Donnerstag, 15. April 2004
Wohnung der Chefin, Köln Marienburg, 00:50 Uhr
Obwohl sie recht müde war, konnte Anna auch die dritte Nacht in Folge nur schlecht einschlafen und lag noch immer wach.
Während sie an die Decke des Schlafzimmers starrte, strich sie immer wieder gedankenverloren über den Kopf von ihrer Tochter, der auf ihrer Brust lag. Gleichzeitig fühlte sie den ruhigen, gleichmäßigen Atem des jetzt friedlich schlafenden Kindes, an ihrem Hals.
Als sie um kurz nach halb zehn nach Hause gekommen war, hatte Leo schon geschlafen.
Auch wenn sie es eigentlich nicht vorgehabt hatte, hatte sie sich noch eine gute Stunde mit ihrem Vater unterhalten und ihm einige von den Dingen, die seit Montag passiert waren, erzählt. Schlicht, weil sie jemanden zum Reden brauchte und das Erzählen der Geschehnisse sie ein wenige realer machte.
Sie hatte sogar ansatzweise versucht die ausgestandene Angst vom Vormittag in Worte zu fassen, was ihr jedoch mehr schlecht als recht gelungen war.
Die Unterhaltung war jäh unterbrochen worden, als Leonie mit verweinten Augen und ihrem Stoff-Adler unterm Arm barfuß aus dem Kinderzimmer gekommen war.
Sie hatte schlecht von Männern mit Masken geträumt.
„Mama kann ich in deinem Bett schlafen...?“
„Natürlich kannst du das, mein Engel!“
Ihr Vater war danach zwar nach Hause gegangen, hatte aber mehrfach betont das Anna jederzeit anrufen konnte, wenn sie etwas brauchte. Da er selber nur zehn Gehminuten entfernt wohnte, konnte er innerhalb kürzester Zeit da sein.
Leonie bewegte sich im Schlaf ein wenig und Anna nutze die Gelegenheit sie vorsichtig auf das Kopfkissen neben sich zu legen, um kurz aufzustehen und leise in die Küche zu gehen, wo sie sich ein Glas Wasser nahm.
Während sie an der Arbeitsplatte lehnte und einen weiteren Schluck trank, fiel ihr Blick auf die Digitaluhr auf dem Küchentresen gegenüber, die neben der Zeit auch das Datum anzeigte.
15. April... unwillkürlich musste sie leicht erstaunt mit dem Kopf schütteln.
Wow!
Fux hatte wirklich ein erstaunliches Timing, genau jetzt von den Toten aufzuerstehen.
Es war einige Jahr her, dass sie das letzte Mal an die Nacht, vor auf den Tag genau, fünf Jahren gedacht hatte. Sich gefragt hatte, wie es dazu gekommen war.
Jetzt, wo sie darüber nachdachte, war sie sich sicher, dass sie vor vier Jahren das letzte Mal wirklich darüber nachgedacht hatte, als sie ähnlich wie jetzt, nachts wach gewesen war.
Damals hatte sie allerdings nicht wach gelegen, weil sie nicht einschlafen konnte, sondern weil das vier Monate alte kleine Bündel Leben gestillt werden wollte.
Sie war schon vor vier Jahren zu der Einsicht gekommen, dass sie André besser hatte leiden können, als sie es sich zu seinen ‚Lebzeiten‘ eingestehen wollte und es vermutlich nur eine Frage der Zeit gewesen war, bis das, was dann passiert war, passieren musste.
In dem Zusammenhang hatte sie sich auch dir Frage gestellt, was wohl geschehen wäre, wenn er von Mallorca zurückgekommen wäre...
Darauf hatte sie allerdings nie eine Antwort gefunden, außer, dass es wohl fürchterlich kompliziert geworden wäre.
Und genau so war es jetzt ja auch:
Fux war nach all der Zeit von Mallorca zurückgekommen und es war unglaublich kompliziert!
Wenn auch etwas anders, als sie es sich vorgestellt hatte.
Anna seufzte und leerte das Wasserglas in einem Zug, ehe sie es in die Spüle stellte und zurück ins Schlafzimmer ging, wo Leonie mittlerweile quer im Bett lag.
Sie hob amüsierte die Augenbrauen.
Ein weiteres Mysterium dieser Welt! Wie schaffte es ein kleines Wesen, das noch nicht mal ganz einen Meter groß war, derart viel Platz einzunehmen?
Villa am Stadtrand von Köln, 00:10 Uhr
20 Kilometer Luftlinie von der Wohnung in Marienburg entfernt, konnten auch die Kommissare und André Fux nicht schlafen.
Während Hartmut und Araignée im Wohnzimmer arbeiteten, saßen die anderen Drei in der Küche.
„Sind Bonrath und Herzberger noch bei der Autobahnpolizei?“, fragte Fux interessiert.
„Allerdings! Es hat sich eigentlich kaum etwas verändert. Drei Kollegen sind in Rente gegangen und der Grünschnabel hier“ Semir grinste Ben an „ist dazu gekommen.“
André sah kurz zu Ben und grinste ebenfalls. „Auf mich macht der junge Mann gar nicht einen so grünschnäbeligen Eindruck...“
Gerkhan wog gespielt nachdenklich den Kopf hin und her, während Jäger triumphierend grinste und sagte:
„Hör gut zu Semir! André hier scheint ein sehr kluger Mann zu sein!“
„Ja, ja... Ich sag ja: Noch völlig grün hinter den Ohren und hat keine Ahnung...“ feixte Gerkhan jetzt.
„Ist Andrea auch noch da?“, fragte Fux und unterband damit ein weiteres Hin und Her zwischen den Polizisten.
