Semir hatte schon lange nicht mehr dieses Gefühl gespürt gehabt. Die Nerven wirklich bis zum Zerreissen angespannt, der Puls auf nicht messbaren Werten. Man hatte ihm mitgeteilt, dass der Patient ins Marienkrankenhaus gebracht wurde. Also fuhr er eiligst dorthin (Minutenlanger Stau, der die Nerven noch mehr strapazierte inklusive) und rannte schnurstracks auf die Empfangsdame zu, die sich zur Sicherheit ein wenig zurückgelehnt hatte und zögerlich Semir begrüsste.Dieser nahm seinen Dienstausweis hervor.
„Gerkan…Kripo Autobahn. Ich ermittle in der Schiesserei von heute Morgen. Ein schwerverletzter Patient wurde bei ihnen eingeliefert…“
Die Empfangsdame begutachtete den Ausweis mit Adleraugen und sah Semir dann mit einem aufgesetzten Lächeln an. „Natürlich Hauptkommissar Gerkan…wie ist der Name des Verletzten?“ Semir feuchtete seine staubtrockene Kehle an. „Jäger…Ben Jäger…“, antwortete er mit leiser Stimme und die Schwester tippte den Namen in ihren Computer ein. Ihr Gesicht verfinsterte sich.
„Herr Jäger wird noch operiert...Sie können sonst hier warten. Denn es scheint, als wären Sie als Kontaktperson eingetragen!“
Semir starrte die Empfangsdame ungläubig an. Ben hatte dies also noch nie geändert? Klar hatten sie vereinbart, wegen ihrer starken Freundschaft, sich als Kontaktpersonen für solche Fälle eintragen zu lassen. Doch bei dem, was alles geschehen war. „Okay...danke...“, murmelte Semir und begab sich zum Wartesaal. Er setzte sich auf einen freien Stuhl und faltete die Hände. „Allah rahmet eylesin!“, begann er leise und atme tief durch, „pass bitte auf ihn auf...ja...?“
Joshi musste diese Information erstmals verdauen. „Semirs...früherer Partner? Dieser...Ben Jäger?“ Alex nickte nachdenklich und verschränkte die Arme. „Ich...scheisse...kein Wunder hat er so geistesgegenwärtig reagiert...“ „Joshi...trotzdem ist es nicht deine Schuld. Die wahre Schuld liegt bei den Wahnsinnigen, die hier einfach wie blöd rumgeballert haben.“ Joshi feuchtete sich mit der Zunge die trockenen Lippen an. „Wenn es denn wirklich nicht mein Fehler war...wieso tut denn etwas so weh?“ Alex sah, wie Joshi wieder mit den Tränen kämpfte. Er umarmte sie und drückte sie fest an sich. „Weil es menschlich ist...“, antwortete er dann und küsste Joshi auf den Haarschopf. „Joshi!“ Die Beiden drehten sich um, als Hartmut mit schneeweissem Gesicht auf die Beiden zu gerannt kam und sich sofort an seine Assistentin, die sich von Alex gelöst hatte, klammerte.„Hartmut! Streifschuss am Arm! Streifschuss am Arm!“, knirschte Joshi und Hartmut erlöste sie sogleich von seinem unbändigen Griff. „Entschuldige“, flüsterte er und begutachtete Joshi genau. „Mir ist fast das Herz stehen geblieben, als die erzählt hatten, dass du da drinnen warst...bist du sonst okay?“
Joshi musste zugeben, dass sie von solch vieler Fürsorge beinahe erdrückt wurde, aber es war ein wunderschönes, erdrückendes Gefühl.„Ja...bis auf den psychischen Knacks...schon...“, antwortete sie ehrlich und Hartmut nickte heftig. „Klar...klar...ich werde dich bei einer Psychologin anmelden und du nimmst dir die Zeit, die du brauchst! Ich sorge dafür, dass es dir wieder besser geht!“
Joshi lächelte traurig. „Ich würde lieber wieder arbeiten...wenn du es erlaubst...“ Sie blickte auf die Raststätte, die abgesperrt wurde. „Schick mich einfach bitte nicht mehr zum Kaffee holen...okay?“
Hartmut umarmte Joshi nun sanfter und schmiegte seinen Kopf an den ihren. „Natürlich...ich glaube, ich steige jetzt auf Tee um, da bin ich nicht so empfindlich.“ Joshi legte ihren gesunden Arm um Hartmut und klammerte sich an seiner Jacke fest.
Alex nutzte die Gelegenheit und kramte sein Handy hervor, auf dem er die Kurzwahl der PAST eingab. „Alex, Gott sei Dank“, erklang Susannes Stimme sofort, „wie sieht’s aus?“
„Joshi geht es einigermassen gut“, begann Alex zu berichten und hörte, wie Kim Krüger zu Susanne kam und zuhörte, „sie wurde am Arm getroffen...allerdings...“
„...allerdings was?“, fragte Kim ungeduldig nach. „Ich habe Semir ins Marienkrankenhaus geschickt...“
„Hä?“, fragte Susanne verwundert, „die Täter sind doch schon längst weg? Oder seid ihr etwa in einen Hinterhalt geraten?“„Nein...es gab mehrere Verletzte, neben den Toten...doch eines wurde sehr schwer verletzt...und das war Ben Jäger...“
„Was?“, erklang nun auch Jenny, „Ben war Joshis Beschützer?“ Alex bestätigte dies. „Er ist wahrscheinlich wegen Bonrath zurück nach Deutschland gekommen“, schlussfolgerte Kim. „Gut...wenn Gerkan bei ihm ist...“
„...ja...wir müssen versuchen einen klaren Kopf zu bewahren“, vollendete Alex, Kims Gedankengang, „ansonsten sind wir wieder „emotional zu belastet“ und ich glaube, wenn wir den Fall verlieren, wird uns Semir den Kopf abschneiden...“
„Gut Brandt...ich verlasse mich auf Sie...“ Mit diesen Worten hängte Kim auf und Alex steckte sein Handy in die Hosentasche. Er klappte erneut die Brieftasche von Ben auf und erblickte ein Foto, dass Semir und Ben bei einem Fussballspiel zeigte. Deutlich ein Selfie mit einem Handy, leicht verwackelt und doch voller Erinnerungen.