Heute, Dienstag 13. April 2004
Villa am Stadtrand von Köln 09:40 Uhr
„Was steht auf dem Zettel?“ Renard sprach Deutsch, als er an Albert Berthold herantrat, der noch immer wie paralysiert, den mit dem Paket gekommenen Zettel, in Händen hielt.
Als er keine Antwort bekam, griff er selber nach dem Blattpapier und las die darauf gedruckte Botschaft:
„Letzte Warnung!
Der gesamte Betrag hat in Form von Diamanten bis spätestens 23:00 Uhr am 15. April bereitzustehen!
Für jede Stunde Verzögerung kommt ein weiterer Körperteil!“
Er fluchte, warf den Zettel beiseite und sah seinen Chef fragend an.
„Ich habe gestern Abend um mehr Zeit gebeten...“ stammelte der noch immer völlig aufgelöst Vater. „Wir habe ja nicht genug Diamanten!“
Nein, das hatten sie nach der missglückten, geradezu katastrophalen Flucht gestern nicht mehr.
Aber er war sich ziemlich sicher, dass es ein Fehler gewesen war, bereits um mehr Zeit zu bitten. Aber es war passiert und nun mussten sie sich schleunigst etwas einfallen lassen!
Gott, er hätte sofort hierherkommen müssen anstelle sich zu besaufen und durch die Weltgeschichte zu vögeln!
Aber auch das war jetzt passiert und er konnte es nicht mehr ändern!
Er wandte sich an seinen Komplizen von den Überfällen und fragte auf Französisch:
„Wer hat das Paket gebracht?“
„Ein Kurier. Hat sich den Empfang bestätigen lassen und ist sofort wieder gefahren. Ich denke nicht, dass er etwas damit zu tun hat.“
Wohl eher nicht, nein...
Er war vermutlich wirklich nur der Überbringer, der schlechten Nachrichten.
Camille war in der Zwischenzeit von ihrem Platz auf dem Sofa aufgesprungen und schrie hysterisch, dass sie ihr Kind wieder haben wolle und sie endlich etwas tun sollten!
Das war überaus verständlich, war aber leider leichter gesagt als getan.
Neben den Bertolds, Renard und Alain Duvért befanden sich noch zwei Brüder, die Albert angeheuert hatte, um seinen Sohn wieder zubekomme, in dem großen Haus.
Außerdem sein langjähriger Kompagnon Luce Delon, den aber alle nur ‚Araignée‘, die Spinne, nannten, da er sich unter diesem Synonym als Hacker einen Namen gemacht hatte.
In Kombination mit dem Finanzexperten Albert Bertold waren sie mit geschicktem Insiderhandel zu großen Summen Geld gekommen und hatten daraus ein lukratives Geschäftsmodell entwickelt.
Ein Geschäftsmodell mit dem sie sich spektakulär verzockt hatten... Und dass ausgerechnet bei Menschen, die diesbezüglich keinerlei Spaß verstanden und denen jedes Mittel Recht war, ihr Geld wieder zubekommen!
Nach einem hitzigen hin und her, bei dem allerdings nicht wirklich etwas rumgekommen war, wurden Renard und Duvért trotzdem losgeschickt, um den Rest des Tages, mögliche Juweliere auszukundschaften, wo sie zügig an die noch benötigten Diamanten kommen konnten.
Auch wenn beide Männer wussten, dass es mehr als unwahrscheinlich war, fügten sie sich der Anweisung.
Vielleicht geschah ja doch ein Wunder...
PAST, 12:14 Uhr
André Fux war am Leben.
Sein Freund und ehemaliger Partner war am Leben!
Der Gedanke kreiste unaufhaltsam und völlig Wild in seinem Kopf, sodass Semir Gerkhan für einen Moment an nichts anderes mehr denken konnte.
Und trotzdem konnte er es noch immer nicht begreifen!
Mit eiserner Willenskraft zwang er sich dazu, sich wieder auf das hier und jetzt zu konzentrieren, wo es einiges zu tun gab!
„Wie gehen wir denn jetzt vor?“, fragte Ben und sah zwischen seinem Partner und seiner Chefin hin und her, die beide gedanklich in ihrer eigenen Welt zu sein schienen.
„Bitte was?“ Die Engelhardt blinzelte und sah den jungen Kommissar leicht irritiert an.
„Na ja, ich bin mir nicht so sicher wie das Standardverfahren aussieht, wenn man einen totgeglaubten zur Fahndung ausschreiben möchte...“ Er grinste.
