Köln - 11:00 Uhr
Jakob hörte plötzlich Getrappel über ihm, schnelle Füße die über die alten Holzdielen und dann die knarrenden Treppenstufen runter kamen. Normalerweise herrschte unter den Jugendlichen in diesem Haus keinerlei Hektik, ausser wenn Mannschaftswagen der Polizei vor fuhren und mal wieder eine Räumung anstand. Ein schneller Blick aus dem Fenster bestätigte ihm, dass dies nicht der Fall war, also trat er auf den Flur. Dort kam ihm auch schon das junge Mädchen Chloe entgegen. Felix daneben stolperte mehr als dass er lief, er wurde von Chloe gestützt und drückte sich einen Handballen an die linke Schläfe. "Was ist passiert? Ist er von der Dachleiter gefallen?", fragte Jakob sofort. Die Leiter war tückisch, und er wunderte sich sowieso dass noch niemand vom Dach abgeschmiert ist, vor allem wenn die Jungs und Mädels manchmal im Rausch dort hoch kletterten.
"Nein... Kopfschmerzen...", stöhnte Felix und Chloe schaute hilfesuchend... und ziemlich hilflos. "Ich habe noch eine Aspirin, warte.", meinte der wasserstoffblond gefärbte Junge. "Nein! Keine Aspirin... die... die hilft nicht.", stieß der gepeinigte Felix hervor, was Jakob sich umdrehen ließ. "Quatsch. Aspirin hilft im... ach du Scheisse...". Als Felix die Hand von der Schläfe nahm, konnte Jakob nun die Rötung der Haut und das gerötete Auge erkennen. "Das ist doch kein normales Kopfweh, oder?", bestätigte er sich quasi selbst und Felix schüttelte den Kopf.
Chloe musste etwas tun. "Los, wir fahren zu mir. Da finden wir sicherlich etwas, was dir hilft." Gemeinsam gingen sie nach draußen an die frische Luft, die Felix jedoch nicht half. Er versuchte halbwegs aufrecht zu gehen, um nicht wie ein Besoffener zu wirken, der dann vermutlich nicht in den Bus gelassen wird. Als dieser an kam, stellten die beiden Jugendliche erleichtert fest, dass er nahezu leer war. Also verkrümelten sie sich in die letzte Reihe, wo Felix sich stöhnend ans Fenster saß und weiterhin den Handballen gegen die Schläfe drückte, als könne er den Schmerz damit unterdrücken. Chloe wollte ihm so gerne helfen, wusste aber nicht wie. Sie erschrak richtiggehend, als nach wenigen Minuten Felix unvermittelt die Schläfe einmal gegen die große Fensterscheibe des Busses schlug, als könne er mit dem Schmerz des Aufpralls den Kopfschmerz bezwingen. Es war nur ein trügerischer Erfolg von Sekundenbruchteilen.
"Hey hey...", sagte Chloe und ergriff nun endlich die Initiative, in dem sie die unsichtbare Grenze der Berührung überschritt. Sie legte ihre Hände um Felixs Schultern und zog ihn von der Scheibe weg im Glauben, dass der Schmerz für ihn leichter zu ertragen wäre, wenn er etwas lag. "Es tut so weh...", stöhnte der in einer fremdartigen Stimme und ließ sich von dem jungen Mädchen langsam zur Seite gleiten, bis seine schmerzfreie Kopfseite auf ihren Oberschenkeln lag und er an der Wange ihren Jeansstoff spüren konnte. Die andere Seite war gerötet, und Chloe strich ihm zärtlich durch die abstehenden schwarzen Haare.
