Beiträge von Campino

    Verlassenes Krankenhaus - 11:30 Uhr

    Cablonsky war aufgeregt. Er wusste genau, dass irgendetwas schief gelaufen war, denn Zange war immer ein verlässlicher Kerl gewesen. Niemals jemand, bei dem man Angst haben musste, dass er mit der Kohle einfach durchbrennen würde. Er hatte über zwei Stunden am Treffpunkt gewartet, um ihn abzuholen, und niemand war gekommen. Allerdings hatte Cablonsky auch keinerlei Polizeisirene oder sonstige Beamte vernommen. Verdammt, dachte er grimmig und schlug aufs Lenkrad, bevor er zum alten Krankenhaus aufbrach.
    Cablonsky und Zange waren Freunde, nicht einfach nur Verbrecherkollegen, die zufällig zusammen mehrere Dinger drehten, so wie es Reuter für ihn war. Die beiden kannten sich schon von Jugendtagen an, zusammen drehten sie die ersten Einbrüche und "spezialisierten" sich später dann auf Entführungen und simple Lösegelderpressung. Einmal wurden sie gefasst, weil sie zu gierig waren, und saßen gemeinsam im Knast. Sie ergänzten sich hervorragend, der bullig gebaute Cablonsky, der keine Gewalt scheute und Opfer wie Verwandte des Opfers perfekt einschüchtern konnte, und auf der anderen Seite Zange, der so unscheinbar erschien, dass er der perfekte Lockvogel für die Entführungsopfer war. Wenn man Zange sah, sah man einfach einen Durchschnittstyp, einer der einfach nichts Böses im Schilde führen konnte. So kam es dann auch, dass Zange im Knast häufiger in Schwierigkeiten geriet, weil einige dachten, dass er ein kleines Opfer war, das sich nicht wehren konnte, doch sie hatten alle nicht mit dem Freund des "kleinen Opfers" gerechnet. Sie probierten es alle nur einmal, und ließen Zange dann in Ruhe nachdem Cablonsky die ersten Nasen im Knast gebrochen hatte. Dass sie gemeinsam weiterarbeiten würden, war für sie glasklar, und so stellte Cablonsky an Reuter die Bediengung, dass Zange mit von der Partie war.

    Doch jetzt war etwas schief gelaufen. Der Geiselnehmer hielt auf dem Braschenparkplatz vor dem einsamen, halb verfallenen Krankenhaus und stieg hastig aus. Er wetzte durch die zerbrochene Eingangstür, den Eingangsbereich, in dem keinerlei Licht mehr funktionierte hin zu den verkommenen und knarzenden Treppen. Rechts und links waren die Wände voll Graffiti und Sprüchen beschmiert, bis er endlich in dem großen Saal ankam, den Reuter als Labor genutzt hatte. Freilich sah er jetzt wieder komplett leer und verlassen aus, denn der Mediziner hatte bereits aufgeräumt. "Wo bleibt ihr denn? Seid ihr soweit?", fragte er ungeduldig. Er kam gerade von dem Haus, in dem die letzten Mädchen noch waren, die sie als Geisel genommen hatten, die man jetzt nicht mehr gegen Geld eintauschen konnte. Nachdem Reuter erfahren hatte, dass sie irrtümlicherweise die Tochter eines Polizisten gekidnappt hatten, fürchtete er nicht nur das Gesetz, sondern vor allem die Rache eines Vaters, und war darauf erpicht, so schnell wie möglich das Land zu verlassen.
    "Reuter, es ist was schiefgelaufen...", berichtete Cablonsky etwas japsend. "Schiefgelaufen?", wiederholte Reuter und seine Stimme klang nicht nach guter Laune. "Zange ist nicht am Treffpunkt erschienen... ich habe fast zwei Stunden dort gewartet." Der Mediziner sah überrascht auf, und sah kurz auf die Uhr. "Er hat mich angerufen, dass alles geklappt hat. Um zehn nach neun. Also war die Übergabe da schon durch... oder?" "Oder was?" "Oder er will uns bescheissen und ist mit der Kohle abgehauen." Reuter sah Cablonsky beinahe herausfordernd an, doch der schüttelte sofort den Kopf. "Ich kenne Zange schon seit über 20 Jahren. Und wenn wir beide dich bescheissen wollen würden, wäre ich kaum hier." Der gebildete Reuter, der körperlich keine Chance gegen Cablonsky gehabt hätte, nickte verkniffen. Die Nachricht war nicht gut, denn 100.000 Euro fehlten ihm nun, letztendlich war die Entführung des Mädchens ein kompletter Reinfall. Es gefährdete sie, und jetzt war nicht mal Geld dafür rausgesprungen.

    "Na gut, dann ist es halt so. Lass uns fahren.", sagte der Mann und nahm einen großen Schalenkoffer in die Hand. Dort waren all seine Aufzeichungen drin, alle wichtigen Dokumente und Ordner zu seinen Forschungen. In seiner Jackentasche brannten drei Flugtickets nach Brasilien, ein Land das kein Auslieferungsabkommen mit Deutschland hat, und wo sie erstmal untertauchen wollten, weiter forschen wollten bis das Geld knapp wurde. Dann wären einige Jahre ins Land gegangen, und man könnte noch einmal beginnen. "Wohin?", fragte Cablonsky etwas ratlos und stemmte die Hände in die Hüften. "Ja, wohin wohl? Zum Flughafen. Unser Flug geht in zweieinhalb Stunden." Reuter ging bereits mit strammen Schritten zum Ausgang des großen Saales. "Auf keinen Fall!", schmetterte Cablonsky ihm hinterher. "Ich lasse meinen Freund nicht einfach hier sitzen, und verpiss mich."
    Reuter fühlte sich Cablonsky zwar körperlich unterlegen, geistig jedoch meilenweit voraus. Er seufzte, ließ den Koffer sinken und legte, beinahe übertrieben väterlich gespielt, den Kopf etwas schief. "Mein Junge...", sagte er mit ruhigem Ton. "Was stellst du dir denn vor? Sollen wir deinen Freund befreien? Mit zwei Pistolen in ein Polizeirevier stürmen? Oder sollen wir warten, bis die Polizei uns findet?" "Nein... wir rufen den Bullen an, und sagen ihm, dass seine Tochter stirbt, wenn er Zange nicht laufen lässt." "Ja, gute Idee. Dann schicken sie uns Zange direkt mit einem Peilsender hierher.", meinte Reuter sarkastisch und lachte auf. "Pass auf. Wenn Zange sich an die Regeln hält, wird er die Bullen hinhalten. So ist es vereinbart, dass der Rest dann verduftet. Also halt dich jetzt gefälligst an die Regeln." Cablonsky biss die Zähne aufeinander, dass die Kiefern schmerzten. Klar hatten sie das ausgemacht, aber an den Ernstfall hatte nie jemand gedacht. Er schüttelte den Kopf. "Na gut. Ich meine, ich nehme es euch nicht übel, dass durch eure Amateurhaftigkeit wir jetzt unsere Zelte hier abbrechen müssen, und noch nicht mal bei dieser Entführung Geld für uns herausgesprungen ist. Aber wenn du nicht mit willst, bitte." Reuter nahm zwei Tickets aus seiner Jackentasche und lag für Cablonsky auf den Tisch. "In ein paar Jahren werde ich sicher andere Leute finden, die für Geld alles machen... und es besser machen.", sagte er verächtlich und wandte Cablonsky den Rücken zu, der seine Knarre zog.


    Dienststelle - zur gleichen Zeit

    Semir parkte den BMW auf seinem Stammparkplatz und atmete tief durch. Er war noch vollkommen aufgewühlt von dem Weinkrampf seiner Frau, von dem sie sich erst nach mehreren Minuten beruhigte. Andrea's Mutter kam heraus, und redete ihrer Tochter gut zu, nahm sie in die Arme und führte sie langsam ins Haus. Sie nickte Semir dabei freundlich zu als Zeichen, dass er sich ganz auf seinen Job und die Befreiung von Ayda konzentrieren solle... Andrea wäre hier in guten Händen. Semir war dafür dankbar, doch die Gedanken um seine Frau und seine Tochter konnte er nicht verscheuchen. Dabei dachte er auch an Lilly, die heute mittag spätestens, wenn sie aus dem Kindergarten kam, merken würde, dass etwas nicht stimmt, wenn Ayda wieder nicht nach Hause kommt.
    Mit leicht zitternden Händen stieg er aus und durchschritt die Eingangstür zur Dienststelle. Im Großraumbüro hielten sich nur Hotte und Bonrath auf, die beide aufblickten als Semir eintrat. "Hallo Semir... wie... wie gehts dir?", fragte Herzberger vorsichtig, denn er konnte sich denken, wie Semir sich jetzt fühlte. Der erfahrene Kommissar versuchte ein Lächeln. "Es... es geht." Er versuchte nun stark zu sein, auch wenn hier niemand seine Schulter benötigte wie Andrea. "Sind... sind Kevin und Ben beim Verhör?", fragte er mit vorsichtiger Stimme und deutete mit dem Daumen auf die hinteren Räume. Während Bonrath stumm nickte, meine Hotte vorsichtig: "Du sollst aber erst mit der Chefin reden... sie ist im Nebenzimmer."

    Der kleine Polizist konnte sich bereits denken, was die Chefin ihm zu sagen hatte. Seine Handflächen schwitzten, bei dem Gedanken daran, dass der Entführer seiner Tochter nur einen Raum weitersaß, und er versuchte, seinen Puls herunter zu kriegen. Er ging in den kleinen Raum neben dem Verhörzimmer, wo Anna Engelhardt und Jenny beieinander standen und in den Verhörraum blickten. "Semir... was machen sie hier?", fragte die Chefin sofort, und wandte ihren Blick vom Spiegel weg. "Na, Chefin... ich will...", begann er verständnislos, als sein Blick durch die Glasscheibe, in den Verhörraum schweifte. Er sah Ben am Tisch sitzen, sah Kevin dahinter mit verschränkten Armen an der Wand stehen. Er bemerkte, dass nur Ben redete und der Kerl, mit den kurzen brauen Haaren, der aussah wie ein völlig gewöhnlicher Kerl, der keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte, kein Wort sagte. Er saß gerade auf dem Stuhl, hatte die Hände auf dem Tisch gefaltet und schien aufmerksam den Fragen zu lauschen, schüttelte aber immer wieder den Kopf.
    "Ist das der Kerl?", fragte Semir mit scheinbar ruhiger Stimme, ohne den Blick von dem Spiegel zu wenden. Jenny wurde mulmig, denn sie spürte, dass Semirs Puls gerade hochkochte, als er den Geiselnehmer sah. Scheinbar brach gerade jeder gute Vorsatz, ruhig zu bleiben, in sich zusammen. "Semir... wir sollten...", sagte die Chefin ruhig, als sie erneut von Semir unterbrochen wurde: "IST das der KERL?", wiederholte er seine Frage, diesmal lauter, diesmal mit direktem Blick auf die beiden Frauen, wobei Jenny innerlich zusammenzuckte. Als hätte er das leichte, und stumme Nicken der Chefin nur abwarten wollen, verließ der Polizist das Nebenzimmer mit lautem Knall, um nebenan zu gehen. Das laute: "SEMIR!" der Chefin hörte er gar nicht mehr.

