht die Todesnachricht! Wirklich nicht!? Was sollte sie nur sagen?
    "Andrea, ich habe Semir nicht erreicht...ich wollte ihn eigentlich überraschen... wollte euch sagen: Ich fliege zurück nach Deutschland. Das in den USA, das geht nicht mehr. Nicht mit diesem Präsidenten...Andrea?"
    "Ja?"
    "Ich weiß, ich hätte mich öfter mal melden sollen. Vielleicht kannst du Semir fragen, ob er mich morgen früh vom Flughafen Düsseldorf abholen will? Ich komme sonst auch so nach Köln, aber ich würde mich total freuen..." Da hielt es Andrea nicht mehr aus. Sie schluchzte laut auf.
    " Was ist denn, Andrea?" Sie versuchte, sich zu beruhigen. Sie presste heraus :
    "Semir würde sich auch freuen. Wenn er könnte."
    "Was meinst Du?"
    "Auf Semir ist geschossen worden. Er liegt in tiefer Narkose auf der Intensivstation. Es sieht nicht gut aus....Gar nicht gut..."
    Einen kurzen Moment lang verarbeitete Ben die bedrückenden Informationen.
    "Andrea, er wird es schaffen. Das ist nicht das erste Mal..."
    "Ich weiß. Aber noch nie waren die Mediziner so skeptisch..." Andrea weinte nun unaufhaltsam. All die Anspannung brach aus ihr heraus und sie musste sich sehr bemühen, nicht laut zu schreien.
    "Selbst wenn er es überlebt, es kann sein, dass er nicht mehr derselbe ist!" Ben hätte sie gerne in den Arm genommen und getröstet. Stattdessen sagte er
    :"Andrea, du hast den zähesten kleinen Mann geheiratet, den ich je kennengelernt habe! Wir sehen uns morgen. Und ich komme auch so von Düsseldorf nach Köln. Ich bin für euch da, egal, was kommt. Ja?"
    "Danke."

    Andrea war eingenickt – alle Besucher waren verschwunden, es war schon kurz vor 12 und die Schwester hatte sie geweckt:
    „Frau Gerkan, bitte fahren Sie nach Hause. Sie müssen sich ausruhen. Sie haben doch Kinder und wenn ihr Mann das hier überlebt, werden Sie Ihre Kraft noch brauchen.“ Andrea wollte gerade widersprechen, da fuhr die Schwester fort:
    „Ihr Mann hat die letzte Nacht gut überstanden, ist derzeit stabil. Ich verspreche Ihnen, wir rufen Sie an, wenn Ihre Anwesenheit erforderlich wäre. Heute Nachmittag muss noch ein Kontroll-CT gefahren werden. Er ist ohnehin soweit weg, er dürfte wohl kaum etwas mitbekommen. Bitte fahren Sie nach Hause, ruhen Sie sich aus, kommen Sie morgen früh wieder. Das Gleiche habe ich auch Ihrem Schwager gesagt..“ Andrea nickte müde. Sie verabschiedete sich mit einem Kuss bei Semir:
    „Mach keine Dummheiten, hörst du!“ Als sie das Zimmer verließ, stand Dana tränenüberströmt davor. „Darf ich... nur kurz? Allein?“ Andrea war einverstanden. Sie wartete draußen auf ihre Stieftochter und war eigentlich ganz froh, dass sie nicht alleine nach Hause fahren musste.
    Sie waren gerade nach Hause gekommen, als Andreas Handy klingelte. Die Nummer war unterdrückt. Fast schon panisch und mit butterweichen Knien nahm sie ab: "Ja, bitte?"

