Beiträge von jenni


    Jenny stöhnte lauthals, als sie sah, wie Beatrice noch weitere Akten und Unterlagen aus den Kisten holte, die Hartmut ihnen geschickt hatte. Seit Semir gegangen war, hatten sie ununterbrochen alles angeschaut.
    „Irgendwie glaube ich langsam, dass das Ding keinen Boden hat!“, sprach Beatrice den Gedanken laut aus und Jenny nickte zustimmend.
    „Geben Sie etwa schon auf?“, eckte Kim an und entdeckte in der Kiste von den Schweizer Kollegen einen gelben Umschlag in A4 Größe. Mit einem Post-It war eine Notiz vermerkt worden. „Nina mailen. Offiziellen Dokumente des EJPD…Brun? Was bedeutet EJPD?“ Beatrice sah auf Kims Frage auf und ging auf sie zu.
    „Spontan würde ich sagen „Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement“.“, antwortete sie. „Also euer Justizministerium“, schlussfolgerte Jenny und Beatrice nickte. „Mein Chef sozusagen. Wo haben Sie das gefunden?“
    Kim zeigte auf die Kiste. „War in den persönlichen Dingen von Kofler, die Ihre Kollegen uns zugesendet haben!“, antwortete sie auf Beatrice frage und öffnete den Umschlag. Ein Dokument erschien.
    „Klage wegen Verleumdung und Erpressung…“ Nun stand auch Jenny neugierig auf. „Was, gegen Kofler und Nina Becker?“ Kim schüttelte mit dem Kopf. „Nein, Sie haben die Klage ausgesprochen über die Schweizer Justiz her. Gegenüber einem Dario Conrad.“
    „Moment“, mischte sich Beatrice ein, „Conrad wie in…Müller & Conrad?“ Kim hob mahnend die Hand und las das Dokument zu Ende.
    „Allerdings. Laut Anklage hatten Kofler und Becker zuerst gebeten, einen DNA-Test zu machen, damit eine Verwandtschaft nachgewiesen werden konnte. Conrad hatte vehement abgelehnt da er, Zitat: „Befürchte, dass aus dieser Geschichte nur Profit gemacht werden würde“. Er sagte sogar, dass er selbst, rechtliche Schritte einleiten werde, sobald eine Anklage von Becker und Kofler eintreffen würde.“
    „Nettes Familienwesen…“, murmelte Beatrice und blickte auf Jenny, die zu Susannes Computer gehüpft war und angestrengt auf den Bildschirm starrte.

    „Hier, seht mal!“ Sie zeigte einen Artikel der Kölner Tageszeitung. „Der Mann ohne Hintergrund. Vom Waisenkind zum Millionär. Dario Conrad zeigt, dass alles möglich ist! Seine Rüstungsfirma, die er mit seinem, inzwischen verstorbenen, Partner Cornelius Müller gegründet hatte, läuft so gut wie schon lange nicht mehr!“, las Kim laut vor und auf ihrer Stirn, hatte sich eine lange Falte, gebildet gehabt.
    „Conrad könnte also der Bruder von Becker und Kofler sein. Er wäre die fehlende Verbindung…“ Kim nickte auf Jennys Schlussfolgerung. „Dorn, rufen Sie Gerkhan an, er soll direkt zu dem Gebäude fahren. Brun, Sie fahren ebenfalls dort hin! Ich will die Geschichte auch von Conrads Seite her hören!“ Beatrice nickte. „Natürlich.“, murmelte sie, packte ihre Jacke und verschwand aus der PAST.
    „Gut gemacht, Dorn!“, lobte Kim und blickte auf das Telefon, das an Susannes Platz laut klingelte. Sie nahm ab. Jenny, unterdessen, wählte Semirs Nummer auf ihrem Handy und weihte ihn ein. Das Gespräch dauerte keine Minute und Semir gab zu verstehen, dass er sich auf den Weg machen würde um mit Beatrice die Sache aufzuklären.
    „Krüger?“, begrüßte sie ihren Anrufer. „Ja…ja genau, dafür bin ich zuständig! ...Ja….WAS? WANN?“ Jenny riss beinahe die Tastatur vom Schreibtisch und sah ihre Chefin erschrocken an, besonders dann, als diese wutentbrannt den Hörer wieder auf die Station steckte.
    „Was ist?“, fragte Jenny leise und Kim stemmte die Hände in die Hüfte. „Jäger ist aus der Einrichtung geflohen…“
    Jennys Augen weiteten sich.
    „Was? Aber wie?“
    „Wollten Sie nicht sagen. Jedenfalls ist er weg. Spurlos…“


    Als Semir im St. Elisabeth ankam, begab er sich sofort zum Empfang, wo eine Krankenschwester, kurz vor ihrer Rente, saß und ihn ansah. „Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie freundlich du Semir lehnte sich auf die Theke. „Ich würde gerne Paul Renner besuchen. Er wurde gestern hier mit einer Schusswunde eingeliefert.“
    „Ah ja ich erinnere mich! Er wurde heute Morgen in ein Zimmer verlegt. Nummer...“ Die alte Dame tippte kurz auf ihrer Computertastatur herum. „Ah, da hab ich’s Nummer 101. Hier im Erdgeschoss. Einfach den Gang hinten links entlang. Sie können es nicht verfehlen.“ Semir nickte dankend und folgte dem erklärten Weg und sah sich jedes Türschild genau an.
    „101...101...101...“, murmelte er zu sich und blieb stehen, als er die Zimmernummer erblickte, „ah...da ist es!“ Semir klopfte kurz an der Türe und hörte ein „Herein“, öffnete den Raum und trat herein.
    Er erblickte Paul, der als Einziger in diesem Zimmer lag. Er sah noch genauso aus wie am vorherigen Tag, doch die Augen waren schon mehr geöffnet und ein Lächeln, hatte sich um seine Lippen geschwungen.
    „Hey, Fremder“, begrüßte er Semir heiser und dieser nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu ihm ans Bett. „Hey“, grüßte er zurück, „entschuldige, dass ich nicht früher gekommen bin… ich…“
    „...solange du mir nicht erzählst, dass du in dieser Situation einen Kurzurlaub gemacht hast, nehme ich dir’s nicht übel…“
    Semir lächelte leicht.
    „Du warst doch nicht weg, oder? Wenn ich erfahre dass du Urlaub gemacht hast während ich hier…“ Semir schüttelte mit dem Kopf. „Nein…ich war bei Andrea und den Kindern und wollte eigentlich um acht anfangen…“
    Pauls Stirn krauste sich. „Eigentlich?“, fragte er leise nach.
    Semir winkte ab. „Nichts…schon gut…“

    „Semir ich bin nicht blöd…was ist passiert?“
    „Ben war da…“, antwortete Semir leise und Pauls Augen rissen weit auf, was mit der rötlichen Umrandung unheimlich wirkte.
    „Er hat dir nichts getan…oder?“ Pauls Stimme zitterte. „Nein…Es…Paul…das was ich da gesehen habe, war nicht mehr mein ehemaliger Partner, mit dem ich viel Quatsch gemacht habe und der sich durch nichts hatte beirren lassen. Das war ein gebrochenes Wrack. Unfähig, eine normale Konversation zu führen…“ Semir spürte, wie Paul seine Hand nahm und leicht zudrückte. „Ich frage mich einfach…ob ich auch so geendet wäre, wenn Alex nicht eingegriffen hätte. Oder ob es mich bin, der so schlecht auf meine ehemaligen Kollegen abfärbt. Bin ich es, der sie auf die schiefe Bahn bringt, ihnen das Leben schlechter macht?“
    Semit schüttelte schwer atmend mit dem Kopf. „Ich weiß es einfach nicht. Das Ganze ist einfach nur…verwirrend.“
    Semir spürte, wie Paul seinen Griff um seine Hand verstärkte. „Denk nie so was!“, zischte Paul und Semir sah ihm direkt in die Augen. „Wir treffen unsere eigenen Entscheidungen Semir. Du kannst da rein gar nichts dafür.“
    Semir atmete tief durch.
    „Wahrscheinlich nicht…aber…ich bin einfach langsam ratlos Paul. Entweder sterben meine Partner, oder sie gehen weg, nur um dann auf der anderen Seite zu stehen.“
    „Hey…Alex hat das nicht getan…Jan hat das nicht getan. Sie sind Beide wegen einer ganz normalen Sache gegangen. Und du hast die Waffen nicht auf die Anderen gerichtet. Finde diesen Schweinehund, der Ben zu einem solchen Wrack gemacht hat, dann“, Paul kniff kurz die Augen zusammen und richtete seinen Oberkörper, „dann wirst du auch Ruhe finden…“
    Semir hob eine Augenbraue.
    „Hast du Schmerzen?“
    „Nur wenn ich atme“, versuchte Paul zu scherzen und bemerkte Semirs, ernsten Blick. „Mach dir keine Sorgen…ich werde wieder Semir. Und entschuldige dich nicht. Komm einfach, wenn du kommen kannst.“


    Als Semir aus der PAST verschwunden war, atmete Jenny tief durch und blickte Beatrice tief in die Augen.
    „Du hast das ernst gemeint, oder? Dass ich Ben so in Erinnerung halten soll, wie ich ihn kannte!“ Beatrice nickte. „Was anderes möchtest du nicht, glaube mir!“ Jenny strich sich eine störende Haarsträhne aus dem Gesicht.
    „Wollen wir?“, fragte sie und wies auf die Kisten, die sich auf ihren eigenen Schreibtisch befanden. „Attacke“, murmelte Beatrice, lief Jenny hinterher und packte sich auf dem Weg noch einen Bürostuhl, der lose im Raum stand.
    Als sie am Tisch ankamen, waren Schritte zu hören und Kim erschien.
    Eine bedrückende Stille legte sich in den Raum.
    „Meine Damen, hören Sie auf mich so anzustarren, ich fühl mich wie ein Ausstellungsobjekt“, murmelte Kim und gesellte sich zu ihnen.
    „Nehmen Sie es uns nicht übel Chefin…aber…wurde er nun…?“ Kim nickte auf Jennys Frage. „Man hat ihn gerade ins Fahrzeug verfrachtet. Man wird uns über seinen Zustand informieren.“
    „Ich will ihn mir gar nicht in Zwangsjacke vorstellen…“, murmelte Jenny und Beatrice schüttelte mit dem Kopf. „So ist das auch nicht, Jenny. Allerdings ist er auch eine Gefahr für sich selbst. In dem desolaten Zustand wie er war.“
    Kim stimmte Beatrice mit einer Handbewegung zu.
    „Wo ist Gerkhan?“
    „Paul besuchen gegangen. Ich glaube, er braucht kurz eine Verschnaufpause. Aber er hat sich an das Versprechen gehalten!“
    Jenny und Kim sahen Beatrice fragend an. „Ich hatte ihn gebeten, sich aus dem Verhör rauszuhalten und wenn er sich einmischen würde, dann ruhig und besonnen!“
    „Nun ja, er hat Jäger eigentlich eine väterliche Standpauke gegeben. So einen eiskalten Blick hatte ich noch nie bei ihm gesehen. Ich hatte schon Angst, als sich die Türe geöffnet hatte, dass Gerkhan wieder zuschlagen würde.“
    „Dafür ist die Enttäuschung zu groß“, murmelte Jenny, „wegen einem solchen, dummen, unlogischen Fehler, liegt Paul im Krankenhaus. Hätte Ben einfach geschrieben gehabt. Diese SMS geschickt…Semir ist einfach nur enttäuscht…und stinksauer. Und die Mischung aus beidem lässt einen Kalt erscheinen.“