    Semir's Wagen - zur gleichen Zeit

    Semir spürte in sich eine unendliche Müdigkeit aufsteigen, als er sich in sein Auto setzte und in der Nähe des Domplatzes auf Andrea wartete. Es fühlte sich schrecklich an, so hilflos zu sein. Er sah immer wieder auf sein Handy, ersehnte sich eine kurze SMS von Ben, der vielleicht schrieb: "Wissen wo Ayda ist.", oder "Der Typ redet." Irgendetwas, was ihm Mut machte, was die Verzweiflung ein wenig zur Seite schob. Doch das Handy blieb stumm, es blieb bewegungslos. In Semirs Auto vergingen Sekunden wie Stunden, bis Andrea endlich mit eiligen Schritten an den silbernen BMW herankam und die Beifahrertür aufriss. "Und? Hast du schon was gehört?", fragte sie sofort, als die Tür ins Schloß fiel, doch Semir schüttelte nur stumm den Kopf. "Nein... Kevin hat ihn erwischt, aber er hat noch nichts gesagt."
    Andrea's hoffungsvoller Gesichtsausdruck wandelte sich sofort in Traurigkeit, in Resignation. Haben sie es wirklich richtig so gemacht? War die Entscheidung, den Kerl festzunehmen, wirklich die Richtige? "Was... was wenn er nicht redet?", fragte sie leise, als Semir den Motor anließ und den BMW in Bewegung setzte. "Der wird reden...", war seine kurze Antwort, die voll Überzeugung kam. "Ist dir etwas aufgefallen an ihm?" Andrea dachte kurz nach, als die Innenstadt von Köln langsam an ihrem Auge vorbeizog. Sie wurde bald wahnsinnig vor Angst und Sorge um Ayda. Lilly ließ sie nicht mehr in den Kindergarten, bis die Kerle hinter Schloß und Riegel waren, die jüngste Tochter war momentan bei den Großeltern, den Eltern von Andrea.

    "Eigentlich ... nichts. Er sprach hochdeutsch. Er war sehr ruhig und höflich.", sagte Andrea nach einigen Minuten Bedenkzeit, die Semir ihr auch ließ. Sie klammerte sich mit der rechten Hand an den Türgriff, als wäre das eine Art Hoffnung, an die sie sich klammerte. "Er sagte, dass Ayda freigelassen wird.", sagte sie dann noch hinterher, und es klang als würde sie sich selbst die Schuld geben, dass sie ihm die Gelegenheit nicht gab, mit dem Geld zu flüchten um dieses Versprechen wahr zu machen. Semir nickte nur stumm.
    Der Polizist würde Andrea zu ihren Eltern waren. Sie war mit den Nerven fertig und hatte nicht die Kraft, dem Mann noch einmal gegenüber zu treten, der ihre Tochter entführt hatte. Als er gerade kurz vor dem Wohngebiet war, fiel Andrea doch noch was ein. "Warte mal... er sagte: 'Wenn etwas schief läuft, wird ihre Tochter sie nie wiedersehen.'" Dabei sah sie ihren Mann fest an. "Ja und?", fragte der, denn er hatte nicht genau auf die Formulierung geachtet. "Na... das klingt doch merkwürdig. Normalerweise sagt man doch, dass wir unsere Tochter nie wieder sehen. Aber er sagte, dass unsere Tochter mich nie wieder sieht. Das kam mir komisch vor, aber ich habe nicht weiter drüber nachgedacht." Jetzt fiel auch Semir diese eigenartige Formulierung auf, und er wusste sofort, was damit gemeint war. Würde etwas schief gehen, würde Ayda nie mehr aus dem Koma erwachen. Andrea und er würden Ayda zwar wiedersehen, sie ihre Eltern aber nicht mehr. Als ihm diese Erkenntnis auffiel, lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken.

    Er wandte sich an Andrea, als er vor dem Haus seiner Schwiegereltern parkte, und fasste Andrea's Hände. "Schatz, ich habe dir etwas verschwiegen... weil ich wollte, dass du einigermaßen klaren Kopf behälst.", sagte er und sah seine Frau dabei fest an. Sie schluckte und war auf jede schlimme Überraschung gefasst. "Diese Männer haben bereits mehrere Mädchen entführt. Sie wurden alle gefunden... und alle lagen im Koma. DIe einen mehr, die anderen weniger." Er konnte sehen, wie das Entsetzen in dem Blick seiner Frau wuchs. "Deswegen hat der Kerl gesagt, dass Ayda uns nie wieder sehen wird. Wir werden sie finden, aber sie wird uns dann nicht sehen." Bei den letzten Worten stockte selbst dem Polizisten, der alles gesehen hatte, der Atem, während sich Andrea's Augen mit Tränen füllten. Sie begann den Kopf zu schütteln, ihre Hände begannen zu zittern. "Bitte Andrea... verlier nicht den Mut. Deswegen mussten wir den Kerl festnehmen, weil wir hoffen, dass wir Ayda so schneller finden und die Typen überraschen. Wenn wir ihn mit dem Geld hätten laufen lassen...", wieder stockte er kurz, und die ersten Tränen seiner Frau fielen auf die Mittelkonsole "... dann hätte Ayda garantiert im Koma gelegen. So haben wir eine Chance."
    Die zweifache Mutter sah in diesem Moment nicht die Chance, Ayda bei Bewusstsein zu retten. In diesem Moment, als Semir ihr die Tragweite des Falles offenbarte, sah sie vor ihrem inneren Auge nur ihre kleine Tochter, wie sie bewusstlos irgendwo lag... im Gebüsch, auf einer alten Matratze, in einem sauberen Krankenhausbett. Immer wieder schüttelte sie den Kopf, die Worte ihres Mannes nahm sie gar nicht mehr wahr, und sie wurde von einem fürchterlichen Weinkrampf erfasst. Ihr Gesicht verzerrte sich, sie presste die Augen zusammen und ließ allen Emotionen freien Lauf, während Semir sie über die Mittelkonsole in den Arm schloß. "Meine kleine Tochter...", schluchzte Andrea herzzereissend und all die angestaute Angespanntheit, die Emotionen von heute Morgen, brachen aus ihr heraus. Nichts konnte diesen Sturzbach aushalten, und nur die Tatsache, dass sie von ihrem Mann gehalten wurde, half ihr ein wenig. Sie würde niemals die Entscheidung Semirs in Frage stellen, denn sie vertraute ihrem Mann, dass dieser nur das Beste für Aydas Gesundheit entscheiden würde... doch Semir vertraute sich selbst nicht...


    Dienststelle - 11:00 Uhr

    Ben und Kevin wurden von 6 neugierigen Augen empfangen, als sie das Großraumbüro betraten. Der Polizist, mit den Händen in den Wuschelhaaren, ging voraus und spürte, wie sein Herz ihm bis zum Hals schlug und ihn langsam eine unangenehme Übelkeit überkam. Er spürte, dass die Situation nicht so lief, wie sie es sich erhofft hatten, nach nur 20 Minuten Verhör. Sein junger Kollege Kevin ging hinter ihm her und meinte mit lauter Stimme: "Sollen wir uns jetzt weiter von dem zum Narren halten lassen?" Bonrath, Hotte und Jenny spürten sofort, dass sich noch kein Erfolg eingestellt hatte, als sie Kevins Stimme hörten, und Ben sich sofort zu ihm herumdrehte: "Was willst du denn machen? Ihn zusammenschlagen?" "Das wäre mal ein Anfang."
    Beide Polizisten atmeten tief durch, als auch die Chefin im Büro auftauchten. "Ich weiß, dass ihnen das nahe geht. Aber wir müssen jetzt unbedingt einen kühlen Kopf bewahren, sonst war alles umsonst.", sagte sie mit strenger Stimme, vor allem in Kevins Richtung. Bei Ben hatte sie dieses Mal eher weniger Bedenken, auch wenn sie spürte dass dessen Nerven so langsam auch am Ende waren, denn er hatte eine stärkere emotionale Bindung zu Semir und Ayda als Kevin. "Sie müssen den Mann jetzt bearbeiten. Verwickeln sie ihn in Gespräche, sie müssen versuchen, ihn zum Reden zu bewegen, egal über was. Irgendwann wird er einen Hinweis geben.", sagte die Chefin mit erhobenem Zeigefinger, als würde sie zweien Schülern eine schwere Matheaufgabe erklären. Und die beiden Polizisten gehorchten, sie nickten aber sie waren selbst nicht zufrieden. Ben überkam das ungute Gefühl, mit der Verhaftung doch vielleicht einen Fehler gemacht zu haben, wenn der Kerl sich standhaft weigerte, auch nur irgendwas zu sagen.

    "Wir müssen herausbekommen, wer er ist.", sagte Kevin dann. "Hotte... mach zwei drei Bilder von ihm, und schick die Bilder an alle LKA-Dienststellen im Bundesgebiet." Hotte nickte sofort, und nahm aus seiner Schreibtischschublade eine kleine Digital-Kamera, die sie auch zu Unfällen auf der Autobahn immer mitnahmen. Auch wenn die Welt von Smartphones und mobilem Internet für den dicken Polizisten ein Fremdwort war, so modern war er bereits. "Hartmut soll die Bilder durch seine Gesichtserkennungssoftware jagen. Die gleicht an bestimmten Gesichtspunkten die Bilder mit der Vorbestraften-Kartei.", sagte Ben, und Jenny nickte sofort. "Ich ruf ihn an, und sage ihm schon mal Bescheid, dass er alles vorbereiten soll.", sagte sie und griff zum Telefon.
    Dann sah Ben seinen Partner an. "Lass uns wieder reingehen. Die Chefin hat recht... wir müssen ihn mürbe machen. Der Typ weiß genau, was er tut... mit Drohungen werden wir ihn nicht einschüchtern können." Kevin konnte nichts anderes, als ihm zu zu stimmen, bevor die beiden wieder zurück in den Verhörraum gingen.

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    Mark könnte ohne Probleme auch unter die Sänger gehen :) Zusammen mit Helene Fischer.

    Dienststelle - 10:30 Uhr

    Die Spannung in der Dienststelle war zum Schneiden. Natürlich hatten Ben und Semir ihre wichtigsten Freunde in den Plan eingebunden, und alle hatten geschworen, nichts davon nach draussen dringen zu lassen. Alle Beteiligten gingen bewusst ein hohes Risiko ein, denn sie hielten den kompletten Vorgang vor dem LKA geheim, die den Fall der Komakinder eigentlich betreuten. Die Chefin saß in ihrem Büro, und bei jedem Vorgang, den sie begann zu bearbeiten, schweiften ihre Gedanken zur Geldübergabe ab. Auch die beiden Streifenpolizisten Bonrath und Herzberger hielten ihre Touren heute kürzer als gewohnt, um nichts zu verpassen, wie die Geldübergabe ausgegangen war. Und vor allem Jenny war nervös, und blickte immer wieder aus dem Fenster. Sie wusste, dass Kevin bei der Übergabe dabei sein würde, und machte sich einerseits um ihn Sorgen, andererseits aber natürlich auch um die kleine Ayda. Das Mädche war auch der Grund, warum jeder der Cobra-Familie das Risiko eines Disziplinarverfahrens auf sich genommen hatte.
    Bonrath und Herzberger kamen gerade herein und legten ihre Polizeimützen auf dem Schreibtisch ab. "Und, gibts schon etwas Neues?", fragte der dicke Polizist sofort in Jennys Richtung, die aber wortlos den Kopf schüttelte. Sein langer dürrer Kollege blickte derweil auf die Uhr und meinte: "Die Übergabe müsste doch längst durch sein... oder es ist etwas schief gelaufen." Sofort wurde er von Hotte angestoßen: "Mensch Dieter... denk doch nicht immer so negativ." "Schon gut, schon gut.", wiegelte der ab und begab sich an seinen Schreibtisch.

