Köln - 14:00 Uhr
Die dunklen Wolken, die beinahe symbolisch am Horizont aufzogen, verdunkelten auch gleichzeitg Lucas' Laune. Die Hände fest um das Lenkrad geklammert, die Backenzähne fest aufeinander gedrückt. Verdammt, dachte er. Dieser bescheuerte Asiate hatte ihn bei seinem wahren Namen genannt. Woher wussten sie, wie er heißt? Die Yakuza hatten erstklassige Informanten in allerlei Behörden der USA sitzen, aber dort wo Lucas arbeitet, das war keine Behörde. Und bei der CIA ist er unter seinem Decknamen registriert. Dass die Yakuza seinen Namen wusste, schmeckte ihm nicht. Ganz und gar nicht, es war gefährlich und das nicht nur für ihn. Mehrfach wählte er die Nummer von Marlaine, seiner Ex-Frau. Nach dem dritten misslungenen Versuch schlug er wütend mit der flachen Hand aufs Lenkrad.
Marlaine und er hatten sich vor fünf Jahren getrennt. Vorher führten sie eine scheinbar perfekte Ehe, mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass Lucas einem gefährlichen Job nach ging, der ihn oftmals ausser Haus führte. Auslandseinsätze mit der Navy, am Kundus gerade als sie frisch verheiratet waren, im Tschad als ihr Sohn geboren wurde, in Mali als die Ehe langsam kriselte. "Was nützt mir unser gesichertes Einkommen, wenn ich jeden Tag Angst haben muss, dass dein Sarg mit Stars and Stripes umwickelt zurückgeschickt wird?", hatte die blonde Frau ihn angeschrieen, als Lucas, wie so oft, das Argument des Geldes anführte.
Lucas selbst lebte in seiner eigenen Scheinwelt. Er wollte immer das Beste für seine Familie, doch er bemerkte nicht, dass seine Familie etwas anderes brauchte als ein reichhaltiges Gehalt. Sie brauchten ihren Ehemann, ihren Vater. Und er bemerkte zu spät, dass ihm diese Ehe entglitt, durch die Finger rieselte wie Wüstensand. Doch Marlaine hielt aus, bearbeitete Lucas. Ein anderer Job, weniger Einkommen, geregelteres Leben. Und sie hatte Erfolg... beinahe. Der Mann am Steuer kniff die Augen zusammen, als die Gedanken ihn überfielen. Es sollte der letzte Einsatz sein, eine harmlose Sache im afghanischen Hinterland. Er gab nur einen Befehl - und es war der falsche. Am Ende waren fünf Kameraden tot, er selbst kam mit leichten Verletzungen davon. Er war sich so sicher, alles richtig entschieden zu haben.
Danach nutzte er die Chance, sich versetzen zu lassen, doch Lucas hatte sich verändert. Schuldgefühle verdrängte er und immer wieder redete er sich ein, genauso wieder zu entscheiden. Es war einfach Pech... doch immer wieder bröckelte diese Haltung. Er wurde jähzornig, er wurde beinahe gefühlskalt. Zeit, um die Sache hinter sich zu lassen und Verständnis, damit umzugehen, konnte Marlaine nach Jahren des Verzichts auf ihren Mann nicht mehr entgegenbringen. Sie ließ sich scheiden, bekam das Sorgerecht für Josh und Cynthia... und Lucas war am Ende. Ein alter Weggefährte aus der Armee fing ihn zumindest beruflich aus, und nahm ihn in die Organisation, die zwischen den Gesetzen stand.
Der Mann mit den millimeter kurzen Haaren wollte gerne zurück. Er wusste, dass die Zeiten sich geändert hatten, dass er sich geändert hatte... und Marlaine schien den Glauben ebenfalls nicht aufzugeben. In den letzten Monaten telefonierten sie oft, wollten sich treffen, doch immer wieder sagte Lucas ab, wegen seines Berufes. Er konnte sich lange nicht dazu durchringen, seiner Ex-Frau die Wahrheit zu sagen, doch er war ein geradliniger Mann, für den Ehrlichkeit an erster Stelle stand, und so offenbarte er seiner Frau die Wahrheit, woraufhin sie den Kontakt erstmal wieder abbrach. Es tat dem Mann, der äusserlich ohne Gefühle wirkte, sehr weh. Vor einigen Wochen hatte sie ihn angerufen... sie vermisse ihn, Josh und Cynthia vermissten ihren Vater. "Wenn du deinen Job aufgibst... dann versuchen wir es nochmal.", hatte sie voller Ernst gesagt. Er stimmte zu.