"Was ist das nur, was du da hast?", sagt sie mit leiser Stimme, während sie spürte dass der Junge immer mal wieder aufzuckte, aufstöhnte und gefühlt den Druck des Handballens auf seine Schläfe verstärkte. "Ich... ich weiß es nicht. Es kommt ganz plötzlich, aus heiterem Himmel. Anderthalb, zwei Stunden wenn ich nichts tue.", sagte Felix angestrengt. "Es ist, als ob mir jemand ein heißes Messer ins Auge stößt. Ich... die Mutter eines Freundes hatte mal gesagt, ich solle mir ein Nasenspray besorgen, das Imigran heißt. Das hat mir auch geholfen, aber ich habe davon nichts mehr." Chloe dachte angespannt nach... sie wusste, dass man Nasenspray benutzte um Migräne zu bekämpfen, aber das war doch kein Migräneanfall. Migräne kam nicht so überfallartig, dauerte länger als zwei Stunden, und man wollte Ruhe weil man schlapp war. Felix war nicht schlapp, er war hibbelig wie ein Tiger im Käfig und wollte im Bus immer wieder aufstehen.
Endlich hatten sie die Haltstelle erreicht und es waren nur noch wenige Meter bis zur elterlichen Apotheke von Chloe. "Wenn das ein Nasenspray ist, dann haben wir das mit Sicherheit.", sagte sie und drückte die Tür auf. Johanna, von Chloe immer nur "Jo" genannt, blickte hinter dem Verkaufstresen kurz auf und lächelte. "Hallo ihr zwei. Habt ihr schon frei?", fragte sie ein wenig scheinheilig. Jo war Anfang dreißig, also gerade mal zehn Jahre aus der Schule raus, und wusste dass man entweder hitzefrei hatte, wenn man um halb zwölf nach Hause kam, oder schwänzte. Und bei einem Blick nach draussen ins trübe Novemberwetter fiel die Wahl recht eng.
Chloe und Felix, der sich nochmal aufrechterhielt und ohne Hilfe von Chloe gehen konnte, nickten nur kurz. "Wir machen ein Referat.", sagte das schwarzhaarige Mädchen noch und beide verschwanden. Jo musste kichern, sie fand diese Rechtfertigung, die vor ihr gar nicht notwendig war, süß. In Chloes Zimmer angekommen geleitete das Mädchen Felix sofort aufs Bett. "Leg dich kurz hin. Ich schau unten, ob ich etwas finde. Wie hiess das Zeug?" "Imigran... aber dann wird Jo dich doch bemerken.", widersprach der Junge. "Ach, dann muss ich sie halt einweihen. Egal... sie wird niemandem etwas verraten." "Ich will nicht dass du dir Ärger einhande...", begann er noch und wurde von einer Geste unterbrochen, für die er sich einen schöneren Zeitpunkt gewünscht hätte, als unter solchen Schmerzen. Sie kam so plötzlich und unerwartet, dass er sofort verstummte, den Chloe gab ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund und drehte sich dann sofort um, um wieder nach unten zu laufen.
Kaum fiel die Tür des Jugendzimmers ins Schloß, rappelte sich der Junge vom Bett auf. Bei einem Anfall konnte er nicht still liegen, die Schmerzen trieben ihn an und am liebsten hätte er seinen Kopf gegen die Wand geschlagen. Er tigerte durch das Zimmer, und sein rechtes, voll funktionstüchtiges Auge, versuchte sich abzulenken. Sein Blick fiel auf einige lose Blätter auf Chloes Schreibtisch... wunderschöne Zeichnungen mit Bleistift, jedoch alle mit recht melanchonischen Motiven. Ein einsames Haus am See, mit einer ebenso einsamen Person mit langen schwarzen Haaren. Bei einem anderen Bild hatte sie einen von Moos überwucherten Grabstein gezeichnet. Waren das nur die normalem Stimmungsschwankungen einer Jugendlichen? Sein Blick fiel auf das Halsband mit der Rasierklinge an ihrem Spiegel.