    Dann war es endlich soweit... Ben kam mit seinem Dienstwagen vor der großen Fensterfront vorgefahren und parkte auf seinem Parkplatz. Hinter ihm saß Kevin, der auf den festgenommenen Zange aufpasste, und ihn nun aus dem Wagen zog. Sie hatten dem Verbrecher die Hände auf dem Rücken mit Handschellen fixiert. "Sie kommen.", rief Jenny, und sofort blickten ihre Kollegen gespannt auf, und richteten die Köpfe in Richtung des Flurs, der durch führte nach hinten zu den Verhörräumen.
    Im Großraumbüro wurde es mucksmäuschenstill, als die Zwischentür zum Flur aufging, und die drei Männer hereinkamen. Zange ging voraus und hielt den Blick stur geradeaus, Kevin ging in seiner zerrissenen Jeans und alten Lederjacke hinter ihm und hatte dem Mann warnend eine Hand auf die Schulter gelegt. Ben kam danach und meinte zu seinem Kollegen: "Ich komm sofort.", bevor er nochmal ins Büro abbog. Er nickte seinen Streifenkollegen kurz zu, ohne sofort zu erzählen und streckte den Kopf ins Büro der Chefin. "Wir haben den Typ, der das Geld in Empfang nehmen wollte, verhaftet.", sagte er ohne große Begrüßung. "Hat er schon etwas gesagt?", fragte seine Vorgesetzte sofort, doch ihr Beamter schüttelte den Kopf. "Noch nicht." "Ben, auch wenn wir diese Aktion ausserhalb unserer Zuständigkeit gefahren haben... wir können uns nicht wie im wilden Westen benehmen, das gilt besonders für das Verhör. Sie wissen, was ich damit meine.", mahnte Anna Engelhardt mit erhobenem Zeigefinger. Ben zog ein wenig eine Schnute, und legte den Kopf ein wenig schief. Der Blick der Chefin wurde strenger: "Sie wissen, was ich damit meine. Sie dürfen kein Geständnis aus ihm herausprügeln. Und deswegen will ich nicht, dass Semir den Kerl vernimmt, ist das klar?" "Aber Chefin... Sie wissen doch genau, wie Semir ist. Der Kerl ist beteiligt an der Entführung seiner Tochter, da werde ich ihn nicht davon abhalten..." "Und genau, weil ich ihn kenne, und weil mir dieser Umstand bewusst ist, halte ich es für zu gefährlich, dass Semir in seinem jetzigen Zustand ein Verhör führt.", wurde er von seiner Chefin unterbrochen. "Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt." Ben nickte, und verschwand.

    Kevin hatte Zange per Hand bis zu dem Stuhl im Verhörzimmer geführt. Dort nahm er ihm die Handschellen ab, nicht ohne die kurze und prägnante Warnung: "Mach ja keinen Blödsinn." Der junge Polizist war eigentlich ein geduldiger Zeitgenosse, der es verstand seine Arroganz und äusserliche Ruhe als Druckmittel einzusetzen. Doch vor dem Hintergrund, dass dieser Kerl die kleine Tochter seines Freundes entführt hatte, würde seine Hemmschwelle sicherlich etwas heruntergesetzter sein als sonst... und Ben würde es wohl ähnlich gehen. Zange schien ebenfalls die Ruhe selbst, hin und wieder sah er mit seinen flinken Augen nach rechts und links, sah neugierig auf das Mikrofon vor ihm und dann wieder zu Kevin, der sich ihm gegenüber hinsetzte.
    Der Polizist wartete allerdings auf Ben, der auch sofort dazu kam, und sich neben Kevin setzte. "Wir sollen nett zu ihm sein.", flüsterte er seinem jungen Freund noch schnell ins Ohr, was diesen etwas verständnislos aufblicke ließ. "Sind wir doch immer." Sonst hatten sie immer irgendwelche Akten mit Informationen vor sich, um ein Verhör zu führen, doch jetzt interessierte sie eigentlich nur eine Frage, und Ben richtete sich sofort an den Verdächtigen. "Wo ist das Mädchen?" Zange blickte unsicher, er bewegte die Lippen, als würde er Kaugummi kauen, bevor er antwortete: "Das darf ich ihnen nicht sagen." Dabei wirkte er ruhig, als würde er gerade sein Mittagessen bestellen. "Hier hört dir, ausser uns niemand zu. Wo ist das Mädchen?", wiederholte Ben mit noch ruhiger Stimme. "Geben sie mir das Geld, und lassen sie mich gehen. Dann wird das Mädchen freigelassen." Ben und Kevin blickten sich verständnislos an, ob dieser Unverfrorenheit des Mannes gegenüber. "Ich weiß nicht, ob du es noch nicht gemerkt hast, aber du hast hier nichts zu fordern, mein Freund.", sagte der Polizist mit dem Wuschelkopf und stützte die Ellbogen auf die Tischplatte.

    Ben war etwas nervös... er wusste, dass er keine Fehler machen durfte, denn jetzt war er verantwortlich für Aydas Leben, solange Semir nicht da war. Wurde er zu bockig, würde der Kerl vermutlich schweigen. Jetzt schien er noch naiv und unsicher, doch war das vielleicht nur gespielt? Verfolgte der Typ einen Plan? "Also nochmal: WO ist Ayda?", fragte er erneut mit Nachdruck, aber freundlicher Stimme. Zange fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und blickte zur Uhr an der Wand. "Ich habe Durst... könnte ich vielleicht einen Becher Wasser haben?" Kevin hob bei der Frage den Kopf ein wenig höher, und sein Mund öffnete sich etwas vor Empörung, auch Ben schnappte nach Luft. Noch bevor sein Kollege eine Antwort geben konnte, sagte er: "Kevin, holst du bitte einen Becher Wasser?" Mit fast ungläubigen Blick wendete der Polizist seinen Kopf nun zu Ben. "Was soll ich?", fragte er, als hätte er sich gerade verhört, und Ben wiederholte seine Bitte: "Holst du BITTE einen Becher Wasser?" Geräuschvoll Luft holend, stand Kevin ruckartig vom Tisch auf und ging wortlos aus der Tür hinaus, während Zange lächelnd nickte, und sich bei Ben mit gespielt trockener Stimme bedankte.
    Kevin musste draussen auf dem Flur erstmal tief durchatmen, als er von der Chefin, die im Nebenraum das Verhör beobachtete, aufgehalten wurde. "Kevin, ich weiß, was sie jetzt denken...", begann sie. "Dass ich dem Kerl da drinnen liebend gerne die Zähne einschlagen möchte?" Den tadelnden Blick von Anna Engelhardt konnte er ihr nicht verübeln. "Das auch. Aber Ben macht das richtig. Wir müssen vorsichtig sein, denn sie merken doch sicherlich, dass diese Naivität nur aufgesetzt ist. Wenn wir ihn bedrohen oder wütend werden, bringt uns das gar nichts. Spielen sie das Spiel mit." Anna Engelhardt hatte eine hervorragende Eigenschaft, ihren Männern oft in den Kopf blicken zu können, und es war genau die Ansprache, die Kevin jetzt brauchte, um sich zu beruhigen. Er ging zu dem Wasserspender auf dem Flur, füllte einen Plastikbecher und trug ihn zurück in den Verhörraum. Dort stellte er ihn vor Zange auf den Tisch, ohne einen Tropfen zu verschütten. "Danke sehr...", sagte dieser lächelnd und begann hastig zu trinken.

    "Gut... dann sagen sie mir wenigstens, wer sie sind? Wie heißen sie?", fragte Ben, der alle Kraft in sich aufbringen musste, um gegen den Mann ruhig zu bleiben. Der Typ, den sie Zange nannten, blickte kurz auf die Tischplatte. "Das tut nichts zur Sache. Wichtig ist nur, dass sie mir das Geld geben, damit das Mädchen freigelassen werden kann." Die Sätze wurden immer von einer Stille im Raum unterbrochen, die etwas Unheimliches hatte. Zange war äusserlich so ruhig, und doch schien er so sehr überzeugt davon, dass Ben und Kevin ihm die Tasche mit dem Geld wieder gab, und ihn hier raus spazieren ließ. "Wir wissen, dass ihr die Kinder irgendwie ins Koma befördert, bevor ihr sie freilasst.", sagte Ben, wobei er von einer Mehrzahl sprach... was er ja nicht wusste, und auch Zange hatte bisher nie eine Mehrzahl an Tätern genannt. Bei dem Vorwurf zuckte er nur mit den Schultern und nuckelte erneut an seinem Becher Wasser. "Wo ist Ayda?" "Tut mir leid... das darf ich ihnen nicht sagen. Geben sie mir das Geld, und sie kommt frei."
    Ben atmete tief durch und lehnte sich zurück, während er in das vollkommen ruhige Gesicht des Mannes blickte. Er besah sich seine Fingernägel, kratzte sich im Gesicht und faltete die Hände dann auf dem Tisch. "Wer verbietet ihnen denn, über das Mädchen zu sprechen?", fragte nun Kevin, der sich bisher mit Fragen zurückgehalten hatte. Zange blickte ihn nun an, und lächelte etwas naiv: "Oh, ich darf über sie sprechen. Ich darf ihnen nur nicht sagen, wo sie sich befindet, bis sie mich mit dem Geld gehen lassen. Dann wird sie freigelassen." Es schien, als würde er eine Schallplatte abspielen, die einen gewaltigen Sprung hatte. Ben stand vom Tisch auf, streckte den Kopf heraus und rief einen Beamten in den Verhörraum. "Pass mal auf ihn auf.", sagte er kurz, dann winkte er Kevin zu, dass die beiden den Verhörraum verließen.

    Domplatz/Lieferwagen - 9:15 Uhr

    Kevins Herz klopfte gegen seinen Brustkorb, während er im mäßigen Tempo den mutmaßlichen Geiselnehmer verfolgte. Er hatte die Augen weit geöffnet, sah immer mal über die Köpfe oder zwischen den Körpern der anderen Passanten hindurch, um den Kerl nicht aus den Augen zu verlieren. Er atmete erleichtert auf, als er die erste Bushaltestelle ignorierte und weiterging. Über seinen Knopf im Ohr konnte er bruchstückhaft die Diskussion zwischen Semir und Ben mithören, und er brauchte so langsam eine Entscheidung. Sollte er den Kerl festnehmen, oder laufen lassen? Sollte er vielleicht selbst die Entscheidung treffen? Nein, das würde Kevin niemals tun. Es ging um das Leben von Semirs Tochter, und alleine Semir hatte die Befugnis zu bestimmen, wie sie nun verfahren würden.
    Im Lieferwagen spitzte sich die Stimmung zu, und vor allem Ben wusste nicht, wie er auf Semir reagieren sollte. Der sonst so souveräne, erfahrene Kommissar stand gebückt mit der Hand am Funkgerät da, als hätte er Todesschmerzen. "Ich kann verstehen, dass du Angst hast.", versuchte sein junger Partner mit ruhiger Stimme zu sprechen, doch ganz konnte der seine Aufregung auch nicht verbergen. Ben wollte nun der Souveräne sein, der Semir sonst für ihn war. "Aber wenn wir ihn laufen lassen... dann haben wir nichts mehr in der Hand. Dann können wir nur hoffen." "Semir, Ben? Was ist denn los bei euch?", hörten sie Kevins unterdrückte, aber leicht ungeduldig klingende Stimme. Der erfahrene Polizist schob die Zähne übereinander, sah zwischen dem Funkgerät, Ben und Hartmut immer wieder hin und her. Letzterer zuckte nur hilflos mit den Schultern, er war in dieser Frage der völlig falsche Mann. Er würde die beiden Polizisten in allem unterstützen, was sie vor hatten, so sehr er konnte... aber eine Entscheidung fällen, das konnte er nicht.