"Ein letzter Job noch.", sagte ihm sein Boss und Auftraggeber. "Dann kündigen wir den Vertrag, der eigentlich nicht zu kündigen ist, weil du uns und dem Land mehr geholfen hast, als irgendjemand anderes." Lucas traute der, oftmals fremden Stimme nicht über den Weg, aber es blieb ihm nichts anderes übrig, ihr zu glauben. Bisher hatte sie jedes Wort gehalten, als es beispielsweise darum ging, Josh einen Platz auf einer der renommiertesten Sportschulen Amerikas zu besorgen, wozu man normalerweise ausgezeichnete Kontakte benötigte und jede Bewerbung mit einer Absage endete. "Wir kümmern uns darum.", sagte die fremde Stimme und Lucas verdrehte die Augen und dachte nur: "Na klar... ihr kümmert euch." Zwei Wochen später hörte er am Handy seinen Sohn jubeln: "Dad, sie haben mich genommen! Sie haben mich genommen!" Er konnte es kaum erwarten, seinen Sohn vom Spielfeldrand aus zu beobachten.
Aber dieser letzte Job stand ihm jetzt im Weg, und plötzlich steigerte sich die Unruhe in ihm. "Lucas, was gibts? Wie gehts voran?", meldete sich die Stimme seines Auftraggebers, dessen Nummer er jetzt wählte. "Überhaupt nicht." "Das ist nicht gut. Uns läuft die Zeit davon." "Der Physiker ist nicht aufzufinden. Ich habe mich unter meinem CIA-Namen mit der deutschen Polizei zusammengetan, um den Kerl zu finden." Nach dem ihm seine Frau nicht mehr aus dem Kopf ging, konzentrierte er sich jetzt mehr auf das Gespräch, als auf den Verkehr... oder verdächtigen Autos hinter ihm, auch wenn er mehrfach in den Rückspiegel sah. Den grauen Mercedes sah er nicht, denn Ben war zu geschickt ihm unauffälligen Verfolgen. "Vielleicht die Yakuza?" Lucas' Kopfschütteln konnte sein Gesprächspartner nicht sehen. "Glaube ich nicht... die haben uns nochmal angegriffen... vermutlich weil sie denken, wir wüssten mehr als sie. Dabei...", er zögerte kurz. "Was?" "Dabei hat einer der Typen mich beim Namen gerufen... meinem echten." Es blieb still in der Leitung und für einen Moment war, ausser dem Rauschen des Verkehrs und dem Summen des Wagens nur ein leises Atmen zu hören. "Das ist nicht gut." "Ach was..." "War die Polizei dabei? Haben die was bemerkt?" Ein kurzes Hin- und her wiegen des Kopfes, Gesten der Verunsicherung. "Kann schon sein." "Die dürfen keinesfalls herausfinden, wer du bist und für wen du arbeitest. Ich will dir die Folgen dessen gar nicht aufzeichnen. Zur Not musst du eben..."
Die unheilvolle Stille nach dem abgebrochenen Satz unterbrach Lucas ruckartig. "Vergiss es. Auf keinen Fall." "Lucas...", begann die Stimme aus dem Telefon, doch der Mann am Steuer wurde lauter. "Nein! Erstens will ich mir keine Polizistenmord-Ermittlungen hier ans Bein binden, zweitens brauch ich die beiden Jungs um Jäger und damit den Stick zu finden, und drittens...", er brach ab. Biss sich auf die Zähne bis der Kiefer schmerzte. "Drittens?", schnarrte es abwartend aus dem Hörer und Lucas seufzte. "Drittens hat einer der beiden mir vor wenigen Stunden das Leben gerettet." Der ehemalige Soldat glaubte, das Augenrollen hören zu können. "Ich sag es ja nicht gern, aber wir können uns keine Schwäche leisten. Du hast zwei Aufgaben zu erfüllen. Schaff den Stick ran, egal wie. Und schütze unsere Organisation, egal wie. Wenn die Bullen etwas rausfinden, dann sorg dafür, dass sie es nicht verwenden. Oder bring sie zum Schweigen. Du weißt, was passiert, wenn wir auffliegen!", kam es nun deutlicher aus dem Hörer und bedurfte keiner Widerworte.
Mit verkniffenem Gesicht sah Lucas in den Rückspiegel, nachdem er gerade abgebogen war und sah den grauen Mercedes noch abbiegen. Seine Augen wurden schmal. "Warum hast du angerufen?", kam dann die Frage aus dem Hörer. "Marlaine geht nicht ans Telefon. Ich will, dass ihr checkt, ob mit meiner Familie alles in Ordnung ist, nachdem die Typen wissen wie ich heisse." "Okay, ich kümmere mich drum." Wenigstens das beruhigte Lucas...