    „Sie wissen gar nichts! Sie wurden nicht von dem getrennt, was Ihnen am liebsten war! Wurden nicht verprügelt und gequält. Haben nicht in letzter Sekunde fliehen können und fristen nun Ihr Dasein als Mensch, der nur noch eines will, dass der Hauptverantwortliche hinter all dem dafür büßen muss! Sie wissen gar nichts!“ Ben, Beatrice und Kim sahen auf, als sich die Türe öffnete und ein, gefasster, Semir den Raum betrat. Sein Blick war eiskalt, emotionslos auf Ben gerichtet, was diesen einzuschüchtern schien.
    „Ich weiß es. Aber trotzdem verstehe ich dich nicht. Eine SMS Ben. Hättest du Sie abgeschickt, wäre das alles nicht passiert. Ich hätte dir geholfen. Trotzt allem. Ich hätte die jahrelange Freundschaft nicht weggeworfen. Ich wäre über meinen Schatten gesprungen. Ich weiß nicht, was Amerika aus dir gemacht hat, aber das ist nicht mehr mein bester Freund. Dieser liegt nun im Krankenhaus und wurde von dem Mann dorthin verfrachtet, von dem ich immer dachte, dass er die sichere Person an meiner Seite ist. Aber ich habe mich gefangen. Du anscheinend nicht…“ Mit diesen Worten ging Semir wieder aus dem Raum. Sah nicht ein einziges Mal zurück. Worauf Ben aufstand, zum Fenster rannte und dagegen schlug. „Semir! Bitte! Hör mich an! Bitte! SEMIR ICH WAR DAS NICHT! KOMM ZURÜCK! DAS KANNST DU NICHT BRINGEN!“ Er rutschte auf die Knie und brach weinend zusammen.
    „Brun, kümmern Sie sich bitte um Gerkhan…ich kümmere mich um den Fall hier.“, murmelte Kim, als sie Ben auf dem Boden kniend sah, der nur noch wie eine leere Hülle wirkte.
    „Sie meinen…ja…es scheint die einzig, richtige Lösung“, flüsterte Beatrice und seufzte schwer.
    „…ja Brun, einen Tag in U-Haft und er würde hängen…entweder aus eigener Hand, oder wegen denen, die ihren Aufenthalt ihm zu verdanken haben. Und das können wir, trotz allem, nicht verantworten.“

    Semir sah auf, als sich die Türe zu seinem Büro öffnete, und Beatrice hineinkam. Diese wiederum war erstaunt, dass sich Jenny im Büro befand.
    „Hi“, murmelte sie leise und Jenny nickte. „Hey“, grüßte sie zurück und sah, wie Beatrice zu Semir blickte.
    „Und ich dachte immer, ich wäre der Meister im Schlechten-Gewissen-Machen.“, murmelte Beatrice und warf die Unterlagen auf Pauls Pult.
    „Wenn du drei Kinder hast, reden wir wieder darüber…dann wirst du deinen Titel wieder verteidigen können, glaub mir.“, murmelte Semir.
    „Semir hat mir erzählt, was war. Er sagt nichts, oder?“ Beatrice schüttelte auf Jennys Frage mit dem Kopf. „Er steht total neben sich, seit er erfahren hat, dass Paul Semirs Partner ist.“
    „Moment…hat er euch Beiden verwechselt? Also dich und Paul?“ Beatrice nickte. „Schaut ganz danach aus. Er hat einen Fehler gemacht und das wird ihm wahrscheinlich gerade schmerzhaft bewusst.“, murmelte sie und setzte sich auf die Fensterbank.
    „Das ist nicht er…Ninas Tod hat ihn komplett aus der Bahn geworfen. Jenny, das was von Ben da noch übrig ist, ist nicht er, glaub mir! Du weißt, wie ich drauf war, als Andrea mich verlassen hatte. Stell dir das mal hundert vor. Nein, besser mal tausend! Dann kannst du dir es besser vorstellen!“
    „Ach du Scheiße…“, murmelte Jenny. „Eure Chefin lässt ihn in eine psychische Klinik fahren. Für Sträflinge natürlich. Hoffen wir, dass er Einzelhaft kriegt.“
    „Und dass die ihm alles abnehmen, womit er sich umbringen könnte“, flüsterte Semir. Jenny wollte sich aufrichten und Beatrice hielt sie mit einer Handbewegung zurück. „Behalt ihn dir so in Erinnerung, wie du ihn kanntest! Bitte! Tu‘ mir den Gefallen! Dieses eine Mal…“ Jenny lehnte sich langsam wieder zurück in Pauls Stuhl und schüttelte mit dem Kopf. „Das ist ein schlechter Traum oder? Bald wachen wir alle auf…sitzen verkatert in einer Kneipe und Trix ist in Wirklichkeit die nette, leicht pummelige Bardame, die uns abgefüllt hat.“ Semir lachte falsch auf. „Ich wünschte es wäre so. Aber es ist die bittere Realität…“, murmelte Semir müde und rieb sich die Schläfen.
    „Fahr du zu Paul, Semir. Ich kümmere mich um Hartmuts Ergebnisse und helfe Jenny. Mehr kann ich sowieso nicht tun.“ Jenny nickte Beatrice Vorschlag zu. „Ich glaube, unser Jüngling braucht dich nun dringender!“ Semir war zu müde um Nein zu sagen. „Ihr sagt der Krüger Bescheid?“ Die beiden Frauen nickten.


    Die Beiden sahen in zwei leere Augen, die durch sie hindurchstarrten, als wären sie gar nicht hier. „Richtiger Zeitpunkt, hier den Geschockten zu spielen“, begann Kim und setzte sich mit Beatrice vor Ben, „so kann man Fragen aus dem Weg gehen!“ Ben sah sie an und schüttelte mit dem Kopf. „Sie verstehen nicht…Chefin…Sie verstehen das nicht…“, murmelte er und Kim hob eine Augenbraue.
    „Nennen Sie mich nicht so Jäger. Das ist schon lange vorbei und das war Ihre Entscheidung. Wir haben uns mal gekannt, nicht mehr!“
    Beatrice nahm, sichtlich beeindruckt von Kims kühlen Ton, die Fotos von den Opfern hervor. Inklusive dem Foto von Nina Becker. „Was sollen wir bitte daran nicht verstehen, Herr Jäger?“, fragte sie langsam und Kim glaubte sogar, so etwas wie Sorge in Beatrice Stimme zu hören.
    Beide Frauen sahen, wie Ben die Augen zusammenkniff und seinen Kopf wegdrehte, als er Ninas Foto sah. „Bitte…nicht…nehmen Sie es weg, bitte!“, flüsterte er und Kim atmete tief durch.
    „Jäger…Sie stehen hier unter Mordverdacht. Einen Versuchten, haben Sie schon zugegeben. Wegen Ihnen liegt Paul Renner mit einem Lungenflügeldurchschuss im Krankenhaus. Sie haben auf Gerkhan gezielt gehabt! Ihren besten Freund! Was bitte, sollen wir nicht verstehen?“
    „Ich wollte ihn nicht erschießen…ich wollte ihm nur drohen. Er sollte sich von mir fernhalten! Was bei Semirs Partner geschehen ist, kann ich nicht beschreiben. Ich hatte eine Art Blackout…ich wollte doch nur, dass mir niemand folgt! Niemand sollte damit reingezogen werden!“
    Ben presste die Lippen zusammen. Tränen liefen ihm über die Wangen.
    „Ich wollte nur, dass Semir sich hier nicht Gefahr bringt. Dass alle hier sich nicht in Gefahr bringen!“, rechtfertigte er sich.
    „Jäger, hinter diesem Fenster, steht Gerkhan und das wissen Sie. Und wissen Sie was, er glaubt Ihnen kein einziges Wort. Inklusive mir! Sie haben sich nie gemeldet und dann kommt Frau Brun extra aus der Schweiz mit Ihrem Phantombild! Wissen Sie was die Frau auf sich nimmt? Sie wollte mit uns Ihre Unschuld beweisen!“
    Ohne es zu wollen, fühlte sich Beatrice wie ein Scheidungskind, das vor seinen streitenden Eltern stand.
    „Ich bin unschuldig“, presste Ben hervor, „ich habe die Beiden nicht umgebracht. Und Nina erst Recht nicht!“
    „Warum sind Sie dann nicht zu uns gekommen? Jäger ich will antworten!“ Langsam konnte man Kims Ungeduld in der Stimme hören.
    „Ich bin doch hier! Ich bin hier! Oder sind Sie blind, Chefin!“, antwortete Ben und Kim lachte falsch auf, stand auf und schüttelte fassungslos mit dem Kopf.
    „Nennen Sie mich nicht mehr so, Jäger, Sie nicht!“

    „Jäger…Sie hätten früher kommen müssen. Wir haben neben Ihrer toten Freundin zwei weitere Tote, die durch Ihre verstorbene Freundin in etwas geraten sind.“, fasste Beatrice zusammen.
    Ben sagte nichts, sondern starrte auf den Boden. Beatrice seufzte und nahm aus der Mappe, Bens altes Handy hervor.
    „Das haben wir im Bandraum gefunden. Sie wollten Semir schon einmal anschreiben und das vor nicht allzu langer Zeit…“
    Doch Ben erwiderte wieder nichts.
    „In einem kleinen Haus, wartet ein kleines Mädchen, zusammen mit ihrer größeren Schwester auf Ihren lieben Onkel Ben. Sie haben mir gestern erzählt, wie sehr Sie ihn vermissen und hoffen, dass er bald zurückkommt. Wissen Sie was ich geantwortet habe?“
    Zum ersten Mal hob Ben seinen Kopf wieder und auch Kim, sah Beatrice neugierig an.
    „Ich habe Ihnen gesagt, dass ich nicht weiß, wann er zurückkommt. Das ihr Vater von ihm berichtet hatte und ihn als guten Mann beschrieben hatte. Sie stimmten mir zu und schwärmten nur zu von Ihnen. Und nun sehe ich ein gebrochenes Nichts. Ein Niemand, der die zwei Mädchen zum Weinen bringen würde, aus Enttäuschung und Wut. Auch wenn Sie klein sind würden Sie verstehen, was Ihr geliebter Onkel gemacht hat.“
    Ben schüttelte mit dem Kopf. „Hören Sie auf, das ist so etwas von billig!“, flehte er und Beatrice verschränkte die Arme. Sie lehnte sich vor.
    „Es gab auch noch ein anderes Mädchen, vor vielen Jahren. Es wurde von Ihnen gerettet, konnte sich nie bedanken. Sie hoffte, dass der gebrochene Unterarm des Mannes verheilt war und es ihm gut ging. Das Mädchen ist inzwischen erwachsen, sitzt vor Ihnen und spürt tief in sich drin den 13 Jährigen Teenager, der ungläubig durch die Seele starrt.“
    „HÖREN SIE AUF!“, schrie Ben aus voller Kehle und schlug mit den gefesselten Händen auf den Tisch. Seine Halsader war sichtlich angespannt und sein Gesicht hatte eine rötliche Farbe angenommen. Die Tränen wirkten beinahe silbern, auf der Haut.