    Ben griff seinen Partner fest am Unterarm. Dabei sah er ihm direkt in seine braunen, oft warmherzig blickenden Augen... die jetzt nur noch pure Verzweiflung ausstrahlten. "Semir! Ich versprech dir: Wir werden die Kerle kriegen. Wir werden das Versteck aus diesem Typen herausquetschen, wo Ayda ist, und wir werden deine Tochter befreien! Ich verspreche es dir!", sagte er mit fester Stimme und weiten Augen, wobei er den Arm seines Freundes ein wenig schüttelte. Es wirkte, denn Semir vertraute Ben mehr als irgendjemand anderem auf dieser Welt. Seine Lippe zitterte zwar immer noch, als er sie aufeinanderpresste, aber er nickte zuckend. "Ja... du hast recht.", flüsterte er beinahe und nahm das Mikro dicht an den Mund. "Kevin?", fragte er zuerst, als bräuchte er noch eine Bestätigung, dass ihr junger Kollege überhaupt noch am Funk war. "Ja?" "Schnapp dir den Kerl.", konnte Kevin auf der Straße die diesmal viel sicherer klingende Stimme seines älteren Kollegen hören, worauf er murmelte: "Na endlich..."
    Semir ließ das Mikrofon langsam sinken und biss sich auf die Lippen. Es fühlte sich an, als hätte er gerade ein Urteil über Ayda gefällt, und er würde selbst nicht wissen, wie dieses Urteil ausgehen wird. Sein Partner nickte ihm aufmunternd zu, wollte ihm zeigen dass es die richtige Entscheidung war. Mit dem Kerl hatten sie es in der Hand, und sie mussten sich nicht auf eine Ungewissheit verlassen, wenn die Kerle über alle Berge waren. "Wir tun das Richtige, Semir.", sagte er noch leise, während sie ungeduldig auf eine Erfolgsmeldung ihres jungen Straßenpolizisten warteten.

    Kevin beschleunigte seinen Gang etwas, als er von Semir das Signal zum "Fassen" bekam. Langsam aber sicher wurde der Abstand zwischen den beiden Männern immer kleiner, und Kevin ließ den Kidnapper keine Sekunde mehr aus den Augen. Beinahe automatisch zog der Polizist den Reissverschluss seiner verschlissenen Lederjacke etwas auf, da er im Inneren der Jacke seinen Halter mit der Waffe hatte, falls er die brauchen würde. Ausserdem hatte er in der Innentasche auch ein paar Handschellen und seinen Dienstausweis.
    Einmal sah der Kerl sich um... doch es waren so viele Leute auf dem Gehweg, und er blickte nur kurz hinter sich, dass sich die Gestalt, die ihm jetzt schon eine Weile lang folgte, nicht in seinem Blick manifestiert hatte. Er schulterte seine Tasche mit dem Geld etwas höher, und fühlte sich abermals erleichtert, die Übergabe gut über die Bühne gebracht zu haben. Noch drei Häuserecken weiter, und dort würde Cablonsky ihn abholen kommen. Der Schreck fuhr dem Mann durch Mark und Bein, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte, die ihn festhielt. "Entschuldigen sie, Polizei.", hörte er eine scheinbar gelangweilte Stimme neben sich, die ihm auch noch einen Dienstausweis unter die Nase hielt. "Dürfte ich vielleicht mal einen Blick in ihre Tasche werfen?" Zange sah dem Penner, den er eben am Dom schon gesehen hatte direkt ihn die eisig blauen Augen, und der Herzschlag des Verbrechers setzte für einen MOment aus. Nein, das konnte jetzt unmöglich ein Zufall sein, dass ein als Penner verkleideter Polizist, der eben bereits am Domplatz war, wissen wollte was in seiner Sporttasche ist. "Ich... ich...", begann er kurz zu stammeln, und erinnerte sich daran, was er von dem Mediziner eingeredet bekam, für den Fall dass er verhaftet werden würde. Der Kerl ließ langsam die Sporttasche von der Schulter rutschen, bis sie klatschend auf den Boden fiel. "Keine Dummheiten...", warnte Kevin den Mann und schob die Jacke etwas zur Seite, um seine Waffe zu zeigen, als er sich bückte und einen Blick in die Tasche warf. Die Bündel lagen verstreut herum, er wollte nur sicher gehen, dass er nicht den Falschen verhaftete.

    "Sie sind vorläufig festgenommen.", sagte Kevin und wunderte sich insgeheim, dass der Mann keinerlei Widerstand leistete. Bereitwillig drehte er sich zur Häuserwand, stemmte die Hände dagegen und ließ sich von dem jungen Polizisten abtasten. Der wiederum fand bei dem Geiselnehmer keinerlei Waffen, keinerlei Papiere, nicht mal einen Autoschlüssel. Dann legte er dem Mann Handschellen auf dem Rücken an, und drehte ihn wieder zu sich. "Wo habt ihr Ayda versteckt?", fragte er sofort, denn je eher sie wussten, wo sie war, desto besser. Ohne eine Miene zu verziehen, sah der Mann Kevin ins Gesicht, als hätte er die Frage nicht gehört, oder verstanden. "Wo habt ihr Ayda versteckt, habe ich dich gefragt!", wiederholte Kevin, diesmal etwas lauter und deutlicher, doch die Reaktion des Mannes war die Gleiche. Ben und Semir konnten im Lieferwagen alles mithören. "Was sagt er?", fragte Semir aufgeregt, weil er vermutete, dass der Kerl vielleicht zu weit weg vom Mikrofon an Kevins Jacke war. Sein Herz schlug wie kurz vor einem Herzinfarkt, er war nun einerseits froh, dass Kevin den Typen festgenommen hatte, aber auf der anderen Seite machte er sich weiter furchtbare Sorgen um seine kleine Tochter. "Nichts sagt er...", war Kevins schmallippige Antwort, und griff den Mann von hinten am Genick, um ihn vor sich her zu treiben. "Wir werden es schon rauskriegen, verlass dich drauf.", meinte der Polizist mehrdeutig, und es klang wie eine Drohung.
    Es sah merkwürdig aus, wie Kevin mit seinem "Gefangenen" durch die Stadt ging. Ein Penner, der einen normal gekleideten Mann in Handschellen durch Köln führte, das bekamen die Touristen nicht alle Tage zu sehen. Ein Halbstarker wollte sich mit Kevin anlegen, weil er dachte, dass dieser einen Mann belästigte, doch kaum hatte Kevin ihm den Dienstausweis unter die Nase gehalten, trollte sich der Typ auch sofort wieder.

    Ben legte das Funkgerät zur Seite, und nickte dem, immer noch blassen, Semir aufmunternd zu. "Wir haben ihn. Jetzt werden wir ihn verhören, und er wird uns das Versteck sagen... Der Typ will sich nur seine Haut retten." Doch Semir sah nicht mehr ganz so positiv drein, wie noch gerade eben. Das stoische Schweigen auf Kevins Fragen hatten ihn misstrauisch gemacht. Wenn der Typ wirklich vehement schwieg, hätten sie Aydas Leben vielleicht umsonst aufs Spiel gesetzt. "Ich werde ihn verhören.", sagte Semir sofort, und schwor sich, dass er das Versteck notfalls aus dem Kerl herausprügeln würde. Doch genau dies befürchtete auch Semirs Partner, und biss sich auf die Lippen. Herr Gott, wie brachte er das Semir jetzt bei: "Semir... vielleicht ist es besser, wenn du bei dem Verhör nicht dabei bist." Semirs Augen wurden tellergroß, sein Mund stand leicht offen, als er seinen langjährigen Partner anblickte. "Sag mal, hast du sie noch alle? Der Kerl hat meine Tochter entführt? Denkst du, ich fahre nach Hause und guck den Blumen beim Wachsen zu, während er ihn verhört?", sagte er sofort mit aufgebrachter Stimme.
    Ben bemühte sich um Sachlichkeit, und darum, seine Stimme möglichst ruhig zu halten. "Ich weiß, wie dir zu Mute ist. Und ich weiß, dass du dem Kerl am liebsten die Zähne einschlagen würdest, wenn er dir dafür das Versteck verrät. Aber du weißt, dass wir hier nicht offiziel ermitteln. Und wenn wir später doch noch das LKA brauchen, und der Typ sitzt da wie durch den Fleischwolf gedreht... dann haben wir verloren, Semir." Der erfahrene Polizist schüttelte den Kopf. Er konnte das nicht... er konnte doch jetzt nicht einfach still und stumm daneben sitzen, und nichts tun. "Semir, sei bitte vernünftig. Du vertraust mir und Kevin. Oder?" Natürlich tat er das, und das würde er auch nicht abstreiten. Aber hier ging es ums Prinzip. Er war Aydas Vater! Er war für ihre Sicherheit verantwortlich, und er würde den Kerl verhören. "Bleib bitte ruhig... es nützt uns nichts, wenn wir den Typ jetzt sofort bedrohen. Dann wird er komplett dicht machen." Semir nahm Bens Worte kommentarlos hin, während er die Lippen zusammenpresste, und irgendwann leise sagte: "Ich gehe Andrea abholen..." Eine Stunde war fast vorbei. Nur wenige Minuten, nachdem Semir den Lieferwagen verlassen hatte, tauchte Kevin mit Zange auf...

    Domplatz - 8:45 Uhr

    Es schien ein herrlicher sonniger Herbsttag zu werden, denn der Morgen begrüßte alle mit Sonnenschein und bunten Farben, sogar die Vögel trauten sich noch einmal heraus in den Tau. Vergessen war der Sturm und der Regen vor einigen Tagen, doch keinem der Polizisten war wirklich nach guter Laune zu Mute. Semir ließ seine Frau gerade in der Nähe der Domplatte aus dem Auto steigen, und die beiden umarmten sich noch einmal innig. "Mach dir keine Sorgen. Kevin ist in deiner Nähe, und es wird nichts passieren.", sprach Semir Andrea noch einmal leise Mut zu. Sie wollte stark sein, sie wollte mutig sein und nickte tapfer, ohne weitere Tränen zu verdrücken. Die Sporttasche mit den 100.000 Euro, die sie gestern abend noch fix von Ben's Konto geholt hatten, hatte sie fest an sich gedrückt. "Ich liebe dich...", sagte sie leise, bevor sie ihren Mann noch einmal küsste. "Ich liebe dich auch, mein Schatz.", antwortete der Polizist, und erst jetzt konnten sie sich aus der innigen Umarmung lösen. Es fiel dem Polizisten schwer, seine Frau alleine in diese "Mission" gehen zu lassen, aber auch er versuchte stark zu sein. Andrea schritt mit schnellen Schritten in Richtung Domplatz, Semir fuhr einige Straßen von dem Domplatz weg, dort wo er sich sicher fühlte.
    Mit einem vereinbarten Klopfzeichen klopfte er gegen die Hintertür eines schwarzen Transporters, aus dem Ben ihm die Tür öffnete. Ihnen saßen er und Hartmut, der dafür sorgte, dass sie über Funk mit Kevin sprechen konnten. "Und, wie siehts aus?", fragte Semir sofort, aber Ben beruhigte ihn: "Alles in Ordnung. Wir haben Kontakt zu Kevin, er behält alles im Blick."

