Autobahn - 11:00 Uhr
Ben hatte die Koordinaten, nachdem er sie umgerechnet hatte, sofort in sein Navigationsgerät eingegeben. Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch, als das bunte Fähnchen, das im Navi das Ziel signalisierte, mitten in den Ardennen landete. Er steuerte den BMW im zügigen Tempo auf die Autobahn und folgte den Anweisungen des Navis. Dabe spürte der junge Polizist, wie ein wenig Nervosität in ihm hochstieg. Was würde ihn erwarten, wo hielt Christian sich versteckt und was jagte ihm diese Angst ein? Er klang am Telefon dermaßen überzeugend, dass es Ben schwer fiel auch nur einen Moment daran zu denken, dass sein Cousin ihn in eine Falle locken wollte. Was machte das für einen Sinn, schließlich waren die Asiaten hinter ihnen her, und auch hinter Christian.
Seine Hände hatte er fest um das Lenkrad verkrampft, und viel schwerer als die Gedanken um Christian lagen ihm die Gedanken im Nacken, Semir anzurufen und Bescheid zu geben. Die Durchsuchung im Labor musste schon weit fortgeschritten sein, dachte er nach ungefähr einer Stunde Fahrtzeit. Aber es hielt ihn etwas zurück... was, wenn Lucas in seiner Nähe war. Hilfe hin oder her, dem angeblichen CIA-Mann trauten beide immer noch nicht über den Weg. Immer wieder griff Ben zum Handy, das auf dem Beifahrersitz lag, und immer wieder legte er es nach einer Minute Bedenkzeit wieder zurück.
Als er nur noch wenige Kilometer vom Ziel entfernt war, klingelte sein Handy. Semir hatte die Initiative übernommen, gerade als Ben durch die ersten Wälder der Ardennen fuhr. Wieder zögerte der Polizist, aber er nahm das Gespräch an. "So Kollege... jetzt mal Tacheles: Was sind das schon wieder für Flausen in deinem Kopf?", bekam er sofort ins Ohr geschossen. Semir klang nicht gerade entspannt. "Bist du allein?", war eigentlich eine überflüssige Frage von Ben an seinen besten Freund. "Natürlich, sonst hätte ich nicht angerufen. Aber wohl nicht ewig, also rede er Klartext." Keine Zeit für Ausreden, Ben musste die Wahrheit rausrücken. "Christian hat mich angerufen, und will sich mit mir treffen." "Dann ist ihm also nichts passiert?" "Richtig. Allerdings hat er vor irgendetwas panische Angst."
Semir schien einen Moment nach zu denken. "Du hättest mich doch unter einem Vorwand da rauslocken können.", sagte er dann vorwurfsvoll. "Christian hat verlangt, dass ich alleine komme." "Wie bitte?" Die Stimme des erfahrenen Ermittlers klang empört. "Ja... irgendwie hat er panische Paranoia, dass du oder irgendjemand in die Sache verstrickt ist, und ihn aufspüren will. Er hat sich irgendwo verkrochen, und ich bin der einzige, dem er vertraut." "Ben, das gefällt mir gar nicht. Wenn das eine Falle ist..." "Warum sollte es? Die Asiaten wollen doch auch ihn, und wissen selbst nicht wo er ist. Mach dir keine Sorgen um mich."
Semir schien mit der Antwort nicht unbedingt zufrieden und er wollte gerade zu einer sehr wichtigen, entscheidenden Frage ansetzen: "Wo...", als er plötzlich das Thema wechselte. "... dann ruf mich einfach an, wenns dir besser geht, okay?" "Was?", fragte Ben verständnislos und verzog das Gesicht zu einer fragenden Miene. "Ja, das Hausrezept hilft bestimmt, Schatz. Ich muss jetzt wieder bisschen was arbeiten. Ich liebe dich, ciao!" Dann wurde die Leitung unterbrochen, und Ben verstand. Offenbar war gerade Lucas ins Zimmer gekommen, und Semir improvisierte blitzschnell. Es liess den jungen Polizisten kurz grinsen, bevor er sich jetzt darauf konzentrierte, die Abwzweigung zu finden. Irgendwann merkte er, dass kein, auf dem Navi eingezeichneter Weg zur Zielflagge führte.
Ben musste sich nun konzentrieren, denn es konnte nur so sein, dass es ein Feld- oder Forstweg war, den er abbiegen musste. Und tatsächlich tat sich ein solcher hinter einer Kurve auf und führte tief in den Wald. Die Zeit wurde langsam knapp, aber er musste es versuchen, denn der Weg schien zumindest in die richtige Richtung zu führen. Der BMW wackelte und schwankte, als er über den Feldweg holperte. Ben versuchte nochmal seinen Cousin anzurufen, doch angeblich war die Nummer nicht erreichbar. Er kannte das von Leuten, die die SIM-Karte aus dem Handy genommen hatten. Es beunruhigte Ben gleichzeitig, wie es ihn beruhigte.