    Behutsam zog ihn einer der ehrenamtlichen Helfer von der Scheibe weg.
    "Lass uns gehen," wiederholte Tareq mit einem Blick durch das Fenster. Er sah die tapfere Frau am Bett des Mannes, von dem alle fürchteten, dass er die nächste Nacht, den nächsten Tag nicht erleben könnte. Sie schien ruhiger als alle anderen zu sein, weshalb Tareq der Satz eines Gelehrten in den Sinn kam:
    "Was die Augen sehen, ist Wissen. Was das Herz weiß, ist Gewißheit".
    Andrea hatte die Augen geschlossen, den Kopf auf Semirs Bett gelegt und umklammerte seine Hand. Sie dachte :
    "Ich höre deine alten Lehrer, Ibrahim Güner. Ich höre Kemal, wenn er manchmal etwas lauter mitspricht. Ich wage nicht, sie zu fragen. Was sie sagen, verstehe ich nicht. Aber es berührt etwas in mir. Ganz tief innen. Vielleicht erreicht es dich auch. Wie ist das, dort, wo du jetzt bist? Ich wüsste gerne, wo du bist. Ob du jemals wieder bei uns sein wirst. Der, der du warst. Der, der mich ansah, voller Liebe, voller Begierde. Ich liebe dich. Ich liebe auch deinen Körper. Aber was, wenn er nur noch eine Hülle dessen ist, was schon gegangen ist?
    Mein Herz! Ich kann es nicht beschreiben, was ich fühle. Ich sehe dich vor mir. Ich spüre deine Hand, kann dich berühren. Ich bin dir nah, obwohl du weit weg bist. Sie sagen, du nimmst nichts von uns wahr. Wie kann das sein? Du bist so heiß, dein Körper glüht, etwas in dir kämpft. Bist das noch du? Ich hoffe es. Ich hoffe, dass du auch für uns kämpfst. So, wie es deine Töchter von dir gelernt haben. Alle drei auf ihre Weise. In jeder lebt ein Stück von dir - auch jetzt. Sie brauchen dich. Du kannst nicht einfach gehen. Ich brauche dich.... "

    Die Nacht über blieben Andrea und Kemal bei dem Schwerstkranken. Um 5.30 Uhr verließ Kemal plötzlich wieder mit den Worten „ich komme gleich wieder“ den Raum. Andrea war davon aufgewacht, stellte jedoch fest, dass sich an Semirs Zustand außer einem leichten Fieberrückgang nichts geändert hatte.
    Eine gute Viertelstunde später kam Kemal mit Tränen in den Augen zurück, die er diesmal nicht verbarg:
    „Ich war beten.“ Das erstaunte seine Schwägerin, die ihn aus Erzählungen und Erlebtem als in keinster Weise religiös in Erinnerung hatte.
    „Ich habe Fehler gemacht,“ flüsterte Kemal tonlos und starrte auf seinen Bruder, „wir, Semirs Familie, haben viele Fehler gemacht. Ich verspreche dir, “ und er wischte eine Träne weg "es soll keine Lücke mehr zwischen deiner und meiner Familie geben. Auch wenn Semir..." Er wandte sich von Andrea ab. Sie sah, wie seine Schultern bebten. Gerade da kam die Nachtschwester ein letztes Mal herein. Sie dokumentierte die Werte, tauschte die kühlenden Tücher aus und hängte eine neue Antibiose an. Dann verabschiedete sie sich in den Feierabend.

    Bei der Visite zeigten sich die Ärzte erneut wenig hoffnungsvoll, aber immerhin hatte ihr Patient die Nacht stabil überstanden und auch der Hirndruck war inzwischen etwas gesunken. Andrea verließ die Intensivstation kurz, um sich nach ihren Kindern zu erkundigen. Ihnen ging es gut, sie waren gerade aufgewacht und frühstückten mit der Oma. Dana überlegte sich noch, ob sie es verkraften würde, ihren wohl sterbenden Vater zu besuchen... Gerade wollte Andrea zurückkehren, als Ibrahim Güner aus dem Aufzug stieg.
    „Guten Morgen,“ wünschte er ihr.
    „Guten Morgen, wollen Sie zu Semir?“ Der Imam nickte.
    „Sein Bruder ist auch da.“