    Noch einmal wollte Semir hinterherrennen, doch dieses Mal reichte nur ein ermahntes Ziehen von Beatrice.
    „Nicht…“, flüsterte sie und Semir trat heftig gegen einen Mülleimer, der im hohen Bogen durch das ganze große Büro flog.
    „Der lügt doch, bis sich die Balken biegen!“ Beatrice bemerkte, wie stark Semirs Stimme nun zitterte.
    „Semir…“
    „Wenn ich da reingehe, bringe ich ihn nur um…das wäre nicht der Sinn…Beatrice…hol alles aus ihm raus, was du kannst! Bitte! Und nimm mich nicht als Beispiel. Nutzt deine stille, schweizerische Seite dafür…“ Beatrice ging auf ihn zu und legte beide Hände auf seine Schultern. „Das werde ich...wenn du mir versprichst, von draußen zuzusehen. Aber nur, wenn du die Ruhe behältst! Wenn ich weiß, dass du zuschaust, schaffe ich das! Aber eben, du musst Ruhe bewahren!“
    „Dafür wird die Krüger schon sorgen. Du siehst, was für Bärenkräfte sie haben kann, wenn sie sauer ist!“
    Die Beiden gingen in das Büro und sammelten alles zusammen, was sie haben. „Wir haben noch kein Tatortfoto von Voos.“, bemerkte Semir und Beatrice nahm ihr Handy hervor. „Bevor ich zu euch kam, habe ich noch eins gemacht! Ist zwar leicht verwackelt, aber es tut seinen Zweck.“, sagte sie und legte das Handy auf die Mappe, die sie und Semir provisorisch zusammengestellt hatten.
    „Ich liebe Schweizer und ihre Pingeligkeit!“, atmete Semir erleichtert auf und führte Beatrice zum Verhörraum, wo Kim bereits davor stand.
    „Gerkhan, sind Sie bereit?“ Semir nickte. „Ich habe versprochen, mich zusammenzureißen und werde hier stehen bleiben“, versicherte er und Kim nickte skeptisch. „Brun, wir gehen gemeinsam rein! Ich habe ebenfalls noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen!“, verkündete Kim.
    „Ist mir nur Recht“, stimmte Beatrice zu und betrat mit Kim den Verhörraum.


    Am nächsten Morgen erschienen Beatrice und Semir punkt acht Uhr in der PAST, wo Kim Krüger an Susannes Schreibtisch saß.
    „Sie übernehmen, Susannes Arbeit?“, begrüßte Semir sie erstaunt. „Dorn hat genug zu tun. Sie ist schon wieder zu Freund gefahren, um sich die neusten Ergebnisse abzuholen. Außerdem sind wir momentan stark unterbesetzt. Also krümme ich hier meine Finger wund.“ Semir nickte verstanden und begab sich mit Beatrice ins Büro.
    „Wollen wir am Mittag zu Paul fahren?“
    „Ja, er würde sich sicher freuen“, antwortete Beatrice auf Semirs Frage, bemerkte aber, wie dieser jegliche Gesichtsfarbe verlor, die Augen weit aufriss und hörte hinter sich Kim Krüger schreien, wie sie jemanden befahl, auf den Boden zu gehen und sich nicht zu bewegen.
    Beatrice drehte sich um und sah mit weit aufgerissenen Augen, wie Ben Jäger auf die Knie ging und die Hände hinter dem Kopf hielt.
    „Was zum…was zum Teufel macht er hier?“ Beatrice zog ebenfalls ihre Pistole aus dem Halfter und Semir folgte ihr, ebenfalls mit der Waffe im beidhändigen Anschlag.
    Sie gingen aus dem Büro, wo Kim sich hinter Ben befand und ihm Handschellen anlegte. Dieser verzog das Gesicht und Semir erkannte einen dicken Verband am Oberarm, der durch den pechschwarzen Pullover drückte.
    Ohne ein Wort, zog Kim Ben nach oben und dieser blickte Semir stumm an. Dieser steckte wieder die Waffe in den Halfter, ging auf seinen ehemaligen Partner zu, holte aus und traf ihn mit voller Wucht mit der geballten Faust am Kiefer.
    Während Ben kurz einen spitzen Schrei ausstieß, rieb sich Semir über die geschundenen Fingerknöchel.

    „Du mieses Schwein! Was fällt dir ein, hier einfach reinzuplatzen! Schämst du dich nicht? Schämst du dich nicht du mieser…“ Beatrice konnte gerade noch ihre Waffe einstecken und Semir zurückhalten, bevor dieser wieder auf Ben zu rennen konnte.
    „SEMIR DAS BRINGT NICHTS!“, schrie sie und drückte Semir an die Wand. „Das bringt rein gar nichts“, flüsterte sie nun und blickte Semir tief in die Augen.
    „Deine neue Partnerin? Bildest du jetzt schon Kinder aus? Oder was ist passiert Semir?“, fragte Ben keuchend und Beatrice funkelte ihn an. „Sein Partner liegt gerade im Krankenhaus, da Sie ihn niedergeschossen haben! Sie verdammter Vollidiot!“, giftete sie und zum ersten Mal, zeigte sich eine Regung in Bens Gesicht.
    „Was? Das war keiner von der…“
    „…ich bin die Gesandte von der Schweizer Polizei! Ich dachte, Sie hätten sowas wie Recherche in Ihrem Beruf gelernt!“, funkte Beatrice Ben sofort ins Wort und dieser konnte seinen Mund nicht mehr schließen.
    „Hattest du Spaß daran, ihm eine Kugel durch die Lunge zu jagen? HATTEST DU?! DU HAST ES DOCH GENOSSEN!“, schrie Semir und wollte sich wieder von Beatrice losreißen, doch die Schweizerin brachte all ihre Kraft auf.
    „DU GENIESST ES DOCH, DIE LEUTE AUSZURAUBEN UND ZU TÖTEN!“
    Ben schüttelte auf Semirs Vorwurf energisch mit dem Kopf. Etwas hatte sich in der kalten Miene geändert gehabt.
    Ben wirkte wie ein Kind, dass zu Unrecht von seinem Vater beschuldigt wurde und kurz davor war, weinend wegzurennen.
    „Nein, ich habe Kofler und Voos nicht umgebracht…“, flüsterte er kaum hörbar.
    „Du lügst doch!“, zischte Semir und zum ersten Mal hatten sich Tränen in seinen Augen gesammelt. Nicht aus Trauer, sondern aus reiner Wut und Enttäuschung. Seine Stimme war noch immer glasklar und schneidend, wie ein heißes Messer.
    „Ich lüge nicht, Semir ich lüge nicht. Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich lüge nicht!“, antwortete Ben und Kim drückte ihn nach vorne. „Das werden wir noch sehen. Brun, Sie bereiten das Verhör vor. Und Gerkhan, Sie fahren erst mal runter!“ Mit diesen Worten verschwand sie mit Ben hinter den Mauern, der sich nicht zu wehren schien.


    Als Ayda dann ebenfalls Zuhause war, rief Andrea alle an den Tisch und nach einem ausgiebigen Abendesse, und den vielen Nachfragen der zwei jüngsten Gerkhans nach Beatrice Herkunft und ihrer Arbeit, wurde diese dann auch noch von Lilli auserkoren, ihr die Gutenachtgeschichte vorzulesen, während Andrea und Semir den anderen gute Nacht wünschte. Als Beatrice die Geschichte fertig vorgelesen hatte, verabschiedete sie sich von Lilli, ließ Andrea und Semir zu ihr und ging dann hinunter ins Wohnzimmer.
    Es dauerte keine fünf Minuten, bis Andrea und Semir nachkamen.
    „Tut mir leid, sie sind halt sehr neugierig!“, entschuldigte sich Andrea und Beatrice winkte ab. „Ich habe zwei Patenkinder die noch Kleinkinder sind. Ich bin einiges gewohnt!“
    Semir und Andrea setzten sich zu Beatrice an den Esstisch.
    „Danke, dass ich hier übernachten darf.“, sagte Beatrice leise und Andrea zuckte bloß mit den Achseln. „Als Semir mir erzählt hat, wo du dich unterbringen wolltest, habe ich sofort zugestimmt. Niemand sollte dort übernachten!“
    „Merke es mir, falls mich jemand fragt, ob er dort übernachten kann“, sagte Beatrice und blickte Andrea fragend an.
    „Habt ihr vielleicht einen Aschenbecher? Ich rauche draußen, das ist für mich keine Diskussion, aber ich will den Boden nicht mit Asche bedecken.“ Andrea nickte und wies zum Garten. „Steht direkt auf dem Tisch. So groß wie der ist, kannst du ihn nicht übersehen. Bis jetzt, hat es jedenfalls niemand getan.“ Beatrice nickte dankend und ging in den Garten auf die bepflasterte Terrasse und zündete sich eine Zigarette an.