Die Entscheidung für den Weg war richtig. Fast exakt dort, wo das Navi anhand der Koordinaten eine Markierung gesetzt hatte, war so etwas wie ein weit zugewachsener Bunker. Man konnte die Erhöhung sehen, ähnlich eines Hügels, Büsche, Gras und versteckt eine verrostete Tür. Ein Versteck, das niemand finden würde, wenn er nicht explizit in diesem Wald suchte... und selbst dann würde es, bei der Größe, Tage dauern. Der Polizist stoppte den BMW und stieg aus. Stille ergriff ihn, die Landstraße war weit weg und die Natur in den Ardennen atemberaubend. Die Herbstsonne schien durch das bunte Laub über ihm, irgendwo entfernt konnte man eifrige Vögel hören. Es war, als würde die ganze Welt um Ben herum einen Moment stillstehen, und am liebsten hätte er sich hier auf einen Stein gesetzt und diese Atmosphäre auf sich wirken lassen.
Stattdessen wurde er, wie magisch angezogen von der verrosteten Tür, hinter der sich hoffentlich sein Cousin verbarg. Die Zeit war jetzt genau abgelaufen, und wie auf Signal bewegte sich die Eisentür und das bekannte Gesicht kam zum Vorschein... fluchtfertig. Christian wäre nicht mehr hiergeblieben und hätte seine Flucht weiter fortgesetzt, hätte Ben es nicht geschafft. "Gott sei Dank, bist du da.", sagte er mit aufgeregter, zittriger Stimme. Er war blass, tiefe Augenringe zeugten von schlaflosen Nächten. "Natürlich bin ich da. Was soll die Schnitzeljagd?" "Komm schnell rein... hast du das Handy aus?" "Ja, hab ich.", log Ben. Er wollte nicht, dass sein Cousin in Panik geriet und folgte ihm in den Bunker.
Eigentlich waren es nur anderthalb Räume, kahl, nicht besonders warm und klamm. Er hatte sich hier ausgebreitet, mit Schlafsack und Wolldecke. "Ben... ich wollte dich da nicht mit reinziehen, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen." "Das ist jetzt nicht wichtig.", wiegelte Ben sofort ab. "Wichtig ist, dass du mir jetzt genau erzählst, was hier abgeht. Was auf dem Stick ist, und warum die Asiaten so scharf auf das Ding sind." Ben konnte sehen, wie Christian die Hände zitterten, als er sich auf eine wackelige Britsche setzte. "Auf dem Stick... sind Dokumente. Dokumente für die Zusammensetzung der schlimmsten chemischen Waffe, die man sich vorstellen kann. Neun der giftigsten Chemikalien in richtiger Zusammensetzung, die ganze Technik und die nötige Menge Sprengstoff... und niemand wird mehr über Vietnam, Agent Orange oder Assads Giftgas in Syrien reden." Seine Stimme zitterte dabei. "Das IX-Projekt."
Ben konnte sich selbst atmen hören und er sah seinen Cousin fassungslos an. "Was hast du damit zu tun?" "Ich... ich hab davon erfahren dass unser Labor für die Forschungsarbeit daran genutzt wurde." Der Cousin von Ben sah aus, als würde er Höllenqualen leiden. "Ich habe dann rausgefunden, dass die Forscher dazu gezwungen wurden. Von wem, weiß ich aber nicht." Ben hing an den Lippen seines Cousins, folgte ihm jedes Wort. Wenn das stimmte, was er erzählte, dann stank die Sache bis zum Himmel. Und er fühlte, wie er mit der ganzen Situation ganz plötzlich überfordert war.
"Wieso bist du dann nach Deutschland gekommen? Wie bist du überhaupt an den Stick gekommen?" Christian rieb sich mit der Hand über den Nacken. "Ich... ich habe mitgemacht. Also... ich wurde genauso dazu gezwungen. Ich sollte das Ding übergeben." Er biss sich auf die Lippen, stand auf und wanderte in dem engen Bunker hin und her. "Aber ich... ich hab sie ausgetrickst. Der Typ, dem ich das Ding gegeben habe... es war nicht der richtige. Und danach bin ich direkt nach Deutschland." Ben blickte seinen Cousin direkt an, er verfolgte ihn mit den Augen, wie bei einem Verhör. Sprach er der die Wahrheit? Er sah so fertig aus, übernächtig, hypernervös.... konnte man das schauspielern und gleichzeitig noch perfekt lügen. "Gut, du bist also nach Deutschland gekommen. Warum? Wenn du gekommen bist, um mich um Hilfe zu bitten... warum hast du mir nicht gleich alles erzählt." Der Mann atmete schwer und sah an die Decke.