    Die beiden Männer begrüßten sich mit einer Umarmung und unterhielten sich kurz. Kemal räumte den Platz neben Semir und ließ den älteren Mann Platz nehmen. Der sprach in ruhigen Worten zu dem Bewusstslosen, nahm seine rechte Hand und strich darüber. Schließlich erhob er sich wieder und begann, aus dem Koran zu rezitieren. Andrea hatte sich erschöpft links neben ihrem Mann niedergelassen. Kemal hatte sich hinter den Imam gestellt und ebenfalls die Hände mit den Handflächen erhoben und die Augen geschlossen.

    Draußen vor dem Flurfenster zu Semirs Zimmer saßen zwei Männer in Transportstühlen, begleitet von zwei weiteren Personen. Alex war so unruhig gewesen, dass Tareq zur Information gehumpelt war und zwei der ehrenamtlichen Hilfskräfte überredet hatte, sie beide auf die Intensivstation zu bringen. Alex konnte - auch wenn er aufstand - kaum etwas von Semir sehen, weil Kemal und der Imam in seinem Blickfeld standen.
    "Was sagt er denn," wollte Alex von Tareq wissen.
    "Wa 'Āyatun Lahumu Al-Laylu Naslakhu Minhu An-Nahāra Fa'idhā Hum Mužlimūna..."
    "Na, danke, Tareq! Ich meine :Was bedeutet das?"
    "Also grob übersetzt heißt das, dass in der Nacht ein Zeichen für die Menschen liegt - Entzieht Gott dem Tag das Licht, so gibt es nur noch Finsternis...."
    "Aha. Das ist doch normal, dass es nachts dunkel ist, oder?"
    "Das ist ein Teil der 36.Sure, YaSin. In ihrem ganzen Text geht es um die Allmacht Gottes. Über Leben und Tod, Licht und Dunkelheit und das Leben nach dem Tod. Sie ist eine der wichtigsten Suren. Wenn ein Mensch sehr krank ist oder...." Tareq stockte und legte Alex die Hand auf die Schulter "im Sterben liegt, liest man sie oder sagt sie auswendig vor. Lass uns gehen..du musst dich hinlegen." Besorgt sah der Syrer auf Alex, der ganz bleich geworden war. Aber der stand jetzt sogar auf, ging noch näher zum Fenster und legte die Hände auf die Scheibe. Einerseits war er froh, dass die Scheibe ihn von seinem Partner und dessen Besuchern trennte. Denn dort fand gerade etwas statt, was ihm fremd war, was ihm auch in seiner Bedeutung außerordentlich bedrohlich erschien. Andererseits wäre er gerne zu Semir gegangen, hätte ihn gesehen, berührt, ja, wenn es sein musste: sich auch ein letztes Mal verabschiedet.
    In ihm tobte es. Er war doch schuld, hätte es nicht ihn treffen können? Das wäre doch für alle erträglicher gewesen! Sein Tod hätte doch deutlich weniger Schmerz verursacht. Was sollte das Gerede von Gott, wenn es so wenig gerecht zuging?