    Semir zog sein Handy aus der Hosentasche als es vibrierte. „Krüger“, kündigte er Andrea an und diese zeigte ihm gestisch, dass er abnehmen soll.
    „Chefin“, kündigte er sich an und wartete ab. Immer wieder nickte er und Andrea konnte in seiner Mimik nicht lesen, um was sich das Gespräch genau handelte. Manchmal ärgerte sie sich über das Können ihres Mannes, sich nichts anmerken zu lassen.
    „Ich danke Ihnen…ja, versuchen Sie das auch…danke Frau Krüger. Bis morgen und gute Nacht.“ Semir hängte auf.
    „Und?“
    „Es waren natürlich alle geschockt über diese Nachricht. Besonders Susanne, die sofort eine Schonzeit von der Krüger beauftragt bekommen hat. Jenny und Hartmut natürlich, tun alles daran, um Bens Unschuld noch immer zu beweisen…sie wollen es nicht wahrhaben…und ich kann sie verstehen.“
    „Ich kann es ehrlich gesagt auch nicht verstehen, Semir. Ich hasse diesen Gedanken. Er macht mich wahnsinnig.“
    „Irgendwie bin ich froh, dass das Dieter und Hotte nicht mehr miterleben müssen. Das hätte denen das Herz gebrochen.“ Andrea nahm Semirs Hand und strich darüber. „Die schauen jedoch von da oben, dass dir nichts passieren wird. Und bei Paul achten sie, dass er schnell wieder gesund wird. Du kennst die Beiden. Wenn sie sich mal einer Sache angenommen haben, dann richtig. Also mache ich mir da keine Sorgen.“
    Semir konnte sich zu einem traurigen Lächeln abmühen.
    „Vielleicht…hoffen wir das Beste!“ Andrea nickte auf Semirs Satz hin und stand auf. „Wir sollten auch langsam ins Bett gehen. Morgen wird für euch ein harter Tag! Ich habe bei der Arbeit angerufen und Urlaub genommen. Ich kann momentan sowieso nicht klar denken.“
    „Das verstehe ich. Ich gehe noch kurz zu Beatrice und komme dann nach“, stimmte Semir zu und Andrea ging die Treppen hinauf zu den Schlafzimmern.

    Semir ging in den Garten und fand Beatrice vor, wie sie sich gerade eine zweite Zigarette anzündete.
    „Hätte niemals gedacht, dass du rauchst!“ Auf Semirs Bemerkung hin, musste die Angesprochene grinsen.
    „Das tun viele nicht. Aber ich bin auch mehr der Stressraucher. Ich kann gut auch tagelang ohne auskommen! Aber momentan verspüre ich großen Stress und der lässt sich, leider, nur mit Nikotin besänftigen!“
    „Verstehe…musstest du schon Bericht erstatten? Ich meine, hast du deinem Chef Bescheid gegeben?“
    Beatrice schüttelte mit dem Kopf.
    „Die sind froh, wenn sie die Sache los sind. Wie gesagt, es wäre ein Konfliktbringer. Ein Deutscher, der einen Schweizer umbringt. Meine Landsleute jammern sowieso immer wieder rum, dass wir zu viele Deutsche im Land hätten. Und wenn dann rauskommt dass…außerdem sind wir Schweizer manchmal einfach hinterfotzig. Das ist eine Tatsache und lässt sich nicht abstreiten. Auch wenn wir das gerne tun. Hinterlistig bleibt hinterlistig.“
    „Du bist das aber nicht…“
    „…ich bin ja auch keine „reine“ Schweizerin, Semir. Ich habe noch deutsches Blut in mir. Und manchmal zeigt sich das wirklich deutlich. Ich bin direkter als andere, vertrage Kritik besser und bin auch manchmal laut. Das stößt auf. Aber ich bin’s mir gewohnt! Dann gehe ich und die Leute sind froh, wenn ich nicht mehr da bin!“
    „Aber ich, wir alle sind froh dass du jetzt da bist. Vor allem jetzt, was mit Paul passiert ist.“
    „Ich hab euch mit reingezogen Semir. Es war meine Idee. Da haue ich jetzt nicht ab, definitiv nicht! Das wäre feige!“


    „Ich kann’s immer noch nicht glauben“, flüsterte Andrea und schüttelte fassungslos mit dem Kopf. „Er hätte einfach abgedrückt, Andrea. Ohne zu zögern…ich fühle mich so ohnmächtig und wütend. Wegen mir liegt Paul nun im Krankenhaus…“
    „Semir, du hast nicht auf ihn geschossen!“
    „Aber ich habe ihn mit da rein gezogen! Ich hatte Beatrice und der Krüger gesagt, dass ich es ohne ihn nicht schaffen werde. Und sieh, wo mich mein egoistischer Gedanke hingebracht hat!“
    „Semir das war nicht egoistisch. Paul hätte dir so oder so geholfen. So hat er es mit einem OK gemacht. Und das er nun im Krankenhaus liegt, ist nicht dein Fehler! Sondern Bens! Was auch immer er für einen Grund dafür gehabt hat, er reicht nicht aus, um das erklären zu können!“
    Semir sah seiner Frau in die Augen und erblickte jede Ernsthaftigkeit, die sie mit jedem Wort ausgestrahlt hatte.
    „Was, wenn er noch Kofler und Voos umgebracht hat, Andrea. Dann ist mein ehemaliger bester Freund nicht nur ein versuchter, sondern auch Serienmörder. Und diesen Menschen hätte ich dann zum Patenonkel meiner jüngsten Tochter gemacht! Das würde ich mir nie verzeihen! Definitiv nicht“
    „Wir beide haben ihn dazu gemacht, Semir! Es war unsere gemeinsame Entscheidung! Und den Mann, den wir zu Lillis Patenonkel gemacht haben, ist nicht derselbe Mann, der diese unverständlichen Dinge tut! Das ist einfach nur ein…mieses…Ding…das dich umbringen wollte! Er wollte dich einfach…“
    Andrea stoppte und brach in Tränen aus, was Semirs Ohnmacht nur noch mehr steigen ließ. Seine starke, selbstbewusste Frau weinen zu sehen, brach ihm jedes Mal das Herz. Er nahm sie in den Arm und küsste sie innig.


    „Mama, warum deckst du denn noch für jemanden zusätzlich?“ Andrea blickte auf Lilli, die ihrer Mutter das Besteck übergab und ihr half, den Tisch bereit zu machen. Wie immer, wenn es ihr Lieblingsessen, Spaghetti Bolognese, gab.
    „Weil Papa, jemanden eingeladen hat. Jemand, der gerade mit ihm arbeitet. Sie darf bei uns übernachten! So wie es deine Freundin Karin letztens durfte.“, antwortete Andrea lächelnd und versuchte, ihre Maske zu wahren.

    Semir hatte sie angerufen gehabt und alles berichtet. Er entschuldigte sich tausend Mal bei ihr und flüchtete sich gar nicht, in einem Meer aus Ausreden.
    Doch je mehr sie von Semirs Erzählung gehört hatte, umso mehr verstand sie ihn. Es war eine bittere Pille, die sie alle zu schlucken hatten. Nachdem Telefonat war Andrea ungewollt in Tränen ausgebrochen und wurde von ihrer Stieftochter Dana aufgefunden, die durch einen Lehrerausfall, früher nach Hause gekommen war.
    Dadurch dass sich ihr Verhältnis sichtlich gebessert hatte, war es für Dana keine Hürde mehr, Andrea zu fragen, was denn los war.
    Die Beiden entschieden sich, Aida und Lilli daraus zu halten. Sie waren definitiv zu klein für eine solche schlimme Tatsache.
    Während Andrea also alles bereit machte, damit zusammen gegessen werden konnte, bereitete Dana ohne zu murren, das Gästezimmer vor.

    „Ah, wir haben also jemanden zu Besuch!“, schlussfolgerte Lilli und Andrea nickte. „Ja, und wie behandeln wir Besuch?“, fragte sie nach und Lilli grinste. „Nett und von der besten Seite“, antwortete sie und Andrea stupste ihrer kleinsten Tochter auf die Nase. „Richtig!“, bestätigte sie und sah auf, als sich die Türe öffnete.
    „Papa!“, rief Lilli begeistert und rannte vom Esszimmer, zum Eingangsflur, wo sie Semir auf die Arme sprang und ihm tausende, kleine Küsse auf die Wange gab.
    „Hey, mein Schatz! Ich freue mich auch, dich wiederzusehen.“, lächelte Semir und half Lilli wieder auf den Boden. Diese sah Beatrice und ging sofort zu ihr. „Du musst unser Besuch sein. Ich heiße Lilli!“ Beatrice lächelte und schüttelte die Hand, die Lilli ihr entgegenstreckte. „Freut mich sehr Lilli. Ich heiße Trix.“, stellte sie sich vor und danach zog Lilli sie in das Wohnzimmer.
    „Wir machen gerade Abendessen! Meine größte Schwester Dana, macht gerade dein Zimmer fertig und Aida, meine andere, große Schwester, sollte bald vom Turnunterricht zurück sein.“, erklärte Lilli und zeigte auf Andrea, als diese das Wohnzimmer betrat. „Und das ist meine Mama!“ Andrea wuschelte ihrer Tochter durch das blonde Haar und ging dann auf Beatrice zu.
    „Andrea, freut mich sehr.“
    „Beatrice, aber du kannst mich Trix nennen.“, entgegnete Beatrice und Andrea nickte. „Schweizer Form deines Spitznamens, oder?“
    „Genau“, stimmte Beatrice zu und sah eine junge Frau, die Treppen hinunterkommen. „Sie müssen Frau Brun sein“, sagte sie anständig und streckte die Hand hin. „Dana Gerkhan. Ich bin Semirs Tochter und Andreas Stieftochter!“ Beatrice schüttelte die Hand. „Du kannst mich ruhig Trix nennen, Dana. So alt bin ich auch wieder nicht.“, sagte Beatrice und merkte, wie erleichtert Dana war.
    „Lilli, zeigst du mit Dana, Beatrice das Zimmer?“ Lilli nickte und zog die beiden Angesprochenen hinter sich her, während Semir mit Andrea alleine zurückblieb.


    Semir war erschrocken, wie leise und zitternd Pauls sonst so starkes Organ war.
    „Hast du den Typen gekriegt?“ Semir schüttelte auf Pauls Frage mit dem Kopf.
    „Nein, er ist mir entwischt. Er sprang aufs nächste Dach und war weg. Außerdem war mir wichtiger, dass du in Sicherheit kommst! Da konnte ich nicht hinterherrennen!“ Semir fuhr mit dem Daumen über Pauls Handrücken.
    „Ich hätte besser aufpassen müssen. Nun müssen wir wieder von vorne anfangen! Das tut mir Leid…“, flüsterte Paul und verzog das Gesicht, während er scharf einatmete.
    „Ich denke, dass reicht fürs Erste, Sie brauchen Schlaf und viel Ruhe, Renner! Wir kommen später nochmals vorbei.“
    Während Kim und Beatrice sich verabschiedeten, nahm Paul, so fest wie er konnte, Semirs Hand. „Bitte, kannst du noch kurz hierbleiben?“ Semir nickte. „Sicher doch!“, fügte er seiner Geste hinzu und deutete den beiden Frauen an, dass er nachkommen würde.