    Andrea kam auf der Domplatte an, und blickte sich um. Viele Menschen waren unterwegs, viele Touristen, junge Männer, ältere Frauen, Menschen mit Fotoapparate, die Bilder des prächtigen Kölner Doms machten. Die Frau kam sich etwas verloren vor, sie spürte ihre feuchten Handinnenseiten vor Aufregung. Immer wieder blickte sich Andrea um, ob ein Mann oder eine Frau sie mit festem Blick ansah, auf sie zukam, oder ihr zuwinkte. Mit einer Hand hielt sie dann die Sporttasche fest, die andere presste sie immer wieder auf ihre Hosentasche, in der das Handy ruhte, falls der Geiselnehmer noch einmal anrufen würde. Immer wieder erblickte sie auch einige kleine Mädchen, die auf dem Domplatz fangen spielten, und sie hoffte so sehr, dass ihr plötzlich Ayda laut lachend entgegen laufen würde, damit dieser Alptraum endlich ein Ende hatte.
    Dann bemerkte sie einen Mann, der sie ansah. Er saß auf dem Boden vor einem Kleidergeschäft, seine Jeans war zerissen, ein Bein hatte er angewinkelt, das andere darunter und auf das Angewinkelte hatte er einen Arm gelegt. Die Flasche neben ihm enthielt jenen hochprozentigen Alkohol, der von der vorabendlichen Sauftour übrig geblieben war, doch diesmal würde der Mann neben der Flasche einen Teufel tun auch nur einen Schluck davon zu trinken. Kevin hatte in Kalles Schrank eine uralte Lederjacke von ihm gefunden, aus Jugendzeiten, mit Parolen und Sprüchen bemalt. Er sah aus wie ein Penner aus der Gosse, seine abstehenden Haare taten ihr Übriges dazu. Mit seinen hellblauen Augen verfolgte er Andrea mit jedem Schritt, und von diesem Geschäft aus hatte er eine hervorragende Übersicht über den kompletten Domplatz. Das einzige, was nicht zu einem Penner passte, war der mikrokleine Knopf im Ohr, und der nicht sehbare Knopf an seiner Lederjacke. Man hätte ihm wohl direkt in die Lauscher gucken müssen, um den Hautfarbenen Ohrstecker wirklich erkennen zu können. "Kevin, wie siehts bei dir aus?", hörte er Bens Stimme klar und deutlich in seinen Kopf dringen. "Bis jetzt alles ruhig.", gab er lakonisch zurück, als gerade niemand an seinem Platz vorbei ging.

    Andrea fühlte sich eine Nuance wohler, als sie nun registrierte, wo Kevin sich befand. Sie wusste, er hatte sie im Auge und würde jederzeit eingreifen können, wenn etwas passierte. Aydas Mutter brach den Augenkontakt zu Semirs Kollegen sofort ab, falls sie beobachtet wurde, und richtete den Blick stattdessen auf eine digitale Uhr, die ganz in ihrer Nähe stand und 8:58 Uhr anzeigte. Die Minuten kamen ihr vor wie Stunden, sie zogen sich in die Länge wie Kaugummi. Pünktlich, als die 9:00 auf der Uhr umschlug, erhob sich ein Mann von der Bank, der offenbar besonders kalt hatte an diesem frischen Morgen. Er hatte eine modische Winterjacke mit Pelzkapuze an, die er über den Kopf gezogen hatte. Erst im letztem Moment sah Andrea, wie der Mann auf sie zu kam. "Frau Gerkhan? Haben sie das Geld?", fragte er mit leiser Stimme ohne Umschweife, und Andrea sah ihn mit weiten Augen an. Unter der Kapuze konnte sie zwar sein Gesicht im Dunkeln erkennen, doch es sah aus wie ein Allerweltsgesicht. Ein Mann mittleren Alters, vielleicht noch etwas jünger als Semir, sie sah nur einen dunklen Haaransatz, weder Ohren noch konnte sie in der dicken Jacke seine Figur beschreiben. Auf die Frage nickte sie und wollte schon die Sporttasche öffnen, doch der Mann griff ihr ans Handgelenk. "Nicht hier. Folgen sie mir.", sagte er fast mechanisch und ging voraus.
    "Es geht los.", murmelte Kevin ins Mikrofon, und Semir saß stocksteif in dem Transporter. Es war schrecklich nur zu wissen, in welcher Situation sich Andrea befand, aber nicht zu sehen, was vor sich ging. Seine Frau hatten sie vorsichtshalber weder mit Mikros noch mit Kameras versehen, falls sie durchsucht werden würde. Der junge Polizist, als Penner getarnt, verfolgte mit den Augen die beiden Personen, wie sie über den Domplatz in Richtung des Doms schritten. Kevin musste nun aufstehen, sonst würde er sie aus dem Blick verlieren. Dies tat er aber nur langsam und unauffällig, er nahm seine Whiskey-Flasche mit und bewegte sich mit unsicheren Schritten und leicht torkelnd über den Platz, als würde er einen neuen Platz zum Betteln suchen.

    Der junge Polizist ging in die Richtung, in der Andrea mit dem Mann verschwunden war. Offenbar fühlte er sich in den engen Gassen hinter dem Dom am sichersten, hier waren nur selten Fußgänger oder Touristen. Kevin ließ sich an einer Häuserwand nieder, von wo aus er den Ausgang der Gasse im Blick hatte. Er fand es zu gefährlich mit hinein zu gehen, denn er wusste nicht, ob die beiden vielleicht sofort hinter einer Ecke standen.
    Der Mann, dem Andrea gefolgt war, packte eine eigene Tasche aus. "Packen sie alles hier rein." Natürlich hatte er die Befürchtung, die Tasche von Andrea hätte einen Sender, oder Farbbeutel würden explodieren, wenn sie die Tasche öffnete. "Wo ist meine Tochter?", zischte Semirs Frau fordernd, ohne Anstalten zu machen, die Tasche zu öffnen. "Ich gebe ihnen keinen einzigen Schein, ohne zu wissen, was mit meiner Tochter ist.", wiederholte sie scharf, und erschrak über ihren eigenen Mut. Doch der Mann ließ sich in keinster Weise aus der Ruhe bringen, und wiederholte erneut mechanisch: "Packen sie das Geld da rein. Wenn ich das Geld habe, wird ihre Tochter freigelassen." Er sagte es ohne eine Gefühlsregung in der Stimme, was Andrea erschaudern ließ.
    Letztendlich gehorchte sie und packte Bündel für Bündel in die andere Sporttasche. Ihre Hände zitterten dabei und die Augen des Mannes glitten über jeden Schein, den er zusammenzählte. Am Ende war er zufrieden, als er die Sporttasche zuzog. "Sie gehen jetzt zurück zum Domplatz. Dort bleiben sie noch mindestens eine Stunde. Wenn ihr Mann, oder ein Kollege ihres Reviers in dieser Zeit auf dem Platz zu sehen ist, wird ihre Tochter sie nie mehr sehen." Dann wandte er sich von Andrea ab, die über die eigenartige Formulierung der Drohung gar keine Gedanken verlieren konnte. Sie stand da mit leerer Sporttasche, und sah dem Mann hinterher, wie er seelenruhig den Weg zurück antrat.

    Er bog aus der engen Gasse wieder in die Schlucht zwischen Dom und einer Reihe Häuser, wo sich gerade niemand, ausser einem Penner an der Hauswand, befand. Er durchschritt den Weg, schenkte dem Kerl keine Beachtung und bog nach links in eine weitere enge Gasse ein. Dort fühlte er sich wiederrum alleine und zog sein Handy: "Alles klar, es hat alles funktioniert. Sie war pünktlich und das Geld ist auch in Ordnung.", sagte er mit leiser Stimme, nach dem er sich mehrfach nach hinten umgedreht hatte, und sich vergewissert hatte, dass ihm niemand folgte. "Okay Zange, gute Arbeit. Ich räume hier noch auf, behandel das Mädchen und veranlasse alles Weitere. Wir treffen uns wie geplant.", hörte er die Stimme des Mediziners, dann wurde die Verbindung getrennt.
    Zange nickte zufrieden, bog aus der Gasse auf den Gehweg einer Hauptstraße. Er hatte sich zu wenig umgdreht, denn Kevin folgte ihm wie ein Schatten. Jetzt, auf dem breiten Gehweg, wo eine Menge Leute waren, konnte er ein problemlos Abstand halten, ohne aufzufallen. "Er hat sofort danach telefoniert... vielleicht hat er Bericht abgeliefert.", gab er leise per Funk durch. "Was jetzt? Zugriff?" Semir hörte die Frage im Lieferwagen, und sah plötzlich unentschlossen drein. Ben blickte ihn an, er gab Kevin keine Antwort, denn den Befehl zum Zugriff sollte einzig und alleine Semir entscheiden, so hatten sie es ausgemacht. Mit hilflosem Blick sah der erfahrene Polizist seinen Partner an. "Semir, was ist?" "Ich... ich weiß nicht... sollen wir... vielleicht lassen sie Ayda doch frei.", stammelte er auf einmal. Den Polizisten verließ der Mut, was wenn sie mit dem Zugriff nur noch alles schlimmer machten? Was, wenn Kevin den Kerl nicht erwischte, und er seine Komplizen warnen konnte? "Semir... wir hatten das doch besprochen... die Kerle werden sie ins Koma spritzen, wie jedes Kind auch. Nur so haben wir eine Chance.", sagte der junge Kommissar leise. Semir wurde schwindelig, sein Atem ging schneller, sein Herz klopfte laut gegen den Brustkorb. "Semir..." "Leute, was ist los? Wenn der Kerl in den Bus steigt, haben wir verloren.", hörten sie beide Kevins Stimme durch den Lautsprecher. Die Lippen des älteren Polizisten zitterten, wie seine Hände, die sich um das Pult klammerten. "Ben... ich habe Angst.", sagte er leise und Ben konnte sich nicht erinnern, seinen Partner in diesem Zustand schon einmal gesehen zu haben. Er hatte Angst um seine Tochter... Angst, über ihr Leben zu entscheiden...

