Köln - 22:00 Uhr
Den späten Nachmittag und Abend verbrachte Felix wieder in der Innenstadt. Er streifte mit tiefer Geduld durch die belebten Einkaufsstraßen, ass gegen Abend, als es bereits dunkel war, seine Ravioli nachdem er sich ein Taschenmesser von einem Stadtstreicher kurz ausgeliehen und in einem Warenhaus, diesmal unerkannt, einen Löffel und eine Gabel mitgehen hat lassen. Immer wieder hielt er die Augen offen, doch diesmal war sein Empfinden auf zwei, ihm bekannte Gesichter ausgerichtet. Einerseits natürlich nach seiner Halbschwester, dessen Gesicht sich mittlerweile tief in seine Seele gebrannt hatte, andererseits hoffte er insgeheim das Mädchen aus dem Supermarkt wieder zu sehen. Warum er genau diesen Gedanken immer wieder an diesem Nachmittag und am Abend noch kam, und warum er sich freuen würde, das Mädchen wieder zu sehen, konnte er selbst nicht genau sagen.
Irgendetwas hatte er in dem Blick des Mädchens gesehen. Vielleicht steigerte er sich gerade selbst darin hinein zu denken, sie hätte traurig, auffordernd oder ablehnend geschaut. Aber sie hatte Felix geholfen und das war sicherlich kein Zufall. Warum sollte ein, ihm völlig fremdes Mädchen das tun? Und wer weiß, ob sie danach mit dem Kaufhausdetektiv nicht noch Ärger bekommen hat? Doch Felix hatte sich nicht getraut das Geschäft nochmal zu betreten, dazu fehlte ihm der Mut wofür er sich selbst verfluchte.
Deswegen sah er die Rückkehr seines Monsters als gerechte Strafe an. Er war gerade wieder in das besetzte Haus zurückgekehrt, um dort erneut zu übernachten. Karla war nirgendwo zu sehen, die meisten Jungs waren ihm aber von der letzten Nacht bekannt, einige wenige grüßten ihn sogar nickend. Wiederum andere waren ihm neu, und schauten arggewöhnisch bis misstrauisch. Als er in dem Flur des Hauses um die Ecke bog, sah er die groß gewachsene, kräftige Gestalt nicht sofort kommen und stieß ein wenig mit ihm zusammen. "Oh sorry, ich...", wollte Felix sich sofort entschuldigen, denn er vermied jede Konfrontation, da er sich eh nicht wehren konnte. Doch der Mann, der wesentlich älter erschien als alle anderen in dem Haus, die größtenteils Jugendliche waren, griff in sofort mit seiner kräftigen Hand am Kragen. Alkoholgeruch schlug Felix entgegen.
"Wer bist du, hmm? Ich kenne dich nicht." Er hatte Kraft, das spürte Felix sofort. Seine Stimme klang autoritär und durchdringend, er hatte seine Haare an den Seiten abrasiert, in der Mitte zottelig. Ein wenig machte er den Eindruck wie ein Altpunk, der hier einfach in der Zeit hängengeblieben war. "Ich... ich bin Felix... ich übernachte... hier bloß.", stotterte der schmächtige Junge, der sich auf die Zehenspitzen stellte weil der Angreifer ihn am Kragen ein wenig hochzog. "Und wer hat dich hierher gebracht? Ich sag dir, wenn du hier meinst, Drogen verteilen zu müssen, dann...", der Mann drohte mit der Faust und diese machte den Eindruck, dass dort wo sie einschlug kein Gras mehr wachsen würde. Felix schüttelte wild den Kopf.
"Jerry! Lass den Jungen los!", klang es durch den Flur und Jerry drehte sich um. Ein ebenfalls recht groß gewachsener Junge mit Haaren, so hell, als wäre er in einen Eimer mit Bleiche gefallen, kam mit einigen Schritten auf ihn zu. "Willst du mir jetzt sagen, was ich zu tun habe?", raunzte Jerry in Richtung des Jungen, der allerdings keinen aggressiven Eindruck machte. Er legte eine Hand um das Handgelenk des kräftigen Mannes. "Quatsch. Aber welche Gefahr soll von dem Jungen ausgehen. Komm, du hast wieder zuviel getrunken." Ja, das hatte er... und das merkte Jerry gerade, als man es ihm sagte. Verdammt, was war aus ihm geworden? Er blickte zu dem schwarzhaarigen Unbekannten, aus dessen Augen die blanke Angst sprach und der sich vehement auf die Lippe biss. Langsam öffnete sich die Hand um den Kragen und Felix glitt wieder auf Normalgröße.
"Scheisse...", murmelte Jerry und sah zu Boden. "Du hast Recht, Jakob. Sorry, Mann." Es schien, als breche das aufgebaute Ego des Aufpassers gerade zusammen zu einem Haufen Schutt. "Schon gut. Er nimmts dir bestimmt nicht übel. Oder?" Jakob schaute zu Felix und nickte kurz. Wie zur Bestätigung schüttelte Felix, dessen Puls sich nur langsam beruhigte, den Kopf als Zeichen, dass er es ihm nicht übel nahm. Der Mann drehte sich von den zwei Jungs und ging langsam den Gang weiter entlang, den er eigentlich gehen wollte, bis er im Untergeschoss verschwand.