    Beatrice lief an Kim vorbei und schlug mit der flachen Hand gegen die Wand. „Wir müssen ruhig bleiben“, mahnte Kim sie und Beatrice nickte. „Ich weiß…aber…ich kam hier her, weil ich meinen ehemaligen Lebensretter beschützten wollte. Ihm danken wollte und sagen, was er für mich getan hat. Weil ich euch helfen wollte, die Unschuld eures ehemaligen Mitarbeiters zu beweisen. Und nun…liegt Paul schwerverletzt hier im Krankenhaus, weil Jäger ihn…er hat ihn einfach niedergeschossen, Frau Krüger! Ich glaube Semir das! So etwas würde er nicht einfach erfinden!“ Beatrice presste die Lippen zusammen und atmete tief durch. Kim konnte eine Träne erkennen, die aus Beatrice Augenwinkel floss.
    „Er hätte sterben können, Frau Krüger. Sie haben den Arzt gehört. Es hätte nicht mehr viel gebraucht!“
    „Das weiß ich, ich bin ja zum Glück nicht taub…“, begann Kim, lief auf Beatrice zu und nahm ihre Arme in ihre Hände.
    „Aber solange wir nicht wissen, warum und wieso, können wir uns nicht von unseren Emotionen leiten lassen. Glauben Sie mir, ich würde hier am liebsten alles kurz und klein schlagen und schreien, so laut es meine Lungen ermöglichen. Aber das können wir nicht. Sie werden es noch verstehen Beatrice, aber in diesem Beruf, ist alles möglich. Sie können jemanden verlieren, oder vor eine Wahrheit gestellt werden, die ihnen schier das Herz zerreißt.“
    Beatrice blickte in Kims Augen und sah den Schmerz, der diese Frau durchgemacht haben musste.

    „Was ist denn?“, fragte Semir und Paul feuchtete seine Kehle an. „Er war’s oder? Es war Jäger…der Mann, der aus Voos‘ Büro gestürmt kam.“ Semir schloss die Augen und nickte. „Er wollte mich eiskalt erschießen, Paul und dann hat er seinen Fokus auf dich gelegt. Ich hätte dir nicht befehlen sollen, dass Feuer einzustellen…das war dumm…“
    „Semir…“
    „…ich weiß…hör zu Paul. Was da geschehen ist tut mir unendlich leid und ich schwöre dir, ich gebe keine Ruhe, bis wir Ben und das alles aufgeklärt haben! Es soll nicht noch jemand wegen mir hier liegen.“
    Paul schüttelte langsam mit dem Kopf. „Tue bitte nichts, was dir schaden könnte, Semir. Ich möchte nämlich noch lange mit dem Mann zusammenarbeiten, der mir als Kind meinen Weg gezeigt hat!“
    Semir umfasste Pauls Hand fester. „Wird‘ du bitte wieder gesund. Um alles andere, brauchst du dir keine Gedanken zu machen.“
    Nach diesem Satz ließ Semir Pauls Hand los und ging aus dem Zimmer.

    Semir lief auf die beiden Frauen zu. „Wer sagt’s unseren Mädels?“, murmelte er und Kim hob den Kopf. „Das ist meine Aufgabe, Gerkhan. Genauso wie das Anordnen der KTU und des Gerichtsmediziners. Ich schlage vor, dass Sie und auch Beatrice, für heute Schluss machen. Sie brauchen beide Zeit und Ruhe, um diese neue Tatsache zu verarbeiten. Außerdem würden sich sicher vier Damen freuen, wenn Sie sich Zuhause wieder blicken lassen! Ich will Sie beide, vor acht Uhr morgen nicht sehen!“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Kim und verließ den Flur.
    „Sie hat nicht ganz unrecht, Semir“, durchbrach Beatrice die Stille und Semir nickte zustimmend. „Ich weiß…du hast eine Bleibe?“
    „Hab ein Zimmer in der Jugendherberge in Hürth gekriegt…“, antwortete Beatrice und Semir verzog angeekelt das Gesicht.
    „…das tust du dir nicht an! Wir haben ein Gästezimmer. Außerdem, wäre ich glaube ich ziemlich froh, jemanden bei meiner Familie zu wissen, der mir helfen kann, sie zu verteidigen. Du hast dein Gepäck wo?“
    „Im Kofferraum meines Wagens. Der steht bei der PAST.“, antwortete Beatrice und Semir schob sie leicht nach vorne. „Dann fahren wir dorthin und holen deine Sachen ab. In der Zwischenzeit kannst du dieser Herberge anrufen und dein Zimmer abbestellen!“


    Es dauerte zwei Stunden, bis ein Arzt aus dem Operationssaal kam und das Trio ansah. „Ich nehme an, Sie gehören zu Renner.“
    Kim nickte und stellte sich vor die Anderen. „Krüger, ich bin seine Vorgesetzte. Gerkhan sein Partner sowie Brun, eine Kollegin von uns, die in dem Zwischenfall ebenfalls mitverwickelt war.“
    Der Arzt nickte und zupfte seinen Kittel zurecht.
    „Wie gesagt. Renners linker Lungenflügel wurde durchschossen und schwer verletzt. Es entstand ein Pneumothorax, den wir mit einer Drainage, aufhalten konnten. Außerdem hatte er viel Blut verloren. Er ist uns einmal während der OP ist Kammerflimmern geraten, aber wir konnten ihn zurückholen. Anscheinend will er den Planeten noch nicht verlassen. Er hat sehr gut mitgekämpft und sein Alter kam ihm natürlich auch zu Gute. Der Mann braucht trotzdem nun jegliche Ruhe, die er gebrauchen kann. Ich muss Ihnen wohl nicht mitteilen, dass er für die nächsten paar Wochen ausfällt!“
    „Nein, müssen Sie nicht“, entgegnete Kim und blickte ihre zwei Kollegen an, die ebenfalls karg an Worten waren.
    „Sie können zu ihm. Er befindet sich im Aufwachraum und kommt langsam zu sich. Aber bitte, nachsichtig. Er wird wahrscheinlich von den Medikamenten noch benebelt sein und die Schmerzen sind sicherlich auch nicht gerade förderlich! Kommen Sie!“ Der Arzt lief voraus, während Kim, Semir und Beatrice hinterherliefen. Sie wurden wie angekündigt in den Aufwachraum gebracht.
    Als sie ankamen sahen sie wie die verschiedenen Betten wurden durch Vorhänge getrennt wurden und ein reines Konzert an Pieptönen war zu vernehmen. Überall war der Gestank von Desinfektionsmittel und Medikamenten zu vernehmen. Ein stilles, ungewohntes Jammern, erklang von vielen, die anscheinend ebenfalls erst wieder zu Bewusstsein gekommen waren.
    Der Arzt wies mit einer Handbewegung zu einem Bett und verabschiedete sich mit einem leichten Winken, um die Ruhe nicht zu stören.

    Beatrice ging voraus, um die anderen Beiden zum Laufen zu animieren.
    Sie erblickten Paul, wie er sie mit müden Augen ansah und versuchte zu Lächeln. Er wurde mit einer Sauerstoffbrille beatmet und war mit etlichen Kabeln und Schläuchen übersäht, die zu Geräten und Infusionen gehörten.
    Der junge Polizist war bleich, die Augen rot umrandet und die Lippen hatten eine blasse Farbe, die einen leichten, violetten Schimmer hatte.
    Beatrice ging auf ihn zu und küsste ihn auf den Haarschopf. Es war das erste Mal, dass sie jemanden so sah und sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Jedoch versuchte sie zu lächeln, was in einer seltsamen Grimasse endete.
    „Hey, keine Tränen. Wenn ich aus Sympathie mitweinen muss, reißen mir die Nähte auf und die Sauerei wollt ihr wahrscheinlich nicht sehen…“, lächelte Paul mit heiser Stimme und wendete seinen Kopf, als Semir sich auf die andere Seite des Bettes begab. Er nahm Pauls Hand und spürte den Netzverband deutlich auf seiner Haut, die, die Kanüle an Pauls Hand festhielt.
    „Wie geht es dir?“, fragte Semir langsam und leise und Paul schloss für einen kurzen Moment die Augen.
    „Verwirrt, müde und hab‘ Schmerzen.“, antwortete er und Semir nickte verstanden.
    „Wissen Sie noch, was passiert ist?“, fragte Kim und lehnte vorüber an das Ende des Bettes, um den Augenkontakt mit Paul wahren zu können.
    „Nur…dass Semir und ich einen Verdächtigen verfolgten. Als dieser auf ihn schießen wollte, wollte ich wiederum das Feuer eröffnen, doch dann spürte ich einen Schlag und alles war schwarz. Das nächste was ich weiß, dass mich der Arzt angeschaut hatte und ankündigte, dass ihr nun kommen würdet…“


    Kim nickte verstanden. „Gut, gehen wir!“ Sie erschrak, als sie Beatrice am Arm packte und zurückzog. „Tut mir leid, aber da ist etwas, das Sie noch wissen sollten.“ Kim legte ihren Kopf schief und ihre Augen zeigten deutlich ihre Ungeduld, die sie zu unterdrücken versuchte.
    „Der Täter…ist kein Unbekannter…“ Kim konnte Beatrice Mimik deutlich lesen und schüttelte fassungslos mit dem Kopf.
    „Nein, Brun, das kann nicht ihr ernst sein! Für Witze ist es wirklich der schlechteste Zeitpunkt!“
    „Ich will’s ja auch nicht glauben, aber Semir hat es mir auf dem Weg zum Krankenhaus erzählt. Es besteht kein Zweifel! Er kann sich nicht irren. Nicht seiner Reaktion zufolge!“
    Beatrice löste ihren Griff um Kims Arm, da sie spürte, wie die Chefin der Autobahnpolizei zitterte. „Das ist noch nicht alles…wenn Paul nicht eingegriffen hätte, wäre es Semir, der nun im OP liegt!“
    Nun rissen sich Kims Augen ins Unermessliche auf.
    „Er hat…“
    „Er hat nicht nur so getan, er hat direkt auf ihn gezielt und war bereit, abzudrücken.“
    Kim setzte sich auf die metallene Bank, die sich vor dem Krankenhaus befand und schüttelte mit dem Kopf.
    „Wie geht es Gerkhan?“
    „Stinksauer. Ich musste ihn beruhigen, als der Arzt nach dem Schockraum seine erste Diagnose durchgegeben hatte. Aber mir geht’s auch nicht besser…“
    Kim bemerkte, wie Beatrice Zigarettenhand ebenfalls zitterte und der bläuliche Rauch immer wieder auf und ab ging.
    „Das heißt, dass unsere Bemühungen vielleicht umsonst waren?“ Beatrice nickte auf Kims Frage. „Scheint so“, flüsterte sie und Kim versteckte ihr Gesicht in den Händen. „Ich fass es nicht“, zischte Kim wütend und schnaubte noch durch die Fingerritzen hindurch. „Ich rauche normalerweise während dem Dienst auch nicht…aber nun hatte ich eine gebraucht. Meine Kollegen würden mir wieder sagen, sie muss den Dampf mit Dampf bekämpfen.“
    Kim hob ihr Gesicht aus den Händen und schluckte schwer. „Gehen wir zu Gerkhan!“
    Beatrice drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und desinfizierte sich die Hände, bevor sie sich zum Operationsbereich begaben und Semir vor der Türe fanden.
    Er hielt Pauls persönliche Sachen an seinen Körper gepresst und starrte aus dem Fenster.

