7.
Behutsam legte Ben Aida ins Bett und gab ihr einen Kuss auf den Haarschopf. Ohne zu wissen, was eigentlich geschah, schlief das Mädchen wieder ein. Auch die Kleinste hatte wieder ihre Ruhe gefunden und Ben humpelte unter großen Schmerzen nach unten. Sein Körper war wie Blei und noch immer sickerte heisses Blut aus den Wunden. Als er am Ende der Treppe ankam, stürmten Semir und Andrea in die Wohnung. Beide erschraken, als sie Ben zu Gesicht bekamen. „Die Kleinen?“, fragte Andrea besorgt und Ben nickte kurz nach oben. „Schlafen“, keuchte er und sein verletztes Bein konnte die Last nicht mehr tragen. Semir konnte Ben im letzten Moment auffangen und stützte ihn. „Du solltest in ein Krankenhaus!“, meinte der Deutschtürke und Ben schüttelte mit dem Kopf. „Es geht schon!“ Behutsam half Semir ihm, sich auf die Couch zu setzten. „Lena?“ Ben presste die Lippen zusammen. Er atmete kurz durch und erzählte die Geschichte. „Also fuhr sie in dem Wagen davon, der dich anscheinend angefahren hat!“ Andrea gesellte sich zu der Runde und schien erleichtert zu sein. „Sie schlafen wirklich…“, dann sah sie zu Ben, „ich hole das Verbandszeug!“
Semir kniete sich vor Ben hin. „Konntest du jemanden erkennen?“ Ben schüttelte mit dem Kopf. „Nein…leider nicht…wer immer das war, hat nun Lena…“ Semir seufzte. „Für ihr Alter hat sie perfekt gehandelt. Sie kennt meine Kinder kaum, und hat sie sofort beschützt…“ Ben lächelte traurig. „Sie hat immer zuerst an die Anderen gedacht…“ Er verzog das Gesicht und hielt sich den Arm, der aufgeschürft war. „Darf ich?“ Semir legte seine Hände barmherzig darum und sah seinen Partner an. „Du hattest echt Glück! Es hätte viel schlimmer ausgehen können.“ Andrea kam mit dem Erstehilfekoffer und klappte diesen auf. In diesem Moment begann die Kleine wieder zu schreien. Sie sah Semir an. „Ich kümmere mich ums grosse Baby“, sagte er und nickte zu Ben, „geh‘ ruhig!“ Sie nickte und verschwand wieder – der Schock stand ihr sichtlich ins Gesicht geschrieben.
Semir säuberte zuerst die Wunde am Arm und befreite sie von allfälligem Schmutz. Ben zuckte immer wieder auf und konnte den Schmerz nicht verbergen. „Ich habe die Chefin sofort kontaktiert“, begann Semir dann und legte eine Gaze auf die Wunde, „das KTU kommt gleich und untersucht die Wohnung…“ Ben sagte nichts, sondern nickte nur.
Der eklige Geschmack von Gummi erfüllte ihren Mund und Lena kam langsam wieder zu sich. Und obwohl sie die Augen öffnete, war alles schwarz. Sofort spürte sie das Brennen an ihrer Kopfhaut und sie wusste, dass man sie mit Klebeband geknebelt und gefesselt hatte. So kalt wie es war, musste sie sich in einem Keller oder einer Abstellhalle befinden. „Na, wieder wach?“, fragte sie eine helle, zischende Stimme. Lena bewegte sich nicht. Sie war vor Angst gelähmt. Ben! Plötzlich erinnerte sie sich wieder an die Fahrt im Wagen, wie dieser ihren guten Freund erfasst hatte und sie nur noch sehen konnte, bevor sie niedergeschlagen wurde, wie dessen Körper hart auf den Asphalt aufschlug.
Sie schnaubte heftig durch die Nasenlöcher und die Tränen sogen sich sofort wieder in die Haut ein, da sie ja keine Möglichkeit hatten, abzufliessen. „Keine Sorge, dein Freund hat’s überlebt. Jedenfalls hat er noch gezittert, als du ohnmächtig wurdest.“ Sie hörte niemand anderes. Anscheinend war er alleine. Aber im Wagen waren es drei Personen gewesen. „Keine Sorge Kleines, dir wird nichts passieren, solange du dich still verhältst!“ Was wollten diese Typen von ihr? Sie spürte, wie er sich über sie beugte. „Was hast du herausgefunden?“, fragte er nun mit viel tieferer Stimme. Er löste ihr das Klebeband vom Mund und sofort fühlte sich die Haut wie tot an. „Was soll ich herausgefunden haben?“, erwiderte sie heiser und fürchtete sich insgeheim vor dieser grausamen Dunkelheit. „Was hast du in diesem Buch gelesen? Diesem Buch von Erbacher?“ Das war also der Grund! „Ich weiß nicht, wovon Sie reden…“ In diesem Moment spürte sie, wie eine flache Hand ihre Wange schlug.
Als letztes, kümmerte sich Semir um die Wunde an der Schläfe, die sich bis zu der Wange zog. Die Verletzung seitlich am Knie, die unterhalb des Oberschenkels begann und kurz nach dem Knie aufhörte, hatte er verbunden. Inzwischen war das KTU angekommen. Hartmut, trat zu den Beiden heran. „Wir werden alles tun, um die Kleine zu finden“, meinte er aufmunternd zu Ben und dieser nickte dankend. „Super Hartmut…“, fügte er seiner Geste hinzu und stieß ein leises „Aua“ aus, als Semir mit dem Jod eine empfindliche Stelle traf. „Ich habe das unter einem Schrank gefunden!“ Der Rotschopf legte die Biografie Erbachers auf den Tisch. „Muss die Kleine versteckt haben!“ Semir legte ein Pflaster auf die Wunde und Ben bedankte sich. „Du solltest dich trotzdem ausruhen…“, meinte der Deutschtürke besorgt und Ben fuhr sich durchs Haar. „Das kann ich nicht…“, murmelte er und Semir nahm das Buch. Er schlug es auf und zog eine Augenbraue hoch. „Das ist ja seltsam…“ Ben sah ihn verwundert an. „Wieso?“ Semir durchblätterte die Seiten. „Weil bei jeder Seite nur die siebte Zeile markiert ist…moment Mal! Hartmut!“ Der Rotschopf beugte sich zu den Beiden. „Was?“ Semir reichte ihm das Buch. „Ich hab was für dich. Schreibe auf einen Zettel, oder auf eine Tafel, jede Zeile auf, die markiert wurde!“ Hartmut zog eine Augenbraue hoch. „Wieso…“ „Tu es einfach!“, sagte Ben schroff. Hartmut nickte ängstlich und verschwand.
Danach zuckte Ben zusammen und verzog sein Gesicht wieder vor Schmerz. „Du solltest wirklich zu einem Arzt!“, meinte Semir und wieder ein Kopfschütteln. „Es geht schon Semir…ich will Lena finden…“ Semir stöhnte kurz. „Gut, aber bitte, ruh dich im Gästezimmer ein wenig aus, damit wir morgen voller Elan angreifen können!“