Chloe war währenddessen die Treppen der Wohnung wieder runtergerannt... so schnell und polternd, dass Jo von ihrer Ankunft nicht überrascht war. "Hast du was vergessen? Du lässt den Jungen in diesem Chaos da oben zurück?", fragte sie belustigt, bemerkte dann aber schnell Chloes ernsten Gesichtsausdruck. "Jo, ich brauche dringend Imigran." "Imigran? Was willst du damit?" Jo hatte natürlich studiert, ihr Wissen war noch frisch, und so wusste sie auch sofort, was Imigran war. "Felix hat unglaubliche Kopfschmerzen... er sagt, ihm hilft dieses Nasenspray, aber er hat keins mehr." Nun wurde auch Johannas Gesichtsausdruck ernst. "Chloe, Imigran ist verschreibungspflichtig und das nicht ohne Grund. Das ist ein Mittel, was ziemlich stark auf Nervenstränge im Gehirn wirkt und wird in erster Linie an Patienten mit Clusterkopfschmerz gegeben." Das schwarzhaarige Mädchen spürte, wie ihr Puls anstieg. "Hat Felix Clusterkopfschmerz? Hat er das gesagt? Bei anderen Kopfschmerzarten hilft das nicht."
Ein Kopfschütteln war die Antwort: "Nein... nein, das hat er nicht gesagt. Aber er hat gesagt, dass dieses Imigran ihm immer geholfen hat." "Ich kann ihm das aber nicht so einfach geben, er muss dafür zum Arzt und er braucht ein Rezept." "Felix ist nicht von hier... er ... er ist erst seit drei Tagen von Hamburg hierher gekommen und..." Das Mädchen spürte, wie ihr abwechselnd heiß und kalt wurde. "Was und?", half die oftmals toughe Johanna dem jungen Mädchen auf die Sprünge. "Also... was er so von sich und zuhause erzählt hat... glaube ich nicht, dass er jemals mal ein Rezept für dieses Imigran hatte. Oder krankenversichert ist."
Die beiden Frauen schauten sich kurz stumm an. "Was ist das für ein Junge?", fragte die Apothekarin dann in einem etwas strengeren Ton, der ihr gar nicht stand. Sie wollte nicht wie Chloes Mutter wirken, weil sie wusste dass sie bei dem rebellischen Mädchen da auf Granit biss. Doch Chloe kannte Jo schon seit Jahren und verzieh ihr diesen "Mutter-Ton." "Jo bitte... es ist doch egal, er liegt oben und windet sich vor Schmerzen. Wenn du so gut Bescheid weißt über dieses Kopfweh, dann weißt du doch sicher auch, was er gerade durchmacht." Sie klang schon fast flehentlich und Jo musste ihr zustimmen. Clusterkopfschmerz sei, laut Patienten neben der Trigeminusneuralgie der schlimmste und stärkste Schmerz den ein Mensch aushalten kann. Weibliche Patienten hatten ihn sogar schlimmer als eine Geburt bezeichnet. Er wird in der Medizin umgangssprachlich Suicide-Headache bezeichnet, weil Menschen vor Schmerzen während eines Anfalls lieber Selbstmord begingen, als den Schmerz weiter auszuhalten. All das rauschte Jo gerade durch den Kopf, und dann konnte sie sich vorstellen, egal wie heftig die Attacke gerade war, was der Junge gerade durchmachte. Der flehentliche Blick von Chloe tat ihr übriges. "Bitte Jo... du musst ihm helfen."
Jo wusste, dass das Riesenärger für sie geben könnte... aber sie arbeitete schon lange hier und sie würde es Chloes Eltern wohl erklären können. Mit schnellen Schritten ging sie zum Medikamentenschrank, zog eine der schier tausenden Schubladen auf und besah sich die Fächer. Zum Glück hatten sie zwei Päkchen auf Vorrat immer parat, falls Patienten ausser Plan schnell das Spray brauchten. In jeder Packung waren acht Nasenspray-Ampullen, eine davon gab Jo dem Mädchen, dem die Hände zitterten. "Das vergesse ich dir nie, Jo.", sagte Chloe und umarmte die junge Frau, bevor sie wieder nach oben lief.