    Semir's Haus - 2:00 Uhr

    Semir wälzte sich in seinem Bett hin und her, und wollte einfach keinen Schlaf finden. Er hörte Andrea neben sich atmen, sich im Bett umherwälzen, auch sie wollte einfach nicht einschlafen. Immer wieder begannen sie zu reden, über Ayda, über den morgigen Tag. "Glaubst du, sie werden ihr was tun?", war dabei Andrea's häufigste Frage. Die Ungewissheit, war das Schlimmste, was sie quälte. Was würde morgen passieren, wenn sie das Geld übergeben musste? Würden sie ihre Tochter sofort zurückbekommen? Würden sie weiter auf eine harte Geduldsprobe gestellt werden? Die Frau malte sich die Übergabe hundert und tausend Mal im Kopf aus... und immer wieder überkam sie die Gänsehaut der Angst. Semir versuchte sie zu beruhigen. "Tu einfach nur, was die Stimme am Telefon sagt... und alles wird gut werden, mein Schatz.", sagte Semir leise und hielt unter der Decke die eiskalte Hand seiner Frau, die einfach nicht zur Ruhe kommen wollte, und zitterte wie Espenlaub. Es war erstaunlich, dachte Semir, wie ruhig und souverän er war, wenn jemand bei ihm war, der noch ängstlicher war. Sobald er mit Ben alleine war, so hatte er das Gefühl, das Nervenbündel zu sein.
    Die Eheleute sprachen nochmal alles durch. Semir würde seine Frau morgen früh an der Domplatte absetzen und dann zu Ben in einen Lieferwagen steigen, der mehrere Straßen entfernt stand. Dort konnten sie mit Kevin kommunizieren, der die Geldübergabe beobachten sollte, und den Boten danach verfolgen sollte. Ben hatte die Idee, nachdem klar wurde, dass die Entführer alle Beamten der Dienststelle kannten, Kevin anzurufen und zu fragen, ob er ihnen helfen konnte.

    Ben hatte sich vor dem Anruf erst geziert, weil zwischen ihm und Kevin immer noch die Sache mit Jenny stand... auch wenn er es mittlerweile wusste, und scheinbar auch als okay einstufte. Trotzdem war Ben ein wenig mulmig, als er Kevins Nummer gewählt hatte. "Ja?", meldete sich die, meist etwas gelangweilte, und diesmal auch nicht wirklich gut gelaunte Stimme von Kevin am Handy. "Hey Kevin... hier... ist Ben." Dem jungen Polizisten schien es länger vorzukommen, bis er die Stimme seines Freundes wieder hörte. "Ben? Was gibts?", fragte er. Kein "Wie gehts?", kein "Was machst du so?", und auch die Frage, die er stellte hörte sich eher so an, als müsse er sie jetzt unbedingt stellen, damit das Gespräch weiter geführt werden konnte. Ben fühlte sich unwohl. "Wir... wir brauchen deine Hilfe.", kam er ohne Umschweife aufs Thema, und wartete auf eine Reaktion. Als keine Reaktion des schweigsamen Polizisten kam, räusperte sich Ben kurz und erklärte in knappen Worten, was vorgefallen war. Kevin hatte bisher keine besondere Bindung zu Semirs Töchtern, jedoch fühlte er sich mit dem erfahrenen Polizisten sehr verbunden, so dass er gebannt zu hörte. "Wir wollen den Kerl schnappen, weil wir uns nicht darauf verlassen wollen, dass sie Ayda einfach freilassen. Allerdings ist das keine offizielle Polizeiaktion. Deswegen könnte es Probleme für uns geben, wenn das rauskommt.", warnte er seinen Kollegen, der bereits einige Akteneinträge in der Personalakte hatte, vor.
    Doch Kevin überlegte nicht lange... für ihn war es gar keine Frage, ob er half oder nicht. "Wann gehts los?", fragte er sofort und Ben atmete auf. Kevin stellte seine persönliche Aversion, die er vielleicht gegen Ben hegte, nicht in den Vordergrund, was er aber auch nicht erwartet hatte. "Die Übergabe ist morgen früh um 9 Uhr. Wir treffen uns aber um 8 bei dir, um dich zu verkabeln. Dich kennen die Geiselnehmer nicht, und wir sind nicht sicher, ob sie vielleicht Semirs Haus oder die Dienststelle beobachten." "Alles klar.", sagte der junge Polizist, und Ben bedankte sich bei ihm. Und er wusste, dass die beiden, wenn diese Sache vorbei war, unbedingt ein klärendes Gespräch führen mussten.

    Andrea schien eingeschlafen zu sein, wie Semir jetzt hören konnte. Ihr Atmen war leise und gleichmäßig, sie wälzte sich nicht mehr im Bett umher. Die Zahlen seines Digitalweckers zeigten bereits halb 3, als er ein Geräusch vernahm. Es war ein leises Knarren, wie von einer Tür, und ließ seine Augen weit aufreissen. Langsam erhob sich der Polizist aus dem Bett und stand auf. Gerade, als er im Dunkeln zu der Schlafzimmertür tapste, hörte er ganz deutlich, wie die Haustüre unten ins Schloß fiel. Dem Polizisten rutschte das Herz in die Hose, aber er musste nachsehen... wollte da jemand auch noch Lilly entführen? Die Gangster vielleicht?
    Aus dem Tresor im Schlafzimmer nahm sich Semir seinen privaten Trommelrevolver, ohne Andrea zu wecken, und trat auf den Flur. Im Flur war es dunkel, nur das Mondlicht erhellte ein wenig den Gang bis zur Treppe. Von unten waren keine Geräusche zu hören, als der Polizist den Revolver mit festem Griff umklammerte und sich langsam zur Treppe fortbewegte. Die Stufen schienen lauter zu knarren als sonst, der Revolver in seiner Hand fühlte sich glühend heiß an, er hielt ihn vor sich, zielte blind in die Dunkelheit, bereit sofort abzudrücken, wenn jemand vor ihm stand. Er spürte einen kalten Lufthauch an seinem Schlaf-Shirt, als er unten ankam, und sein Atem stockte, als er die offene Haustüre sah... und was vor ihr lag.
    Sie war ein blutiges Bündel. Ihr weißes Oberteil, was sie an diesem Tag in der Schule an hatte, war mit blutüberströmt. Ihre Haare waren zersaust, ihre Augen offen und ihr Blick klar. Ihr kleiner Brustkorb hob und senkte sich noch, aber von ihrem Körper ging keinerlei Reaktion aus. "Um Gottes Willen...", rief Semir laut, und seine Beine wollten nachgeben, als er Ayda direkt vor der offenen Haustüre da liegen sah. Es kam ihm vor, als könne er sich nur langsam zu ihr bewegen, als würde irgendetwas ihn aufhalten, als er vor ihr auf die Knie fiel. Sie lebte, zeigte jedoch keine Reaktion, ihr Gesicht war makellos und Semir konnte nicht sagen, woher das ganze Blut kam, was ihr Shirt getränkt hatte und um sie auf dem Boden verteilt. Sie blickte mit stummen Blick ihrem Vater in die Augen, der sie leicht schüttelte und in Panik geriet.

    Wie in Trance schreckte Semir auf. Sein Gesicht war schweißüberströmt, und es dauerte einen Moment bis er sich orientierte, und wahrnahm, dass er in seinem Bett saß. Seine Wecker zeigte 4:15 Uhr an, und Andrea schlief neben ihm, nachdem sie sich eine Schlaftablette genommen hatte. "Oh Gott...", seufzte Semir, und begriff endlich, dass es ein entsetzlicher Alptraum war, den er hatte. Er stieg aus dem Bett, ging ins Badezimmer und schlug sich zwei Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht. Dabei sah er im Schein des Spiegellichtes in eben diesen, er sah seine braunen Augen, mit leichten Augenringen. Die Sorge um seine Tochter, diese Ungewissheit, machte ihn fertig. Es war der zweite Alptraum innerhalb zweier Nächte, seit er in diesen Fall der Komakinder involviert war. Niemals hatte ihn ein Fall so sehr mitgenommen, und jetzt war seine eigene Tochter entführt worden. "Ich rette dich, Ayda.", sagte er leise zu seinem Spiegelbild, als würde er es vor einer unsichtbaren Macht schwören müssen. "Ich lasse dich nicht alleine, mein Schatz." Seine Augen zeigten Entschlossenheit, als er auf dem Waschbecken gebeugt in die Spiegel sah, und sich das Licht über dem Spiegel in seinen Pupillen brach...

    Semir's Haus - 17:30 Uhr

    Sie hatten es alle zusammen besprochen... Semir, Ben und Andrea. Sie saß im Sessel, hatte die Hände gefaltet und hörte beinahe atemlos die Worte ihres Mannes. Semir sagte immer noch nichts von ihren Kenntnissen zu den Komakindern, aber er brachte seine Erfahrung ein bei Entführungen. "Die werden verlangen, dass wir die Polizei nicht verständigen. Natürlich werden wir nicht das SEK einschalten, aber lass uns die Chefin einweihen, damit wir freie Hand haben, wenn wir einen der Geiselnehmer festnehmen können." Vorher hatte er Andrea in den Plan eingeweiht, den er vorher mit Ben besprochen hatte, bzw den Ben vorgeschlagen hatte. Die zweifache Mutter war alles andere als begeistert davon, und sie protestierte wegen des großen Risikos um Ayda. Der erfahrene Ermittler hatte ihr gut zu geredet und an Andrea's eigene polizeiliche Erfahrung appeliert. Wie oft passierte es, dass Geiselnehmer ihre Geiseln einfach wieder freigelassen hatten? War es nicht besser, selbst aktiv zu werden, so wie es die Polizei, die man einschalten sollte, auch tun würde. Unzählige Studien hatten die beiden Beamten in ihrer Ausbildung darüber lesen müssen. Andrea war überzeugt, und stimmte dem Plan letztendlich zu.
    Die Minuten verronnen, und kamen dem Ehepaar wie Stunden vor. Ben wich nicht von ihrer Seite, er war müde und hungrig, doch die Angst um Ayda betäubte jegliche menschliche Empfindungen. Sie hatten zweimal auf dem Handy der Chefin versucht anzurufen, doch sie war nicht dran gegangen. Das Handy hielt Semir fest umklammert, als hätte er Angst, nicht schnell genug abzuheben, wenn sich die Entführer melden würden.

    Als es klingelte, schien der Polizist aufzuschrecken. "Ja, Gerkhan!", rief er hastig in den Hörer, ohne auf das Display zu schauen. "Semir? Sie haben mich zweimal versucht anzurufen. Was gibts denn so Dringendes?", hörte er die Stimme seiner Chefin am Ohr, und atmete auf. "Chefin... ich muss ihnen etwas sagen." Er blickte sich kurz um, und bemerkte dass Andrea wieder bei Lilly in ihrem Zimmer war... er konnte offen reden. "Chefin, anscheinend ist meine Tochter entführt worden.", sagte er ohne Umschweife und ohne große Erklärungen. "Was sagen sie da?", war die durchaus geschockte Reaktion der Chefin. Sie kannte Semir schon seit Ewigkeiten und war natürlich auch in der Familie ein gern gesehener Gast, sie kannte auch die Kinder. "Sie meinen... diese Koma-Geschichte?", fragte sie dann nach und Semir nickte, was die Chefin freilich nicht sehen konnte. Er ging, wie ein Tiger im Käfig durch den Raum während des Telefonats und konnte keine Sekunde still stehen. "Dann müssen wir das LKA informieren." "Nein!", sagte Semir sofort energisch. "Genau das dürfen wir nicht. Das ist mir zu gefährlich." "Aber Semir... das LKA hat die meisten Infos über den Fall. Die können ihnen viel effektiver helfen." "Chefin, ich vertraue das Leben meiner Tochter nur mir selbst an oder höchstens Ben. Und niemandem vom LKA. Ich rufe sie an, weil ich hoffe, dass sie uns unterstützen, wenn es hart auf hart kommt." Er konnte die Chefin hörbar ausatmen hören, ein Geräusch, als würde sie sich erst einmal hinsetzen müssen. "Okay, Semir. Was haben sie sich ausgedacht?" "Wir warten momentan noch auf den Anruf. Bei der Übergabe wird Ben den Boten, der das Geld holt, verfolgen und wir versuchen ihn zu verhaften. Wir bringen ihn auf die Dienststelle und versuchen mit den Geiselnehmern ein Tauschgeschäft... Ayda im wachen Zustand gegen ihren Mann." "Semir... sie wissen, dass das gegen jegliche Regeln verstößt, wenn wir einen gesuchten Geiselnehmer laufen lassen." "Wir versuchen erst Ayda im gesunden Zustand zurück zu bekommen. Dann kann das LKA machen was es will.", sagte der erfahrene Ermittler und spürte, dass die Chefin noch viel zu sachlich dachte.