    Jenny und Endres hatten Ahmet Toprak zunächst nicht angetroffen. Sie warteten im Auto, telefonierten mit Alex und Hartmut, holten sich etwas zu essen. Als sie wieder zu der Adresse zurück kamen, wurde es schon dunkel. Jetzt brannte Licht in der Wohnung in dem Mehrfamilienhaus aus den 70ern. Sie klingelten, kurz darauf betätigte jemand den Türsummer. Sie gingen die Treppen bis in den 3.Stock hoch, wo ein gepflegter Mann mit schwarzen, kurzen Locken, blaugrünem Hemd und Jeans auf vor die Tür getreten war. "Guten Abend?"
    "Guten Abend, Herr Toprak," begrüßte Endres den Mann um die 30.
    "Mein Name ist Endres, meine Kollegin Dorn, von der Autobahnpolizei." Leicht irritiert aber freundlich sah der dunkelhaarige Mann die beiden Polizisten mit blitzend blaugrünen Augen an. Jenny war sich sicher :Das war der Gesuchte, denn Ismael hatte doch etwas von den besonderen Augen der beiden erzählt. Und wie Recht er gehabt hatte! Diese Augen schienen direkt von innen heraus zu leuchten! Während Jenny noch ganz fasziniert war, hatte Endres den Mann schon aufgeklärt.
    "Wir sind auf der Suche nach Bayram Kader, der mit Ihrer Cousine eine Beziehung führen soll..." setzte Endres alles auf eine Karte. Über das mediterrane Gesicht des Mannes huschte ein mit Wut gepaartes Lächeln:
    "Bitte! Kommen Sie herein," bat er :"Wenn Sie wollen, dürfen Sie auch die Schuhe anlassen..."
    "Danke, aber die Zeit haben wir," erwiderte Endres und erntete ein wohlwollendes Lächeln, während er die Schuhe abstreifte. Die Wohnung war sehr sauber und geschmackvoll modern mit hellen Möbeln eingerichtet.
    "Bitte, nehmen Sie Platz, darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?"
    "Danke, so spät nicht mehr," sagte Jenny und auch Endres schüttelte den Kopf.
    "Gut, kleinen Moment." Herr Toprak ging in die Küche und rief von dort zurück: "Ich bin ja so froh, dass sich endlich mal jemand darum kümmert. Vor zwei Jahren habe ich wegen diesem Arschloch schon bei Ihren Kollegen Anzeige erstatten wollen. Aber die haben mir nur gesagt, Didem sei erwachsen und sie mischen sich da nicht ein...das sei ein kulturelles Problem."
    "Didem? Ist das Ihre Cousine," fragte Jenny, die das bequem gepolsterte Sofa mochte. Herr Toprak kam mit einem Tablett mit Wasser und Obst zurück.
    "Genauer gesagt haben Didem Demir und ich den gleichen Urgroßvater mütterlicherseits. Aber das nur am Rande. Ich habe Didem vor knapp 3 Jahren auf der Hochzeit einer Verwandten zum ersten Mal gesehen. Und ganz ehrlich: Ich war hin und weg! Wir haben uns gut verstanden und viel gechattet, ich habe dann ihren Vater um ihre Hand gefragt. Aber da war mir dieser Bayram zuvor gekommen. Der hat ihr und ihrer Familie alles Mögliche versprochen - und im Gegensatz zu mir hatte er Geld. Ich war gerade mit meinem Studium fertig und auf Jobsuche. Da hat ihr Vater dann auf sie eingeredet, sie soll doch den nehmen. Als Brautgeschenk hat dieser Typ ihr einen dunklen 7er BMW versprochen - so ne Gangsterkarosse. Das hat dem Vater natürlich gefallen. Und obwohl sie lieber mich genommen hätte, kam es dann zu dieser Hochzeit mit Imam und viel Getue. Aber entgegen seiner Versprechen, hat er sie nicht standesamtlich geheiratet. Ich habe das Didems Vater gesagt. Beim ersten Mal hat er mich rausgeworfen. Ich sollte sie vergessen und abhauen. Wie könnte ich? Dann habe ich ihre Freundin getroffen, die mir sagte, wie furchtbar er sie behandelt. Dass er sie einsperrt, schlägt. Dass sie noch nie mit ihrem Auto gefahren ist, dass sehr abgenommen hat! Er überwacht sie mit dem Smartphone und einer Kamera an der Wohnungstür. Ich meine: Geht's noch?"
    Ahmet Toprak schlug mit den Händen auf den Tisch vor sich. Sein Blick war grimmig, die Augen blitzen.