Semir grinste breit und antwortete höchst zufrieden: „Du meinst Andrea, die zukünftige Frau Gerkhan?“
Nun war es André, der große Augen bekam. „Nein! Nicht dein Ernst!“
„Oh doch!“
„Hmm... Hast dann aber schon ganz schön lange gebraucht...“ Er lachte, fügte aber sofort hinzu: „Das freut mich wirklich für euch!“ Er lächelte Semir an, wurde aber Stück für Stück nachdenklicher und sagte schließlich: „Ganz schön viel passiert...“
Das war für Ben wie ein Stichwort und er sah kurz zwischen den ehemaligen Kollegen hin und her, ehe er aufstand und in Richtung Wohnzimmer deutete.
„Ich schau mal was Einstein da so treibt...“ Damit gab er ihnen die Gelegenheit sich in Ruhe unter vier Augen zu unterhalten.
„Ja... Es ist ganz schön viel passiert...“ Sagte jetzt auch Semir und wirkte dabei genauso nachdenklich wie Fux, bis er diesen fragte:
„Was ist vor fünf Jahren passiert? Wir... Ich habe lange nach dir gesucht...“
„Ja ich weiß. Ich habe davon in einem Zeitungsartikel gelesen. Was genau passiert ist, kann ich dir nicht sagen. Also nicht alles. Nachdem ich ins Meer gefallen bin, muss ich wohl abgetrieben sein oder so etwas. Albert Berthold hat mich noch am selben Abend aus dem Meer gefischt.“
Fux erzählte von seiner Rettung und wie er letztlich bei den Bertholds gelandet und geblieben war.
„Ich konnte mich an überhaupt nichts erinnern und wusste nicht, wo ich hingehöre. Ich wusste nur, dass mich wohl jemand tot sehen wollte und es vielleicht gefährlich sein könnte, weitere Nachforschungen über meine Identität anzustellen. Also habe ich es bleiben lassen. Wenn ich gewusst hätte das...“ er brach ab und warf Semir einen prüfenden, gleichzeitig fragenden Blick zu.
„Wenn du was gewusst hättest?“, fragte sein Gegenüber auch gleich nach und André versuchte einzuschätzen wie viel Gerkhan wusste.
Semir tat genau dasselbe bei ihm.
Auch er versucht einzuschätzen, was sein Ex-Partner schon alles wusste und keiner traute sich etwas preiszugeben.
„Na ja, wenn ich gewusst hätte, dass ich eigentlich ein ganz anständiges Leben hatte, in das es sich gelohnt hätte, zurückzukehren.“ Sagte André schließlich ziemlich ausweichend.
„Hmm...“ Es war Semir anzusehen, dass er es ihm nicht abnahm, dass er das hatte sagen wollen.
Leicht unangenehmes Schweigen machte sich in der Küche breit, bis Fux schließlich möglichst beiläufig sagte:
„Ich war ziemlich überrascht, als ich erfahren habe das die Chefin, also ich meine die Engelhardt, eine Tochter hat...“
„Hmm...“ machte Semir wieder, fügte dann aber hinzu: „Ich war vor fünf Jahren ziemlich überrascht, als sie erzählt hat, dass sie schwanger ist...“
„Hmm...“ war es nun von André zu hören. „Ja, das glaube ich dir. Kam wohl recht unerwartet...“
Es war mittlerweile recht deutlich, dass sie beide um den heißen Brei herumtanzten. Semir war es, der schließlich der als erstes hinter seiner Deckung hervorkam:
„Noch viel geschockter war ich, als ich erfahren habe, wer der Vater des Kindes ist...“
„Ja, ich auch!“ pflichtete Fux sofort bei.
Die Männer sahen sich einen Augenblick lang an, ehe sie sich ein belustigtes Schmunzeln nicht mehr verkneifen konnten und gleichzeitig mit dem Kopf schüttelten und Semir mit hochgezogener Augenbraue fragte:
„Ich meine: Dein Ernst? Sie war deine Vorgesetzte...!“
André hob recht unbeeindruckt die Schultern. Er wusste zwar, dass sie damals eine Grenze überschritten hatten, sagte aber trotzdem:
„Naja das stimmt schon. Aber wenn es anderes herum gewesen wäre und ich ihr Vorgesetzter, hätte es niemanden wirklich interessiert, oder? Dann wäre es allgemein akzeptiert worden.“
In dem Punkt konnte Semir ihm tatsächlich nicht widersprechen. Da wurde in der Tat noch immer mit zweierlei Maß gemessen.
Gerkhan nickte und lehnte sich etwas weiter aus dem Fenster, als er frech sagte:
„Aber selbst das hast du nicht ‚Unfallfrei‘ hinbekommen... Was bei deiner damaligen Unfallquote natürlich nicht verwunderlich ist...“
„Offensichtlich nicht... Aber ich kann mich da an keine Details mehr erinnern, nur noch das es nach dieser Taxi-Nummer war. Wenn du zum ‚Unfallhergang‘ mehr wissen willst, musst du wohl deine Chefin fragen...“ konterte Fux schlagfertig, wobei es eine Lüge war. Er wusste genau was damals passiert war...
„Die Unterhaltung würde ich dann allerdings sehr gerne bezeugen...“ fügte er noch breiter grinsend hinzu, während Semir ziemlich heftig mit dem Kopf schüttelte, dann aber doch innehielt.
„Nach der Taxi-Nummer, ja?“ Gerkhan blickte jetzt ziemlich schelmisch drein. „Wenn Hotte das damals gewusst hätte, dass du die Situation derart ausnutzt, hätte er dich vermutlich auf der Stelle vergiftete...“
„Was nicht ist, kann ja noch werden... Ist er immer noch in sie verknall, ja?“ grinste Fux.
„Verliebt wie ein kleiner Schuljunge...“