    "Und sie denken, die steigen darauf ein? Halten sie das alles nicht für zu riskant?", fragte die Stimme der Chefin aus dem Handy. "Chefin, sie haben es doch heute mittag gehört. Jedes Mädchen, ob bezahlt wurde oder nicht, wurde im Koma gefunden. Manche wachen auf, manche wachen nicht mehr auf. Aber dass sie im Koma liegt, ist sicher. Wenn wir die Bande mit einem ihrer Männer unter Druck setzen können, haben wir wenigstens eine Chance." Semirs Stimme klang verzweifelt, und es bereitete im Magenschmerzen, die Gesundheit von Ayda zu riskieren. "Glauben sie mir, Chefin... ich habe dabei selbst kein gutes Gefühl. Aber es ist immer noch besser, als den Gangstern einfach zu vertrauen." Frau Engelhardt konnte Semir gut verstehen, und sie nickte am Telefon. "Na schön. Mein Okay haben sie. Holen sie sich Hartmut zur technischen Unterstützung ins Boot, und halten sie mich auf dem Laufenden.", sagte sie nach kurzer Bedenkzeit. Semir war froh, dass er sich auf seine Chefin verlassen konnte, sie würde ihre Männer decken, falls etwas von dieser illegalen Aktion bis zum LKA durchdringen würde. "Danke, Chefin."
    Nach diesem Telefonat wählte Semir mit zittrigen Fingern die Nummer von Hartmut Freund, dem Leiter der KTU. Er war ein Computer-Genie und mit verfügte über ein breites Fachwissen von Chemie und Physik... ein moderner MacGyver, wie Ben zu sagen pflegte. Er sagte den beiden Polizisten sofort Unterstützung zu, wenn es zur Übergabe kommen würde, und zapfte sofort Semirs Telefon- und Handyanschluss an. "Du weißt aber auch, dass du damit in Teufels Küche kommen kannst, wenn das rauskommt.", warnte ihn Semir noch. "Ach Semir... mit euch kann mich nichts mehr schocken.", meinte der rothaarige Beamte und lachte. "Danke, mein Freund.", sagte Semir erleichtert, und trennte die Verbindung.

    Wieder war Warten angesagt... und es machte Semir beinahe wahnsinnig. Er lief von der Küche ins Wohnzimmer, sah aus dem Fenster in den Garten, wo es bereits dunkelte, weil die Tage immer kürzer wurden. Dann saß er mal auf der Sofalehne, stand wieder auf um durch den Flur wieder ins Wohnzimmer zu gehen. Ben, der selbst nervös war, sah seinem Partner hinterher. "Semir, bitte sitz mal still... das ist ja nicht zum Aushalten.", sagte er irgendwann. Der Beamte sah auf die Uhr und hätte schwören können, es wäre schon nach 9, dabei war es gerade mal viertel nach 6.
    Das Telefon klingelte, als gerade Andrea mit Lilly auf dem Arm, die es im Kinderzimmer nicht mehr ausgehalten hatte, ins Wohnzimmer kam. Sie blieb, kreidebleich wie sie war, im Türrahmen stehen während Lilly unbeschwert und frei von Sorge auf Bens Schoss sprang. "Gerkhan...", meldete sich der Polizist und ging in die Küche, damit Lilly nichts mitbekam. Andrea folgte ihm und sie hatte dabei das Gefühl, als würden ihr die Beine nachgeben. "Herr Gerkhan... es freut mich, sie kennen zu lernen.", hörte er eine computerverzerrte Stimme am Telefon, die ohne Dialekt und hochdeutsch sprach. "Wer sind sie?", war der erste Affekt, der Semir in den Sinn kam. "Mein Name tut nichts zur Sache. Und ich denke, sie interessiert es viel mehr, wie es ihrer Tochter geht." Ein Zucken ging durch Semirs Muskeln, als endgültig und unumstößlich klar war, dass Ayda entführt wurde. Er musste sein Blut unter Kontrolle halten, um dem Mann nicht die schlimmsten Verwünschungen durch den Hörer zu schicken, die er auf Lager hatte. "Was ist mit Ayda?", fragte er mit zusammengepressten Zähnen. "Es geht ihr gut... noch. Alles Weitere hängt von ihnen ab.", sagte die Stimme, als hätte sie den Text einstudiert.

    Semir war bereit für die Forderungen, und wollte den Geiselnehmer in keinster Weise provozieren. "Was wollen sie?" "100.000 Euro. Morgen früh um 9 Uhr an der Domplatte. Ihre Frau bringt das Geld in einer Sporttasche. Ohne Sender, wenn es geht." Semir unterbrach die Stimme sofort: "Nein! Ich werde ihnen das Geld bringen, und..." "Herr Gerkhan... ich glaube, sie sind nicht in der Lage irgendwelche Forderungen zu stellen.", wurde wiederum der Polizist unterbrochen. "Ausserdem wissen wir über sie Bescheid, und das Risiko ist uns zu groß. Ihr Frau wird das Geld übergeben. Sie wird von einem Mann angesprochen, und erfährt alles Weitere." Semirs Herz schlug ihm bis zum Hals, als er seine Frau ansah, die irritiert den Blick erwiederte. AUch Ben stand mittlerweile im Türrahmen, nachdem er Lilly einen Zeichentrickfilm angeschaltet hatte. "Na schön...", willigte Semir schließlich ein. "Achja, und noch etwas. Natürlich beobachten wir sie dabei. Wenn wir allerdings einen ihrer Kollegen, etwa ihren zotteligen Partner, den Dickwanst oder die dürre Bohnenstange oder sonst irgendjemand von ihrem Revier auch nur zufällig in der Nähe ihrer Frau sehen, wird ihre Tochter das Licht der Sonne nie wieder erblicken. Wir haben uns über ihren Arbeitsplatz erkundigt. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt." Dem Polizisten rutschte nun das Herz in die Hose, und ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Die Stimme trennte die Verbindung und ersparte sich das obligatorische "Keine Polizei", dass er ja mit der Aufzählung von Semirs engsten Kollegen schon abgehandelt hatte. Langsam ließ Semir das Handy vom Ohr sinken.
    "Was hat er gesagt?", fragte Andrea sofort und sah ihren Mann flehend an. "Er ... er hat gesagt, dass du... das Geld übergeben sollst. Morgen früh auf der Domplatte." Auch Andreas Herz schlug nun schneller als zuvor, aber für ihre Tochter würde sie durchs Feuer gehen, und nickte stark.

    Semirs Handy klingelte erneut, diesmal war Hartmut dran: "Ich habe mitgehört. Tut mir leid, Semir. Der Anruf kam über einen VOIP-Anbieter aus dem Internet. Das Signal wurde über Proxys aus Arabien umgeleitet. Keine Chance zurück zu verfolgen. Braucht ihr etwas für morgen?" Semir verneinte und bedankte sich bei Hartmut für dessen Hilfe. Dann blickte er zu Ben rüber: "Die Kerle kennen unser Revier... und jeden, der da arbeitet. Wenn sie einen in der Umgebung des Übergabeortes sehen, bringen sie Ayda um.", sagte er mit leiser Stimme. Andrea wurde wieder blasser, und Ben entglitt ein leises "Scheisse." Er fuhr sich mit der Hand über den Mund. "Dann muss jemand Anderes die Übergabe beschatten.", sagte er dann, aber Semir schüttelte den Kopf: "Niemals. Es geht um meine Tochter, Ben. Du bist der Einzige, dem ich in dieser Situation vertrauen würde." Ben fühlte sich geehrt, aber er schüttelte überzeugt den Kopf. "Nein... da gibt es noch Jemand. Und der würde uns garantiert helfen!"

    Semir's Haus - 16:45 Uhr

    Andrea sah nicht gut aus. Sie war bleich, sie hatte Tränenspuren im Gesicht und saß nun in ihrem Wohnzimmer auf der Couch. Lilly hatte sie nach oben zum Spielen geschickt, sie wollte, dass Aydas Schwester so wenig wie möglich von der Tragödie mitbekam. In ihrer Hand hielt sie ein Taschentuch, und sie war so froh, dass Semir endlich nach Hause kam. Doch als sie die schlechten Neuigkeiten, den Fund von Aydas Haarspange am Spielplatz erfuhr, konnte sie ihre Emotionen, auch vor Ben, nur sehr schwer unterdrücken. Mehrere Minuten lag sie in Semirs Armen, der nun mit aller Macht versuchte, souverän und ruhig zu bleiben, um seiner Frau einen Fels in der Brandung zu bieten, an dem sie sich in dieser schweren Situation festhalten konnte. Äusserlich gelang ihm dies, und so redete er Andrea gut zu. "Bleib ganz ruhig, mein Schatz. Die werden anrufen, die bekommen das Geld und Ayda kommt gesund wieder nach Hause." Seine Frau hatte von dem Fall der Komakinder nichts mitbekommen, sie war bei dem Gespräch mit dem LKA nicht dabei, und so verschwieg der Polizist, dass bisher jedes Kind im Koma gefunden wurde, und nur die wieder aufwachten, bei denen das Geld pünktlich und sicher übergeben wurde. "Aber Semir... wer weiß was die verlangen von uns? Du weißt doch selbst, was bei uns los ist, seit wir das Haus gekauft haben. Oh Gott, meine arme Ayda..." Ben trat einen Schritt heran und meinte: "Andrea, mach dir doch darüber jetzt erst mal gar keine Gedanken. Das bekommen wir schon hin. Wichtig ist, dass wir Ayda gesund wieder bekommen." Andrea blickte den jungen Polizisten dankbar an. Ben stammte aus gutem und reichem Hause, sein Vater war erfolgreicher Unternehmer und Multi-Millionär. Der Polizist selbst hielt zwar nicht besonders viel vom luxuriösem Leben, aber für seinen besten Freund in diesesr Situation würde er schon Geld aufbringen, um Aydas Leben zu bezahlen.