"Das hatte ich auch erst vor... aber dann.... dann hatte ich Angst. Ich wollte dich, als ich sah dass du Familie hast, nicht mit reinziehen. Verstehst du, ich habe Skrupel bekommen. Dann haben uns im Parkhaus die Asiaten aufgelauert, und ich dachte dass ich nirgends wirklich sicher bin. Die haben doch Kontakte in alle Kreise, ich konnte deshalb auch nicht zur Polizei.", sagte er hektisch und sah sich wieder verängstigt um. "Du... du musst mir das glauben, Ben." Scheinbar blickte der gerade nicht so drein, als würde er seinem Cousin diese Story abkaufen. Aber was blieb ihm gerade anderes übrig... sie tappten im Dunkeln, und wenn es stimmte, was er sagte, waren das die ersten und einzigen handfesten Infos.
"Warst du in der Hütte deines Vaters?" "Ja, da hab ich mich zuerst versteckt. Aber als ich da ein paar Typen herumschleichen sehen habe, bin ich auch von dort geflohen." "Ich habe dort den Plan eines Labors in Köln gefunden. Darauf war ein Raum verzeichnet. Was hat es damit auf sich?", fragte Ben mit fester Stimme. "In... in dem Labor sind einige Apparaturen, die in weltweit einmalig sind. Sie werden zur Herstellung benötigt und wir sollten diese Information beschaffen, in welchem Raum diese Apparatur zu finden ist." Der junge Polizist schüttelte entsetzt den Kopf. "Ihr hättet das sofort in Amerika zur Anzeige bringen sollen." "Die hätten uns alle umgebracht, Ben!", sagte dessen Cousin erregt... und Ben verstand diese Haltung natürlich. Sollte man für die Firma den Kopf hinhalten? Sicher nicht... für ein paar Tausende Menschenleben, die bei dem Einsatz der Bombe ums Leben kommen? "Habt ihr mal daran gedacht, was man mit den Bomben anrichten kann?" "Jede Minute!", zischte Christian nun wütend. "Aber guckst du überhaupt Fernsehen? Überall herrscht Krieg, gibt es Tod und Elend. Am Ende ist das "Wie bringen sie sich um?" nicht entscheidend. Soll dafür ein Familienvater sein Leben riskieren? Würdest du?" Ben biss sich für einen Moment auf die Lippen. "Du weißt nicht, an wen die Asiaten die Dinger verkaufen.", gab er dann zur Antwort. "Vielleicht an einen Diktator in Syrien, vielleicht aber auch an irgendwelche Fanatiker, die damit in Europa zu schlagen." Der Phsyiker schüttelte den Kopf und wollte diese Diskussion nicht fortsetzen, denn dafür war er nervlich gerade nicht in der Lage.
"Okay...", brach auch Ben die Sache ab. "Wir packen jetzt deine Sachen zusammen, und du kommst mit zurück." "Nein, auf keinen Fall." "Was willst du denn sonst machen? Wir müssen die Sache irgendjemandem in die Hand geben. BKA, Verteidigungsministerium, irgendwem. Du kannst nicht dein Leben lang mit dem Stick davon laufen." Dann stockte er kurz: "Warum zerstörst du das Teil nicht einfach? Ich nehme an, es gibt keine Kopien... sonst würden die nicht einem einzigen Stick hinterher jagen." Christians Antwort kam kleinlaut: "Das... das Herstellungsverfahren dieses Stoffes... es wurde von mir entwickelt. Allerdings in guter Absicht, es ist das gleiche zur Herstellung eines umweltbewussten Treibstoffs und Energieträger. Nur eben mit anderen Stoffen. Wenn... wenn ich den Stick zerstöre, würde ich die komplette Entwicklung 10 Jahre zurückwerfen."
Ben packte seinen Cousin am Kragen. "Bist du völlig bescheuert? Was sind denn 10 verdammte Jahre Entwicklungszeit gegen Tausende Menschenleben?", schrie er Christian erregt an. Er konnte es nicht fassen, Fortschritt hin oder her. Und er glaubte, auch die alte Profit und Geltungsgier in Christians Blick erkennen zu können, egal wieviel Angst er hatte. "Die werden mich töten, wenn ich das Ding zerstöre!!", rief er verzweifelt. "Was sollte ihnen das bringen, hä? Diese Typen haben einen Auftrag, die sind nicht auf Rache aus. Wir nehmen jetzt diesen verdammten Stick und bringen ihn postwedend zu einer Firma für Datenvernichtung!" "Der... der Stick ist nicht hier. Ich hab ihn versteckt.", gab Bens Cousin kleinlaut zu. "Wo?", war die scharfe, beinahe drohende Antwort, ohne dass Ben ihn losließ... dann blickten beide stumm zur Decke. Sie hörten ein Helikoptergeräusch, das nicht weit entfernt sein konnte...