„Chefin, was ist passiert? Wurde jemand verletzt? Konnten wir jemanden festnehmen?“ schoss er die Fragen ab, noch bevor Anna etwas sagen konnte. Anna konnte sich denken, dass Semir wenig Zeit hatte und begann somit ohne Umschweife zu erzählen. „Nein, Semir, es wurde niemand verletzt, auch nichts zerstört. Wir hatten Erfolg! Insgesamt waren es vermutlich 14 Personen, die die Raststätte überfallen wollten. Fünf davon konnten wir festnehmen, den anderen gelang leider die Flucht. Die Verhöre brachten uns leider nicht weiter, die sind alle so stumm wie ein Fisch. Philip war der Einzige aus dieser Bande, der bisher mit uns gesprochen hat.“ klärte sie Semir auf und merkte, wie dieser anschließend erleichtert aufatmete. „Das sind gute Neuigkeiten.“ stellte Semir fest. Er war froh, dass alles so gut geklappt hatte, dann fuhr er fort: „Wir haben auch etwas Neues zu berichten. Wir sind unterwegs zur Zeilingerstraße 10. Petra soll das Haus mal überprüfen. Vergessen Sie den Raum im U-Bahn-Tunnel bei der Kollstraße, dort ist niemand mehr.“ erklärte er. „Danke, ich hab verstanden.“ bestätigte Anna. „Ok, Chefin, ich muss aufhören.“ drängte er. „Warten Sie, es gibt da noch etwas Wichtiges, was ich Ihnen sagen möchte. Petra hat möglicherweise herausgefunden, wie der Anführer der Bande heißt. Außerdem möchte ich, dass Ihr ab sofort extrem vorsichtig seid bei allem was Ihr tut!“ warnte sie Semir und gab den Hörer an Petra weiter.
„Hallo Semir.“ meldete sich diese. „Hallo Petra, dann lass mal hören.“ forderte er. „Ich habe hier wen, der passen könnte. Warte mal eine Sekunde, ich schick dir ein Bild.“ Kurz darauf sah sich Semir das Foto auf seinem Handy an. „Ja, das ist er.“ bestätigte er. „Oh nein, ich habs befürchtet.“ meinte Petra unruhig. „Jetzt sag schon, wer ist das?“ wollte Semir neugierig wissen. „Der Anführer heißt Sven Ritinger. Er war Vollwaise und kam ziemlich bald vom rechten Weg ab. Bereits als junger Mann war er bei mehreren gefährlichen Banden dabei. Meistens in einer ranghohen Position. Sven Ritinger führte viele illegale Geschäfte durch. Er galt als erfolgreich, skrupellos und war generell sehr gefürchtet. Nicht selten ging er über Leichen um zu erreichen, was er wollte. Und jetzt wird’s interessant: Vor 24 Jahren war er wieder bei einem ziemlich lukrativen Geschäft dabei, so viel ich weiß ging es um Rauschgift. Auch hier schreckte er vor Mord nicht zurück. Insgesamt wurden damals drei Menschen, darunter auch zwei verdeckte Ermittler, die ihm auf die Schliche gekommen waren, auf äußerst brutale Art und Weise umgebracht, wobei hingerichtet trifft es wohl eher. Die Menschen wurden übel zugerichtet. Ich schick dir nachher noch ein paar Bilder aufs Handy. Kurze Zeit später konnte er jedoch von Anna Engelhardt verhaftet werden.“ erzählte sie Semir, der aufmerksam zuhörte. „Hört sich schlimm an.“ meinte dieser nachdenklich. „Ja. Das war allerdings noch nicht alles. Sven hatte einen jüngeren Bruder, Andreas Ritinger. Andreas war quasi die rechte Hand von Sven. Naja, und der…der wurde damals von Frau Engelhardt erschossen. Es war Notwehr. Sven war ebenfalls anwesend und erlitt daraufhin einen Nervenzusammenbruch. Somit ließ er sich fast widerstandslos festnehmen, wahrscheinlich der Grund, warum er damals überhaupt verhaftet werden konnte. Das würde auch erklären, warum Sven Ritinger so einen enormen Hass auf Frau Engelhardt hat und sie umbringen lassen wollte.“ „Danke, Petra. Stimmt, das erklärt einiges.“ meinte Semir. „Bitte Semir, passt auf euch auf, du und Tom! Ich will euch beide heil wieder hier haben. Seid vorsichtig.“ sagte sie besorgt. „Die sind wirklich sehr gefährlich!“ fügte sie leise hinzu. „Mach dir keine Sorgen, Petra, du hast deinen Tom bald wieder. Wir sind bald wieder bei euch, das verspreche ich dir.“ versuchte er sie lächelnd zu beruhigen. „Okay. Ich wünsch euch viel Glück für morgen bei dem Überfall! Frau Engelhardt hat mir gerade gesagt, dass ihr euch zurückhalten sollt. Sie wird sich um alles kümmern.“ wiederholte sie die Worte von Anna. „Wir werden uns daran halten. Ich muss mich jetzt aber beeilen und wieder zurück. Danke für die ganzen Informationen!“
Semir drückte das Gespräch weg und sah sich die Fotos der Leichen an, die Petra geschickt hatte. Doch kaum hatte er einen Blick darauf geworfen, drehte er sich sofort wieder weg und musste erstmal tief durchatmen. Er schloss die Augen. Mühsam versuchte er den aufkommenden Würgereiz zu unterdrücken. Ein paar Sekunden verharrte er so, dann öffnete er seine Augen wieder und sah sich die restlichen Fotos an. Petra hatte nicht übertrieben, die Bilder sahen grauenhaft aus. ‚Wie können Menschen nur zu so etwas fähig sein? Jemandem so etwas antun?’ fragte er sich und schüttelte fassungslos den Kopf. Dann lief er schnell wieder zum Auto zurück.
„Ist dir schlecht?“ fragte Martin, als er sah, dass Semir total blass im Gesicht war. Semir war zuerst etwas irritiert, nickte dann aber. „Verstehe, das war also der Grund, warum es so lange gedauert hat. Na, das wird schon wieder.“ sagte Martin nur und fuhr weiter. Tom sah mit einem Seitenblick zu Semir. „Mensch Semir, was hast du da drinnen gemacht? Bist du ins Klo gefallen?“ fragte er vorwurfsvoll. „Weißt du, wie schwer es ist diesen Typen so lange abzulenken, ohne sich dabei verdächtig zu machen?!“ sprach er flüsternd weiter. „Tut mir Leid, wir wissen jetzt aber, wer der Anführer ist.“ Tom sah ihn erwartungsvoll an. „Wer?“ wollte er wissen. Semir prüfte kurz, ob der Fahrer sie beobachtete und erzählte Tom dann flüsternd, was er wusste. Sie waren auf der Autobahn und die Außengeräusche so laut, dass man sie sicherlich nicht reden hören konnte. Trotzdem musste Semir immer wieder unterbrechen, wenn er bemerkte, dass ihr Beobachter sie ansah. Als Semir fertig war und Tom die Fotos gesehen hatte, musste auch dieser schwer schlucken.