    „Gerkhan“, rief Kim und Semir drehte sich zu den beiden Frauen um. „Chefin…danke, dass Sie gekommen sind“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Ist es wahr?“, fragte Kim langsam nach und Semir nickte.
    „Es besteht keinen Zweifel, Chefin. Diese Augen würde ich überall erkennen! Selbst als Blinder noch! Es war Ben, der auf Paul geschossen hat und aus Voos Büro geflüchtet ist.“
    Kim schlug die Hände über den Kopf. „Er wollte Sie töten Gerkhan! Ist Ihnen das bewusst? Er hat auf Sie gezielt! Wenn Renner nicht reagiert hätte…dann…“ Semirs Blick verdunkelte sich und er drückte Pauls Sachen noch fester an seine Brust. „Ich weiß…und ich schwöre Ihnen Chefin, bis ich ihn nicht hinter Gittern habe und die Wahrheit herausfinde, werde ich keine Ruhe mehr tun! Ben soll dafür bezahlen, mit allen Mitteln, die das Gesetz für ihn bereithalten! Ich bin ein enger Freund, ein treuer Freund, aber, so sehr Sie mir das vielleicht nicht glauben werden, auch ich habe meine Grenzen. Und die hat er damit definitiv überschritten!“


    Kim staunte nicht schlecht, als ihr Handy klingelte und Beatrice Bruns Nummer darauf erschien. Die Chefin der Autobahnpolizei stand zwischen den Schreibtischen von Jenny Dorn und Susanne König. „Trix? Jetzt schon?“, erkannte Susanne am Blick ihrer Chefin und diese nahm mit einem Achselzucken ab.
    „Brun, Sie müssen nicht beweisen, dass die Schweizer nicht so langsam sind, wie es der Volksmund sagt. Wir glauben…“
    Kim hielt inne und Susanne, sowie Jenny konnten erkennen, wie das Gesicht Kims sich verdunkelte. „Wie? Wo?“, fragte sie langsam nach und ihre Nervosität schien auf die beiden anderen Frauen abzufärben.
    „Wie ist sein Zustand? Ich verstehe…“ Jenny stand langsam auf und begab sich neben Susanne, während Kim immer wieder nickte.
    „Gut…ich komme sofort…! Danke für die schnelle Information, Brun!“ Kim hängte auf und bemerkte Jennys und Susannes fragende Blicke.
    „Renner wurde angeschossen. Man hat ihn sofort ins St. Elisabeth gebracht, wo er nun notoperiert wird.“
    „Was?“, fragte Jenny geschockt nach und auch Susanne schüttelte ungläubig mit dem Kopf. „Es sieht nicht gut aus. Ein Lungenflügel wurde getroffen und es gab schwere, innere Blutungen. Man versucht alles…kann aber für nichts garantieren!“, erklärte Kim weiter und Susanne hielt sich eine Hand vor den Mund, um ihren Schock zu symbolisieren.
    „Was können wir tun?“, fragte Jenny besorgt nach. „Machen Sie weiter! Mehr können Sie momentan nicht machen! Ich fahre ins Krankenhaus und werde Sie auf dem Laufenden halten.“ Kim ging in ihr Büro, packte ihren Mantel und verließ die PAST.
    Die Verkehrsregel kaum beachtend, fuhr sie im eiligen Tempo zum St. Elisabeth Krankenhaus und parkte ihren Wagen sehr unsymmetrisch auf einen Platz und rannte zum Eingang, wo Beatrice stand und eine Zigarette rauchte.
    „Brun!“, machte sich Kim bemerkbar und die Angesprochene hob sofort ihren gesenkten Kopf. „Super, Sie sind sofort gekommen!“, sagte Beatrice erleichtert und Kim sah sie eindringlich an. „Was ist passiert? Und wo ist Gerkhan?“
    Auf die Fragen hin holte Beatrice tief Luft.

    „Wir wollten Voos anhören gehen, wie abgemacht. Als wir uns am Schalter angemeldet hatten, hörten wir einen lauten Knall und sahen jemanden aus Voos Büro flüchten. Während Semir und Paul die Verfolgung des Flüchtenden aufgenommen hatten, wurde ich von Semir zu Voos‘ Büro beordert und fand den Mann, erschossen vor. Direkter Schuss in den Kopf. Also rannte ich hinterher, da ich Semir und Paul helfen wollte. Als ich jedoch oben ankam, beugte sich Semir bereits über Pauls Körper, der blutüberströmt war. Ich habe sofort den Notruf gerufen, sie zum Dach geführt, wo alles geschehen war und habe mich um Semir gekümmert. Als wir hier angekommen sind, ist Semir sofort dem Notfallteam gefolgt und wartet nun vor dem Operationsraum.“


    „Keinen Schritt weiter!“, mahnte Semir und lief parallel mit Paul auf den Vermummten zu, der noch immer den Rücken zu ihnen gedreht hatte.
    „Umdrehen!“, befahl Paul und tatsächlich, tat die Person wie ihr befohlen. Semir ließ beinahe seine Waffe vor Schreck fallen, als er die leeren, braunen Augen sah. Er würde sie überall erkennen.
    Jedoch konnte er sich fangen und hielt die Waffe weiterhin oben. „Nicht mehr schießen, Paul! Ich wiederhole, nicht schießen!“, sagte er schroff und Paul zuckte gar ein wenig zusammen, lockerte aber seinen Griff um den Abzug.
    „Verstanden“, murmelte er.
    „Auf den Boden, Arme hinter den Kopf.“, befahl Semir mit hartem Ton und die Person tat, wie ihr befohlen. Als sie jedoch mit den Armen, stützend auf dem Boden ankam, griff sie unter ihr Hosenbein und zog eine Waffe hervor. Ohne Skrupel richtete sie, sie direkt auf Semir.
    „AUF KEINEN FALL!“, schrie Paul und setzte die Waffe zum Schuss an, doch die Person war schneller. Sie drehte ihren Waffenarm und feuerte eine Kugel ab. Pauls Oberkörper zuckte zusammen und mit einem leisen Ächzen kippte er nach hinten zu Boden.
    „NEIN! PAUL!“, rief Semir und bevor er reagieren konnte, sprang die Person auf das andere Dach und verschwand hinter dem Gebäude, als sie die Feuerleiter benutzte.
    „Du mieses Schwein…warum…?“, keuchte Semir und drehte sich um, als er einen trockenen Huster hörte.

    Paul lag rücklings auf dem Boden. Sein ockerfarbener Pullover war an der linken Brustseite rot gefärbt.
    „Paul, nein! Junge!“ Semir kniete sofort zu seinem Partner herunter, hob den Oberkörper an und blickte Paul ins Gesicht.
    Die Augen waren geschlossen und aus dem leicht geöffneten Mund tropfte Blut. Ebenso aus den Nasenlöchern, lief der kirschrote Lebenssaft. „Nein…Paul, aufwachen! Sieh mich an! Paul!“ Semir hörte, wie sich jemand näherte.
    Gottverdami“, hörte er Beatrice und wendete seinen Kopf zu ihr. „Beatrice! Ruf sofort einen Krankenwagen! Schnell! Er wurde in die Brust getroffen und blutet schwer!“
    Die junge Frau nickte und nahm ihr Handy hervor. Sofort wählte sie die Notrufnummer und schrie beinahe ins Telefon, dass sich jemand beeilen sollte und sie hier einen Schwerverletzten hätten, der angeschossen wurde. „Ich bringe das Team hier rauf! Sobald sie da sind!“, kündigte sie an und rannte wieder vom Dach hinunter, während Semir Paul leicht schüttelte. „Paul, komm schon! Bei mir bleiben! Bleib bei mir Junge! Ich habe dir versprochen, dich zu beschützten! Das war nicht umgekehrt gedacht! Paul bitte!“
    Semir erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen, als Paul noch ein Kind war. Er hatte ihm damals versprochen, dass ihm nichts passieren wird. Ein Semir Gerkhan, hielt immer seine Versprechen, war sein Ausspruch damals. Und nun hielt er den blutüberströmten Paul in seinen Armen.
    Dieser rührte sich nicht und Semir drückte den leblos wirkenden Körper an sich. „Komm, bitte, du musst aufwachen“, zischte er und krallte sich an dem blonden Haar seines Partners fest.


    Das Bürogebäude von „Müller & Conrad“, war ein Kunstwerk moderner Architektur. „Alles aus Glas“, murmelte Paul beeindruckt, als er zusammen mit den Anderen ausgestiegen war. „Ich weiß ja nicht, ständig beobachtet zu werden, während der Arbeit?“, bemerkte Beatrice skeptisch und Semir zuckte mit den Achseln.
    „Warum nicht gleich zeigen, was die NSA sowieso schon weiß“, scherzte er und die Anderen liefen mit ihm zum Empfang, wo eine elegante Mittvierzigerin saß und das Trio begutachtete.
    „Willkommen bei „Müller & Conrad“. Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie mit gelackter Stimme und Semir zog seinen Ausweis hervor, was Paul und Beatrice ihm gleichtaten.
    „Hauptkommissare Gerkhan, Renner und Feldweibel Brun. Wir suchen einen gewissen Bruno Voos. Wir würden uns gerne mit ihm unterhalten.“, erklärte Semir und die Frau sah sie verwirrt an.
    „Ist was?“, fragte Beatrice.
    „Nun ja, Sie sind nicht die Ersten, die Bruno heute sehen wollen. Für einen einfachen Mitarbeiter, ist er heute sehr beliebt, was mich ehrlich gesagt ein wenig erstaunt. Vorhin kam gerade ein junger Herr und fragte nach ihm. Ich hab ihn zum Büro geschickt.“
    Semir blickte seine Kollegen mit großen Augen an. „Ist diese Person noch hier? Hat sie das Gebäude verlassen oder ist sie noch hier?“, fragte er eilig und bevor die Frau antworten konnte, knallte es in einer höllischen Lautstärke und eine Frau schrie panisch.