    " Ich bin noch mal zu ihrem Vater. Ob er davon weiß, wollte ich wissen. Und er hat nur gefragt :"Was soll ich denn machen?" Ich bin zur Polizei gegangen, aber die wollten auch nichts tun. Ich habe Didem heimlich getroffen, die Freundin hielt sich so lange in der Wohnung auf und hat so getan, als wäre sie Didem. Weil sie nur noch stark verschleiert die Wohnung verlassen darf, hat der Trick gut geklappt...sie haben nur auf der Toilette die Schleier getauscht."
    Ahmet Toprak grinste kurz schelmisch,wurde dann aber wieder ernst.
    " Es geht ihr nicht gut. Sie hat große, ständige Angst. Bayram ist ein mächtiger, einflussreicher Mann. Er hat sie geheiratet, weil seine erste Frau keine Kinder bekam. Aber Didem bisher auch nicht."
    "Wo wohnt Didem? "
    "Im dritten der Wohnblöcke von Bonn - Neu-Tannenbusch." Ahmet Toprak sah seine Gäste an: "Bitte! Sie müssen ihr helfen! Der Typ muss weg. Und bitte: Es geht nicht um mich. Ich könnte es wirklich verstehen, wenn sie mit keinem Mann - auch nicht mit mir - mehr sprechen will, nachdem, was sie da mitmacht."
    Endres nickte und Jenny stand auf.
    "Wir tun, was wir können. Versprochen."

    Mal sehen, wie es bei Maria weitergeht. Dass sich jemand so für bereits getragene Schuhe interessiert, hätte ich nicht gedacht. Aber genau das macht es ja so spannend.
    Bei Ben sieht es weiter miserabel aus - ich bin mal gespannt, ob Semir oder Sarah ihm das Medikament geben. Habe ich das richtig verstanden : Sein schlechter Zustand könnte auch von einem "Krankenhauskeim" an einem Plastikschlauch kommen?
    Und was ich mich schon die ganzen letzten Folgen frage : Gibt es da tatsächlich nichts, was es solchen Patienten erleichtern könnte?! Wenn nein, noch ein Grund mehr, gesund zu bleiben :huh:

    Inzwischen war auch Kemal Gerkan eingetroffen und hatte seine Schwägerin begrüßt. Er erkundigte sich nach den Kindern und war erleichtert, dass Andreas Mutter gut auf sie aufpasste. Als der Arzt ihnen kurz darauf eröffnete, dass Semirs Chancen durch die hinzugekommene Lungenentzündung sich deutlich verschlechtert hatten, nahm Kemal Andrea sogar kurz in die Arme.
    „Ich bin froh, dass der Imam da war,“ sagte er und sie schluchzte:
    „Er wollte morgen nochmals kommen. Was ist, wenn Semir....“
    „Dann sind wir für dich und die Kinder da. Mein Bruder hat dich gewählt. Auch wenn er nicht gefragt hat: Ihr seid auch meine Familie,“ antwortete Kemal mit zitternder Stimme. Seine Hände verkrampften sich. Er hätte toben, schreien, davon rennen wollen, wie er seinen Bruder so sah, wie er keine Hoffnung in der Botschaft der Ärzte hörte. In seinem Kopf schrie eine Stimme laut und ständig wiederholend:
    „Warum?“