Felix musste erstmal durchatmen. "Oh Gott... ich dachte, der macht Hackfleisch aus mir. Danke.", sagte er ehrlich in Richtung des blonden Jakobs, dessen Haare beinahe den dunklen Flur erleuchteten. "Kein Ding. Jerry macht gerade ne schwere Zeit durch. Der ist eigentlich gar nicht so. Eigentlich hat er immer auf uns alle aufgepasst." Kurz verstummte der Junge, der in etwa Felix' Alter sein könnte. "Naja, eigentlich passt er immer noch auf uns auf. Nur manchmal müssen wir auf ihn aufpassen." "Was ist mit ihm passiert?", fragte Felix in einer Mischung aus Interesse und Anstand, nach einem schnellen "Danke" nicht sofort wieder zu verschwinden. Doch Jakob zuckte nur kurz mit den Schultern. "Ich weiß nur, dass er einen guten Freund von früher verloren hat. Aber da muss noch mehr passiert sein. Naja... Wunden heilen und das wird auch bei ihm der Fall sein."
Gerade als sich der Schwarzhaarige dann doch verabschieden wollte, hielt Jakob ihn mit seinem Interesse zurück: "Was verschlägt dich hierher? Ich hab dich hier noch nie gesehen." "Klara hat mich auf der Straße getroffen... und quasi mit hierher gebracht." "Bist du von hier?" Felix schüttelte den Kopf und begann dem blonden Jungen die gleiche Story zu erzählen, die er auch Klara erzählt hat. Und zwar in aller Allgemeinheit, dass er aus Hamburg komme und seine Schwester suche. Kein Wort zu seinem Elternhaus.
Doch im Gegensatz zu Klara, die selbst mehr redete als Felix, hörte Jakob aufmerksam zu und sagte selbst nichts, so dass Felix' Erzählung schon sehr schnell vorbei war. "Und deine Eltern? Warum suchen die nicht nach deiner Schwester?" Der Junge wollte nicht so wirklich mit der Sprache raus, doch war er hier doch unter Gleichen. Keine normalen Jungs, sondern Jungs von der Straße die sich selbst vielleicht schon als gescheitert sahen. "Vater... hmpf." Er zuckte nur mit den Schultern. "Meine Mutter ist sehr krank. Sie kann nicht nach meiner Schwester suchen. Sie weiß ja nicht mal mehr ihren richtigen Namen und hat nur dieses Foto." Mittlerweile hatten sich die beiden auf Jakobs Matratze zurück gezogen und der Junge, der eine auffällige Tättowierung auf der Hand trug, öffnete eine Flasche Bier für Felix.
"Puh, das wird nicht leicht, denke ich. Köln ist groß. Und sie scheint ja nicht hier aus der Szene zu stammen, oder?", schlussfolgerte Jakob anhand des Aussehens auf dem Foto, das Felix ihm dann zeigte. Er fand den wasserstoffblonden Jungen sympathisch, weswegen er ihm ein wenig vertraute. "Ja, das weiß ich. Aber ich will es versuchen, so lange es geht.", beharrte er und steckte das Foto wieder an seinen sicheren Platz. Der blonde Junge wünschte Felix viel Glück, wenn er Hilfe brauchen würde, wäre er da.
Einige Stunden später tigerte Felix wieder durch den Raum, wo er eigentlich schlafen sollte. Mehrere Jungs beschwerten sich, aber der schwarzhaarige Junge konnte vor Schmerzen nicht still liegen. Wie ein heißer Bohrer stach ihm der brüllende Schmerz ins Auge, breitete sich über die Stirn aus bis hinter die Schläfe. "Fuck fuck fuck...", jammerte er dabei, lag sich wieder hin, krümmte sich und hämmerte sich als Gegenschmerz mit der flachen Hand gegen die Stirn. Ein letztes Nasenspray hatte er noch im Rucksack, doch wenn er dieses verbrauchte, hatte er nichts mehr. Und er stellte fest, dass dieser Anfall im mittleren Schmerzlevel lag. Das Spray wollte er für die wirklich heftigen Attacken aufheben. Er müsste morgen sehen, dass er irgendwo etwas her bekam. "Ich halte es aus... ich halte es aus.", flüsterte er.
Er verließ den Raum und ging nach draussen an die eiskalte Luft. All seine Habe nahm er mit, an der frischen Luft wurde der Schmerz nur ein klein wenig erträglicher. Sein Auge tränte und er schwitzte, allerdings nur an der Stelle, wo der Schmerz ihm beinahe den Atem raubte. Immer wieder ging Felix Blick auf sein altes Smartphone... kurz nach halb 2. Mindestens eine Stunde hielt der schlimme Schmerz, der in der Medizin mit Geburtsschmerzen verglichen wurde, nun in seinem linken Auge an. "Nicht mehr lange.", stöhnte Felix, als er durch die menschenleeren Straßen ging. Eine halbe Stunde später war der Anfall vorbei. Seine Stirn kühlte ab, gerade als er an der Apotheke angekommen war und bereits nach Möglichkeiten suchte, einzusteigen. Als der Schmerz abklang, verwarf er sein Vorhaben. "Das ist einfach nicht richtig.", flüsterte er. Er würde die Attacken aushalten... und doch wusste er, dass er bei dem nächsten Anfall töten würde, um mehr Medikamente zu bekommen...