    Semir, Paul und Beatrice konnten sehen, wie eine vermummte Person einem Büro im oberen Stock gerannt kam. Sie trug eine Waffe und gab einen Warnschuss ab, damit die Menschen den Gang räumten.
    „Polizei, stehen bleiben!“, schrie Semir und nahm mit den anderen die Waffe hervor. Sie nahmen sie in beidhändigen Anschlag und rannten sofort auf die Treppe zu, die zum nächsten Stockwerk führte.
    „Trix, sieh du nach Voos!“ Beatrice schrie ein lautes „Verstanden“ und trennte sich von der Gruppe, während Semir und Paul weiterhin den Vermummten verfolgten.
    Die Jagd führte bis zum Dach des Gebäudes, das nahe eines anderen, gleichhohen Gebäudes stand, doch der Vermummte blieb vor dem Rand stehen, als Paul ihn, nach mehrmaligen Ermahnen, in den Arm schoss.
    Der Vermummte schrie auf, ließ seine Waffe fallen und griff sich an die blutende Stelle am Oberarm.


    „Hallo zusammen“, erklang es und Susanne kam hinein. Sie hielt eine kleine Papiertüte hinauf, aus der es köstlich nach frisch gebackenem Brot schmeckte.
    „Ich dachte, ihr habt sicher Hunger, denn wie ich euch kenne, seid ihr nach meinem Verschwinden nicht nach Hause gegangen.“
    Sie verteilte die frischen Semmeln unter den Leuten. „Wie lange waren Sie noch hier, Frau König?“, fragte Kim, als sie die leichten Augenringe Susannes bemerkt hatte.
    „Bis 24.00 Uhr…dann habe ich von meinem Nachwuchs, einen Protestkick erhalten und wurde von den Dreien nach Hause geschickt! Als sie von ihrer Durchsuchung, zurückgekommen waren“, antwortete Susanne auf Kims Frage.
    „Ja hallo, wir wollen ja nicht, dass du dein Kind unter deinem Schreibtisch bekommst!“, mischte sich Semir ein und Beatrice nickte zustimmend.
    „Bei aller Liebe Susanne, auch wenn meine Mutter Hebamme war, will ich das weitergegebene Wissen nicht einsetzten müssen!“, murmelte sie noch dazu.
    Susanne lächelte mit schüttelndem Kopf. Paul stand auf und bot ihr seinen Stuhl an, was sie dankend annahm und sich hinsetzte.
    „Hat sich Hartmut bereits gemeldet?“ Semir schüttelte auf Susannes Frage mit dem Kopf. „Der Junge gibt sein bestes, aber auch er ist in seinen Möglichkeiten eingeschränkt“, fügte er seiner Geste hinzu, „Jenny geht aber um acht Uhr zu ihm hin und holt die Ergebnisse ab. Nachdem sie die Beweise von deinen Kollegen erhalten hat.“ Beatrice gab ein kleines „Mhm“ von sich, da sie sich gerade einen kräftigen Biss ihrer Semmel gegönnt hatte und somit keine Redemöglichkeit mehr hatte.

    Als sie ihre Kaffeestunde zu Ende geführt hatten, erschien Jenny bereits mit einem großen Karton und betrat das Büro.
    „Und da sagt man immer, die Schweizer wären langsam“, knurrte sie und stellte die Kiste vor Semirs Schreibtisch ab, nachdem sie alle begrüßt hatte.
    „Oh, glaub mir, wenn wir was loswerden wollen, sind wir da ganz schnell“, bemerkte Beatrice sarkastisch.
    „Hartmut hat mir ebenfalls alles Wichtige mitgeteilt, was er bisher hat“, begann Jenny und verschränkte die Arme.
    „Das Blut im Schlafzimmer, was nicht von Nina Becker stammt, ist tatsächlich von Ben. Allerdings, laut Hartmut und dem Gerichtsmediziner, reicht die Menge nicht, als das er selbst ebenfalls ermordet worden ist. Hartmut vermutet eher, dass er flüchten konnte.“
    „Was wiederum bestätigt, dass er der mysteriöse Mann am Thuner Hafen gewesen sein könnte.“, murmelte Kim und nickte, um Jenny zu zeigen, dass sie fortfahren sollte.
    „Laut Gerichtsmedizin, ist Nina Becker schon seit beinahe anderthalb Wochen tot. Das trifft auch auf…na ja, auf ihr wisst schon was zu. Hartmut hat ebenfalls noch die Nummer verfolgt, die auf der Mailbox verzeichnet war. Also die Sprachnachricht.“
    Nun hoben sich die niedergeschlagenen Köpfe wieder.
    „Laut Hartmut kam sie von einem gewissen Bruno Voos. Mitarbeiter bei der Rüstungsfirma „Müller & Conrad“. Ein alter Schulfreund Beckers. Sie waren gemeinsam auf der Grundschule und hatten Miteinander stets Kontakt gehalten.“

    Semir hob eine Augenbraue.
    „Okay, was macht das für einen Sinn? Wieso hat er sie angerufen und panisch so viel erzählt?“
    „Ich hätte eher auch gedacht, dass Kofler der Anrufer gewesen sein muss“, bestätigte Paul Semirs Gedankengang, doch Jenny schüttelte mit dem Kopf.
    „Irrtum ausgeschlossen. Hartmut war sich sicher. Und die Firma hatte ihm die Nummer bestätigt.“, wiederholte sie nochmals. „Gut. Super gemacht Dorn. Gehen Sie bitte alle Beweise der Schweizer Kollegen durch und bleiben Sie mit Freund in Kontakt. König, Sie fahren dort weiter, wie bisher. Gerkhan, Renner und Brun, Sie fahren zu dieser Rüstungsfirma und suchen diesen Voos auf. Er wird uns sicherlich Antworten liefern können.“
    Alle nickten und während Susanne und Jenny zu ihren Schreibtischen gingen, packten Semir, Paul und Beatrice ihre Jacken und verließen die PAST, um mit Pauls Mercedes zur Rüstungsfirma zu fahren, die sich im Industriegebiet Kölns, nahe Hürth befand, was Pauls Navigationssystem angegeben hatte.


    Am nächsten Morgen fand Kim Krüger die drei Ermittler, schlafend in Semirs Büro vor, als die den Arbeitsplatz betreten hatte. Jeder war vor einer Arbeit gewesen und hatte den Kampf der Müdigkeit verloren gehabt.
    Sie ging wieder hinaus, ließ ein Tablett mit Kaffee aus der Maschine und ging zurück. Sie würde ihre Männer kennen. Belächelt, würde sie für die Aktion werden, doch es war ihr in diesem Moment egal. Auch wenn sie von außen her immer die Starke gab, so war ihr das Wohl ihrer Leute doch wichtig.
    Der Kaffeegeruch übernahm langsam die stickige Luft und die Köpfe begannen sich zu heben. „Morgen“, kam es knapp von Kim und sie legte das Tablett auf Semirs Schreibtisch. „Oh…Frau Krüger Sie sind meine Lebensretterin“, seufzte Semir und nahm direkt einen Becher entgegen.
    „Oh, nicht nur deine“, stöhnte auch Paul und nahm sich mit Beatrice einen Becher. „Wollen wir nicht übertreiben“, tat Kim die Sache ab und setzte sich auf den freien Gaststuhl.
    „Haben Sie etwa die ganze Nacht durchgearbeitet?“
    „Wir haben sämtliche Nachrichten von Bens altem Handy ausgedruckt und analysiert, nachdem wir seinen Bandraum durchgesucht hatten. Jedoch war sein Smartphone die einzige, heiß Spur. Und wir haben wirklich jeden, letzten Drumstick umgedreht.“, antwortete Paul und nahm sich einen kräftigen Schluck.
    „Und?“, fragte Kim neugierig.
    „Nur, dass er mich kontaktieren wollte, mehr nicht. Die anderen Nachrichten waren völlig belanglos. Textideen an seinen Manager in Amerika…aber die sind auf Englisch, was ich natürlich nicht verstehe!“
    Beatrice sah zu Semir.
    „Hast du die Texte noch?“, fragte sie und Semir nickte. „Sicher“, antwortete er und überreichte Beatrice den Stapel Papier.
    „Wollen Sie etwa einen Sinn darin suchen, Frau Brun?“, fragte Kim und Beatrice zuckte mit den Achseln. „Ich interessiere mich auch für Musik, aber ja, in erster Linie, hoffe ich etwas zu finden. Meine Großmutter mütterlicherseits war Engländerin. Vielleicht hilft mir ihr hartes Training ja was.“
    „Wenn du da was findest, kriegst du ein Bier von mir gezahlt“, murmelte Paul, als er sich sein Gesicht massierte und Beatrice lächelte.
    „Ich nehme dich beim Wort!“, sagte sie und setzte sich auf die Fensterbank, wo sie sich die Blätter mit Bens Songtexten auf den Schoss legte.
    „Was haben wir eigentlich für eine Uhrzeit? Ich habe überhaupt kein Zeitgefühl mehr…“, fragte Semir und Kim sah auf ihre Armbanduhr. „Halb sieben Uhr morgens…konnte nicht mehr schlafen! Genauer gesagt, habe ich wahrscheinlich genauso viel geschlafen wie sie alle.“

    Semir verstand sofort warum. Kim ging die Sache mit dem verlorenen Kind sehr nahe, da es sie an ihre eigene Vergangenheit erinnert hatte.
    „Sie kommen aber klar? Ich meine…Sie schaffen das?“, fragte er besorgt nach und Kim nickte. „Natürlich. Danke um Ihre Sorge, das ehrt, Gerkhan, aber ich schaffe das! Wir dürfen uns nicht von der Vergangenheit einlullen lassen. Ich denke, dass gilt für alle von uns. In diesem Fall müssen wir an das Hier und jetzt denken, dann kommen wir weiter“, entgegnete sie mit sanfter Stimme.