    Aber er sah Andrea. Sie hielt ruhig und tapfer seinem Bruder die Hand, küsste sie, obwohl sie auch wusste, dass Semir das wohl nicht spürte. Obwohl sie mit Semir als Mann und Vater ihrer Kinder so viel mehr zu verlieren hatte, als er, der Bruder mit dem sporadischen Kontakt. Da schämte Kemal sich, setzte sich auf die andere Seite und nahm vorsichtig die andere Hand. Es war inzwischen dunkel geworden. Wie er seinen Bruder und seine Schwägerin so sah, kamen ihm die Tränen. Die wollte er verbergen, stand auf und ging zum Fenster. Am dunkelblauen Himmel über ihnen kam der Mond zum Vorschein.
    „Andrea, ich komme gleich wieder,“ sagte er und verließ das Zimmer. Eine halbe Stunde später war er wieder da.
    „Wie geht es ihm?“ Andrea zuckte mit den Schultern. Das Fieber war weiter bei 40°C, das Herz schlug regelmäßig.
    „Ich habe dir etwas zu Essen geholt. Es steht draußen, geh nur. Ich bin da.“ Andrea nickte müde und dankbar, während sich ihr Schwager an die Seite seines Bruders setzte. Er begann, mit ihm auf Türkisch zu sprechen, das verstand sie sowieso kaum.

    Doch da hatte er die Rechnung ohne Kim gemacht. Mühelos sprintete sie hinter dem Jungen her, schlüpfte durch das Loch im Zaun. Und als er bereits außer Puste kam, beschleunigte sie, packte ihn, warf ihn mit dem restlichen Schwung auf den Boden des Hinterhof.
    "So, schön liegen bleiben. Krüger, Kripo Autobahn."
    "Was wollen Sie von mir...."
    "Eigentlich nur mit dir reden," meinte der Wichtigtuer, der sie inzwischen eingeholt hatte. Und zu Kim meinte er :
    "Alle Achtung, filmreife Leistung." Kim nickte. "Herr Toprak, Sie kommen erstmal mit uns. Die Kollegen von der Polizeidirektion sehen sich nachher mal in Ihrer Wohnung um..."
    "Das dürfen Sie nicht!"
    "Oh, den Durchsuchungsbeschluss warten wir selbstverständlich ab. Wären Sie nicht weggelaufen..."meinte der junge Wichtigtuer. Sie fuhren mit dem zeternden Jungen zurück zur PAST. Auch dort war er alles andere als leise und kooperativ :
    "Ich will meinen Anwalt! Das ist Polizeiwillkür! Das wird ein Nachspiel für Sie haben." Irgendwann wurde es Kim Krüger zu blöd :
    "Herr Toprak. Wir suchen eigentlich nur noch Ihrer Cousine."
    "Cousine? Ich habe keine Cousine !"
    "Auch keine, die mit einem arabischen Türken in Bonn verheiratet ist?"
    "Was wollen Sie denn von mir? Meine Mutter hat keine Geschwister. In der Familie von meinem Vater gibt es nur Jungs - und die wohnen auch nicht in Bonn..."

    Kim Krüger stand mit den beiden Männern vom LKA vor einem Haus aus der Gründerzeit. Es war schon recht herunter gekommen. Der Eingangsbereich stand offen, so dass die Polizisten auf dem gerissenen Terrazzo bis zum Treppenhaus kamen. Die Wohnung der Topraks lag im ersten Halbgeschoss. Die beiden Herren traten vor, Kim blieb etwas abseits im Flur stehen. Gleich nach dem Klingeln öffnete sich die Tür. Aus dem Türspalt drang eindeutiger süßlicher Geruch.
    "Komm rein, Alter! Meine Zombies sind in die Türkei geflogen, wir haben sturmfrei..." klang aus der Ritze. Die LKA-Männer sahen sich an."Herr Ahmed Toprak?" Der Teenager erschien an der Tür.
    "Ja?" "Weinzierl, LKA.." Doch da schoss der rechte Arm des untersetzten Jungen hinter der Tür hervor. Ehe sie reagieren konnten, waren die beiden Männer mit heißem Kaffee übergossen und der Junge an ihnen vorbei geschlüpft. Er rannte in den Hinterhof hinaus, Kim Krüger hinterher. Ahmed rannte, so schnell er konnte - dieser Weg führte durch ein Loch im alten Bretterzaun auf den Hinterhof des Nachbargebäudes und von dort auf die Straße. Vielleicht konnte er es bis zu seinem Versteck schaffen?