„Muss man den erst wieder für lebendig erklären, oder kann man das auch nach dem Ausschreiben zur Fahndung machen?“
Seine Kollegen schienen wieder aus ihren Gedanken zurückgekommen zu sein und schmunzelten jetzt.
„Da müsste ich auch noch mal nachlesen, wie genau man einen Wiederauferstandenen zur Fahndung ausschreibt.“ Gab Anna zu, fügte aber umgehend hinzu:
„Ich denke aber nicht, dass wir ihn momentan überhaupt zur Fahndung ausschreiben sollten.“
Semir nickte zustimmend. Er ging sogar noch einen Schritt weiter als er sagte:
„Ich glaube es wäre vielleicht sogar besser, wenn es erstmal unter uns bleibt, dass André am Leben ist...“ Nun war es die Chefin, die zustimmend nickte. Das war vermutlich wirklich erstmal das Beste, da hatte Gerkhan recht.
„Okay... Aber was machen wir dann?“ Ben war etwas unschlüssig und sah wieder zwischen seinen Kollegen hin und her.
Die schienen aber auch nicht so richtig zu wissen was sie als nächstes tun sollten.
„Machen sie weiter wie bisher und behandeln es als normalen Fall. Wissen wir schon etwas über den zweiten Mann, der entkommen konnte?“ fragte die Chefin nach einer kurzen Pause.
„Bis jetzt so gut wie nichts, nein. Wir haben Aufnahmen von umliegenden Kameras bekommen, die wir uns ansehen wollten. Vielleicht können wir so in Erfahrung bringen, wohin er gelaufen ist.“ Antwortete Ben.
„Gut, machen sie das. Hat die KTU in dem Fluchtwagen etwas gefunden?“
„Wir warten noch auf den Bericht.“ War es jetzt Semir, der antwortete. „Also gut. Bleiben Sie da dran. Und geben sie mir umgehend Bescheid, wenn sie etwas finden.“
***
Unglücklicherweise war da nicht viel was sie fanden.
Der am Nachmittag eintreffende Bericht aus der KTU verriet ihnen nur, dass der Wagen voller Fingerabdrücke war, man aber nicht sagen konnte, ob von den Räubern auch welche dabei waren.
Die Nummernschilder waren geklaut, genau wie vermutlich der Wagen selber. Wo der Vito entwendet worden war, konnten sie noch nicht sagen, da die nicht passenden Nummernschilder es komplizierter machten und auch die Identifikationsnummer unkenntlich gemacht worden war.
Bei der Durchsicht der diversen Videos von Kameras rund um die Unfallstelle konnten sie zwar einen Teil der Strecke nachvollziehen, die der Flüchtige dritte Mann genommen hatte, nach dem die Kollegen in Uniform ihn verloren hatten, allerdings verlief auch das recht schnell im Sand.
Kurz vor Feierabend fuhren Ben und Semir deswegen, mehr oder weniger aus Verzweiflung und weil sie nicht wussten, was sie noch tun konnten, in die JVA nach Ossendorf, wo der geschnappte Dieb mittlerweile in U-Haft saß.
Nur um erneut festzustellen, dass der Mann weiterhin eisern schwieg!
Während sie in der Schleuse warten, dass sich das Tor hinter ihnen schloss, damit sich das Tor vor ihnen in die Freiheit öffnen konnte schüttelte Ben frustriert den Kopf.
„Der Kerl ist wirklich sehr, sehr schweigsam! Das kommt mir fast ein bisschen komisch vor.“
Damit sprach der junge Polizist etwas an, was auch Semir schon zum Nachdenken gebracht hatte.
Laut den französischen Kollegen lebte der Mann in Montpellier und war dort als arbeitslos gemeldet. Davor hatte er in der Armee gedient.
„Vielleicht sind seine Komplizen ja ehemalige Kameraden und er sagt deswegen nichts? Ehre unter Soldaten?“ spekulierte Ben weiter.
„Ja, möglich... Oder sein Auftraggeber zahlt so gut, dass er es verkraften kann ein paar Jahre abzusitzen...“
„Oder er hat schiss und weiß, dass er es nicht überleben würde, wenn er redet.“ Semir wog den Kopf hin und her.
„Macht er auf dich den Eindruck das er schiss hat?“ Ben dachte kurz darüber nach, während Semir aus der Schleuse fuhr.
„Ne, macht er eigentlich nicht. Hast recht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Dann sollten wir uns morgen früh mal versuchen eine Liste mit ehemaligen Kameraden zu bekommen.“
Gerkhan nickte zustimmend, gab aber zu bedenken, dass dies wohl nicht ganz einfach werden würde. „Und wer weiß... Vielleicht ist es ja auch was völlig anderes, warum er nicht redet...“