    Am nächsten Morgen fand Kim Krüger die drei Ermittler, schlafend in Semirs Büro vor, als die den Arbeitsplatz betreten hatte. Jeder war vor einer Arbeit gewesen und hatte den Kampf der Müdigkeit verloren gehabt.
    Sie ging wieder hinaus, ließ ein Tablett mit Kaffee aus der Maschine und ging zurück. Sie würde ihre Männer kennen. Belächelt, würde sie für die Aktion werden, doch es war ihr in diesem Moment egal. Auch wenn sie von außen her immer die Starke gab, so war ihr das Wohl ihrer Leute doch wichtig.
    Der Kaffeegeruch übernahm langsam die stickige Luft und die Köpfe begannen sich zu heben. „Morgen“, kam es knapp von Kim und sie legte das Tablett auf Semirs Schreibtisch. „Oh…Frau Krüger Sie sind meine Lebensretterin“, seufzte Semir und nahm direkt einen Becher entgegen.
    „Oh, nicht nur deine“, stöhnte auch Paul und nahm sich mit Beatrice einen Becher. „Wollen wir nicht übertreiben“, tat Kim die Sache ab und setzte sich auf den freien Gaststuhl.
    „Haben Sie etwa die ganze Nacht durchgearbeitet?“
    „Wir haben sämtliche Nachrichten von Bens altem Handy ausgedruckt und analysiert, nachdem wir seinen Bandraum durchgesucht hatten. Jedoch war sein Smartphone die einzige, heiß Spur. Und wir haben wirklich jeden, letzten Drumstick umgedreht.“, antwortete Paul und nahm sich einen kräftigen Schluck.
    „Und?“, fragte Kim neugierig.
    „Nur, dass er mich kontaktieren wollte, mehr nicht. Die anderen Nachrichten waren völlig belanglos. Textideen an seinen Manager in Amerika…aber die sind auf Englisch, was ich natürlich nicht verstehe!“
    Beatrice sah zu Semir.
    „Hast du die Texte noch?“, fragte sie und Semir nickte. „Sicher“, antwortete er und überreichte Beatrice den Stapel Papier.
    „Wollen Sie etwa einen Sinn darin suchen, Frau Brun?“, fragte Kim und Beatrice zuckte mit den Achseln. „Ich interessiere mich auch für Musik, aber ja, in erster Linie, hoffe ich etwas zu finden. Meine Großmutter mütterlicherseits war Engländerin. Vielleicht hilft mir ihr hartes Training ja was.“
    „Wenn du da was findest, kriegst du ein Bier von mir gezahlt“, murmelte Paul, als er sich sein Gesicht massierte und Beatrice lächelte.
    „Ich nehme dich beim Wort!“, sagte sie und setzte sich auf die Fensterbank, wo sie sich die Blätter mit Bens Songtexten auf den Schoss legte.
    „Was haben wir eigentlich für eine Uhrzeit? Ich habe überhaupt kein Zeitgefühl mehr…“, fragte Semir und Kim sah auf ihre Armbanduhr. „Halb sieben Uhr morgens…konnte nicht mehr schlafen! Genauer gesagt, habe ich wahrscheinlich genauso viel geschlafen wie sie alle.“

    Semir verstand sofort warum. Kim ging die Sache mit dem verlorenen Kind sehr nahe, da es sie an ihre eigene Vergangenheit erinnert hatte.
    „Sie kommen aber klar? Ich meine…Sie schaffen das?“, fragte er besorgt nach und Kim nickte. „Natürlich. Danke um Ihre Sorge, das ehrt, Gerkhan, aber ich schaffe das! Wir dürfen uns nicht von der Vergangenheit einlullen lassen. Ich denke, dass gilt für alle von uns. In diesem Fall müssen wir an das Hier und jetzt denken, dann kommen wir weiter“, entgegnete sie mit sanfter Stimme.


    Semir,

    Ich habe mich lange nicht gemeldet. Ich weiß, du hast es versucht…aber viel war geschehen und ich konnte die richtigen Worte einfach nicht finden. Du weißt, wie schlecht ich darin bin.
    Jedoch gibt es etwas, das mir auf dem Herzen liegt und ich sehe es als Grund an, unsere Verschwiegenheit endlich aufzuheben! Oder besser gesagt meine Verschwiegenheit, ich sollte auf dem Boden der Tatsachen bleiben.
    Nina und ich sind in freudiger Erwartung und als Patenonkel käme mir da nur einer in den Sinn. Du hast mir diese Ehre bereits erteilt gehabt…und ich möchte sie wieder mehr wahrnehmen und dir was zurückgeben.

    So, falls du mich noch sehen willst, so sind Nina und ich von Neujahr bis Ende Februar hier in Köln, um meine Familie einzuweihen. Und…ich würde gerne mit dir über alles reden. Außerdem könntest du mir in einer Sache behilflich sein…ich weiß es ist unverschämt, aber du bist der Einzige, dem ich in solchen Dingen vertrauen kann! Dein Bauchgefühl hat dich noch nie getäuscht! Und ich denke, dass sich mein türkischer Hengst schon längst wieder gefangen hat!

    So wie ich dich kenne bist du sicherlich längst mit Andrea wieder zusammengezogen und ihr zwei seid unzertrennlicher denn je!

    Liebe Grüße
    Ben

    Semir drückte, mit zitternder Hand, Beatrice das Handy gegen den Körper und als diese es entgegennahm, stürmte er aus der Halle. „Geh, ich kümmere mich darum“, sagte Beatrice zu Paul und dieser nickte dankend, als er Semir hinterherlief.
    „Allah kahretsin!“, schrie Semir mit aller Stärke und trat mit voller Wucht eine rostige Blechdose gegen die Wand. „Ich nehme an, deine Mutter hätte dir dafür den Mund mit Seife ausgewaschen.“, bemerkte Paul und Semir schnaubte. „Wer immer das Ben auch angetan hat, der wird, wenn ich mit ihm fertig bin, vier Oktaven höher singen, das schwöre ich dir!“
    „Semir, sich aufzuregen bringt jetzt auch nichts!“, versuchte Paul ihn zu beruhigen.
    „Das bringt nichts?!“, fragte Semir beinahe kreischend nach und Paul zuckte kurz unter dem hohen Ton zusammen.
    „Wir haben Beatrice versprochen die Ruhe zu bewahren. Wie soll sie den Fall bei uns halten können, wenn du hier den unbändigen Hulk spielst?“
    Semir atmete tief durch und verstand Pauls Standpunkt sehr gut.
    „Semir wir sind alle bei dir! Wir wollen dir helfen, das weißt du! Aber so kommen wir nicht weiter!“
    „Ich weiß“, murmelte Semir und ging auf Paul zu. „Ich hab einfach diese riesige Wut in mir! Das Ganze bringt mich noch um den Verstand!“
    „Das verstehe ich auch Semir, wirklich…“ Paul ging auf Semir zu und streckte eine Hand aus. „Aber gemeinsam schaffen wir das, okay Partner?“
    Semir schlug ein und umarmte Paul.
    „Ich weiß, ich hab’s schon mal gesagt…aber…danke“

    „Na Jungs? Seid ihr soweit? Männergespräch beendet oder muss sich das weibliche Geschlecht noch zurückziehen?“ Beatrice kam aus der Halle und Semir nickte. „Wir sind fertig, entschuldige. Der türkische Hengst ist ein wenig mit mir durchgegangen.“ Beatrice winkte ab und ging auf die Beiden zu. „Das ist okay, soweit du das nicht vor der Krüger oder so machst. Wir haben schließlich sonst einen Fall zu verlieren…“, sagte auch sie und Paul drückte die Beiden an sich. „Kommt, räumen wir die Bude um bis wir etwas haben! So schwer wird das doch nicht sein!“
    Die anderen Beiden nickten und gingen wieder zurück in die Lagerhalle.


    Mit einem Dietrich konnte Semir die alte Lagerhallentüre öffnen und hielt sie für seine Begleiter auf. Mit Handschuhen bekleidet, gingen Beatrice, Paul und er in die Halle und fanden sie verlassen vor. Sie nutzten Taschenlampen, die Semir noch vor der Abfahrt mitgenommen hatte. „Wär auch zu schön gewesen“, murmelte Semir und Paul klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
    „Aber auch hier, alles steht noch wie es gewesen war, bevor er gegangen ist.“ Beatrice beugte sich zu dem zugedeckten Schlagzeug. „Da wurde lange nicht mehr nachgespannt…außerdem hat’s hier noch mehr Staub und die Gitarren sind komplett verstimmt. Das sieht man an den gebogenen Saiten.“, murmelte sie und blickte in zwei verwunderte Gesichter.
    „Nicht alle Schweizer widmen sich der Handorgel oder dem Alphorn. Es gibt auch welche die Rock n‘ Roll und Blues spielen“, rechtfertigte sie sich und die Männer hoben abwehrend die Hände.
    „Fangen wir an!“, beendete Semir die Diskussion.
    „Hast du Andrea die Sache geschildert?“
    Auf Pauls Frage nickte Semir. „Sie hatte natürlich geweint am Telefon. Aber ich kenne sie! Sie wird die Sache besser überstehen als ich!“
    „Andrea?“, fragte Beatrice neugierig nach.
    „Meine Frau“, antwortete Semir und Beatrice begab sich nickend zu einem der unzähligen Schränke.
    „Gitarrensaiten, Notenblätter, Werkzeug“, murmelte sie, als sie die Schubladen durchsuchten. Auch Paul konnte nicht mehr wiedergeben, während Semir gedankenverloren am Schlagzeug stand. Wie oft hatte er aus Spaß darauf gespielt. Nicht gut, total unrhythmisch, doch Ben hatte alles getan, um ihn mit der Gitarre begleiten zu können.
    Erst als Beatrice die Beiden zu sich rief, erwachte Semir aus seiner Trance und ging mit Paul zu ihr.

    „Seht euch das mal an“, sagte sie und zeigte ein altes Handy. „Das war Ben seins. Als wir noch zusammengearbeitet haben, ich würde das Ding überall wiedererkennen.“, erklärte Semir und nahm es entgegen. Hingegen seiner Vermutungen, ließ es sich anschalten und hatte sogar Strom. Allerdings war es gesperrt. „Na toll, das werden wir Hartmut bringen müssen…oder ist jemand von euch ein Hacker?“, murmelte Paul, doch er bemerkte Semirs nachdenkliche Miene. Er öffnete die Tastatur und gab eine Zahlenkombination ein. „54554? Wie kommst du denn darauf?“, fragte Beatrice verwundert, als sich das Handy tatsächlich entsperrte.
    „Sieht man es als Buchstaben, ergibt es Lilli…“, murmelte Semir und leckte sich die trockenen Lippen feucht.
    „Lilli?“
    „Der Name meiner jüngsten Tochter und Bens Patenkind.“
    „Schnell geschaltet“, lobte Paul und Semir öffnete die Nachrichten. Die Letzte war auf letzten Silvester datiert. Es war ein ungeschickter Entwurf.
    „Danach muss er sein Handy gewechselt haben. Ein Absender steht nicht drauf…scheint, als hätte er vergessen gehabt, den Entwurf wegzuwerfen…“ Auf Beatrice lautes Denken hin öffnete Semir die Nachricht und las sie vor.