    "Mamaaa...!", ertönte Lillys Stimme von oben, und Semirs Frau wischte sich, so gut es geht, die Tränen aus den Augen, bevor sie nach ihrer Tochter sah.Ben nutzte die Situation, als Andrea aus dem Raum war, und zog Semir bei Seite. "Wir wissen beide, was passiert, wenn wir uns an die Anweisungen halten.", sagte er leise mit gedämpfter Stimme. Semir nickte düster, er hatte die gleichen Gedanken ebenfalls schon. "Ayda wird dann im Koma liegen... und wir können nur hoffen, dass sie wieder aufwacht. Aber was willst du stattdessen tun?" "Wir müssen die Geldübergabe überwachen. Ich werde zufällig dort sein, wahrscheinlich wieder am Domplatz, wo die Übergabe stattfindet. Dann werde ich den Typen verfolgen, und wir nehmen ihn fest." Sein erfahrener Partner runzelte die Stirn: "Weißt du denn, was die mit Ayda machen, wenn ihr Bote nicht mehr zurückkommt? Die bringen sie um!", zischte er und sah sofort in Richtung der Treppe, um zu sehen wann Andrea wieder die Treppen herunter kam. "Wenn wir ihn aber laufen lassen, haben wir keinerlei Chance sie zu finden. Wir wissen doch rein gar nichts, oder willst du dich auf das LKA verlassen?" Semir sah sich in einer schrecklichen Zwickmühle. Entweder, sie taten nichts und mussten auf die Entführer hoffen, die Ayda nur in einem normalen Koma mit der Chance auf ein schadenfreies Aufwachen zurückbrachten... oder sie riskierten ihr Leben und ihre Gesundheit, um die Entführer auffliegen zu lassen.
    "Wenn wir nichts tun... dann legst du ihr Schicksal in ihre Hände. Wenn wir aber einen der Entführer haben..." Bens Stimme wurde ein bisschen leiser: "Dann können wir ihn vielleicht gegen Ayda austauschen. Gegen eine Ayda, die wach ist und gesund ist." Der erfahrene Polizist schluckte bei dem kühnen Plan seines jungen Kollegen... aber er fand Gefallen daran, so schwer es ihm fiel Ayda zu gefährden. Taten sie aber nichts, würden sie dem kleinen Mädchen ebenfalls einem gesundheitlichen Risiko aussetzen. "Wenn es mehrere sind, wird der Anführer des Ganzen sicher nicht erfreut sein, wenn sein Mitarbeiter bei uns plaudert.", vermutete der dreifache Vater, und diesmal nickte sein bester Freund. "Du verstehst meine Gedanken."


    Altes Krankenhaus - 17:00 Uhr

    "Ein was???", brüllte Reuter fassungslos durch den großen Saal des alten Krankenhauses, so dass die verbliebenden alten Fensterscheiben zitterten. Zange und Cablonsky wollten am liebsten im schmutzigen Boden mit den gerissenen Fliesen versinken, als sie gerade die Infos ihres Hackers überbrachten. "Ihr entführt nicht nur das falsche Kind... ihr entführt auch noch ausgerechnet das Kind eines Polizisten???" "Mensch Reuter... das ist ein echter Zufall. Da könntest du Lotto spielen, und die Möglichkeit zu gewinnen wäre...", wagte Zange als erstes seine Stimme zu erheben, und wurde von Reuter direkt unterbrochen: "Ihr wärt auch noch zum Lotto spielen zu blöd. Mein Gott...", stöhnte er und fuhr sich mit den Fingern durch die Augen. Reuter fühlte sich den beiden Profi-Kidnappern geistig haushoch überlegen, weshalb er sich erlaubte, so mit ihnen umzugehen. Doch während Zange eher der zahme Handlanger war, war Cablonsky ein skrupelloser und mitunter auch brutaler Verbrecher, der sich so selten gängeln ließ. "Nun halt mal die Luft an, Mediziner.", knurrte er. "Die Beschreibung war mehr als vage, und dass es ausgerechnet die Tochter eines Bullen ist, stand auch nicht auf ihrer Stirn geschrieben." Vor Cablonsky hatte Reuter nicht unbedingt Angst, auch keinen Respekt... aber er würde sich nicht mit ihm anlegen. Der Mann war Mediziner, war in seinem Wesen auch kriminell, aber nicht brutal, so dass er sich körperlich gegen Cablonsky wehren könnte. "Also: Hier sind die Infos von unserm IT-Spezi über den Bullen. Mach was draus, oder sag uns Bescheid, was wir mit der Göre anfangen sollen." Missmutig knallte er ihm einen ganzen DIN-A4-Hefter auf den Tisch, so dass die komplizierten Glaskolben klirrten und erzitterten. Reuter rückte seine Brille zurecht und schlug den Ordner auf. "Na schön...", meinte er mit beruhigter und souveräner Stimme. "Wir werfen kein Geld zum Fenster raus. Wenn der Bulle zahlen kann, soll er zahlen. Und danach verschwinden wir von hier."

    Zange und Cablonsky schauten etwas erstaunt auf. "Wir... verschwinden?", fragte Zange zuerst ein wenig missverständlich, und Reuter drehte sich von den Akten wieder weg. "Ja. Wir brechen ab, verstehst du? Wir packen zusammen und setzen uns ins Ausland ab, in ein Land, das kein Auslieferungsabkommen mit Deutschland hat. Dort werde ich meine Forschungen zu Ende führen, denn eventuell reicht uns das Geld dann. Wenn nicht, müssen wir warten." "Warum?", fragte nun Cablonsky und Reuter verdrehte ein wenig die Augen. "Wisst ihr, wozu Väter in der Lage sind?", fragte er eine rhetorische Frage und blickte in zwei kinderlose Gesichter. "Nein, das wisst ihr nicht. Aber ich weiß es. Väter würden töten für ihre Kinder. Ärzte, Geschäftsmänner, Ingenieure... können das normalerweise nicht. Aber ein Bulle..." Er unterbrach den Satz für einen Moment und sah die beiden Männer ausdruckslos an. "Der wird uns jagen, bis er uns hat. Und das wird er nicht können, wenn wir nicht mehr da sind." Das leuchtete nun auch den beiden Kidnappern ein und sie nickten. Reuter las alles, was der IT-Spezialist über Semir rausbekommen hatte. Adresse, Bilder in Zeitungen, dazu seine Dienststelle und alle Kollegen, die dort arbeiteten. Ein Online-Bericht über den Geburtstag der Dienststelle. "So können wir sichergehen, dass bei der Übergabe niemand dabei ist, der von den Bullen kommt. Ausserdem weiß der Bulle, wozu wir fähig sind, wenn nicht alles so läuft, wie wir das wollen.", sagte Reuter zufrieden. Er warf den beiden das Bild hin. "Prägt euch die Gesichter ein. Wenn ihr einen davon irgendwo bei der Übergabe zu Gesicht bekommt, brecht ihr das ganze ab." Die beiden Kidnapper nickten ihrem Boss zu. "Und denkt dran, was wir besprochen haben, wenn einer von euch gefasst wird." Wieder nickten die beiden. Reuter hatte ihnen eingehämmert, wie sie sich dann zu verhalten hätten, was sie verraten sollten und was nicht.

    Er war zufrieden. "Na schön. Dann ruft ihr unseren Freund und Helfer gleich an. Übergabe morgen früh, 100.000 Euro. Das sollte für einen Beamten zu schaffen sein." Er klappte die Notizen zu, genauso wie seine Aufzeichnungen. Wenn sie die Tage nun hier weg mussten, musste er noch einige Vorbereitungen treffen.
    "Boss?", fragte Zange noch, bevor die beiden Kidnapper aus dem Raum traten. "Was denn noch?" "Was machen wir mit den drei Kindern in dem Haus?" Reuter dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. "Dazu haben wir keine Zeit mehr. Nach der Übergabe morgen müssen wir verschwinden. Wir lassen den Bullen seine Tochter finden, und das Haus wird sich..." er lächelte kurz... "von selbst erledigen. Da habt ihr hoffentlich alles vorbereitet?" Die beiden bestätigten dies, und verließen endgültig den alten Saal.
    Draussen knurrte Cablonsky: "Der Sack bildet sich echt ein, mit mir so reden zu können. Na warte... morgen werden wir ja sehen, wie der Hase läuft."

    Verlassenes Krankenhaus - 1 Stunde früher

    War er verrückt? Nein, das war er wahrlich nicht. Andere würden das glauben, doch er war überzeugt davon, das Richtige zu tun. Auf dem Weg zu einer besseren Welt, musste es Opfer geben. Kein Krieg, der einem Land eine bessere Zukunft versprach, verlief ohne Opfer. Keine Revolution, die die Diktatur beendete verlief ohne Blutvergießen. Doch er spielte keinen Krieg... er half der Menschheit, davon war er überzeugt. Seine Gedanken drifteten ab, als er über den unzähligen Aufzeichnungen auf dem Schreibtisch vor ihm brütete, mit komplizierten Formeln und Aufzeichnungen. Vor ihm standen Glaskolben, ein Mikroskop und andere Apparaturen, die er sich für viel Geld gekauft hatte, und somit in diesem halb verfallenen, seit Jahren verlassenen Krankenhaus am Stadtrand sich ein Labor eingerichtet hatte.
    Ohja, er war ein kluger Kopf gewesen, im Labor für Medizinforschung. Studienbester, Lehrgangsbester... die besten Vorraussetzungen, eine große Karriere zu machen. Wenn, ja wenn ihm nicht dieser verdammte Ideallismus im Weg gestanden hätte, der ihn zum Kriminellen werden ließ... nein, er war kein Krimineller. Sofort schüttelte er bei diesem abstrusen Gedanken den Kopf. Diese Kinder waren Mittel zum Zweck. Um der Menschheit zu helfen, war Geld nötig... Forschungen kosten Geld, Apparaturen, Medikamente... alles kostete Geld. Doch er war nah dran, den Durchbruch zu schaffen, glaubte er und lächelte still in sich hinein. Dieses Medikament würde die Medizin revolutionieren, es würde eine ganze Volkskrankheit in Europa, auf der Welt, ausrotten. Er fuhr sich über seinen grauen Mittelscheitel, die Haare fielen ihm immer wieder vor die Brille auf seiner Nase. Ja, diese Forschungen mussten finanziert werden. Und dafür war die Entführung reicher Kinder nötig.

    Er wusste, dass Eltern alles für ihre Kinder tun würden. Niemand wäre so töricht, die Polizei zu informieren, wenn sie selbst das Geld haben, um eine Viertel-Million zu bezahlen. Für ihn, als Mediziner war es ein leichtes, die Kinder "ruhig zu stellen", und damit ein optimales Druckmittel zu haben. Ein selbst entwickeltes Medikament, mit dem man Menschen in einen komatösen Zustand versetzen kann. Die Dosierung bestimmte den Schweregrad des Komas, und deren, leider immer noch nicht vorausschauenden Folgen. Würde man nach einer gewissen Zeit wieder aufwachen? Trug man Schädigungen davon? Starb man vermutlich daran? Er hatte lediglich Tests angestellt, die ihm genügten. Die Kinder, die starben, waren Kolleteralschäden, in seinen Augen. Was waren schon 3 oder 4 Kinder gegen Millionen von Menschen, die er hätte retten können.
    Johannes Reuter hatte längst den klaren Blick über sein Handeln verloren. Manchmal wusste er das, es gab Momente in denen er sich in seinem Labor verkroch und die Sinnlosigkeit seines Vorhabens greifbar vor sich sah. Doch die meiste Zeit, so wie jetzt, war er von sich selbst überzeugt, das Richtige zu tun. In seinen theoretischen Forschungen hatte er den goldenen Schlüssel gefunden... die endgültige Krebsheilung. Keine schmerzhafte, anstrengende Chemo-Therapie war mehr nötig, niemand musste mehr unter unmenschlichen Schmerzen und Unwohlsein leiden, niemand musste mehr die Haare verlieren, um dann in vielen Fällen trotzdem den Kampf zu verlieren. Es wäre ein großer Schritt, in der Geschichte der Menschheit gewesen, doch er kämpfte gegen einen mächtigen Gegner. Die Pharmaindustrie, die jährlich Millionen Gewinne an Krebsmedikamenten verbuchte... und noch viel mehr Gewinne an Medikamente, die die Nebenwirkungen der Chemotherapie behandelten. Ein einzelnes Medikamente würde unglaubliche Verluste für die Hersteller üblicher Krebs-Medikamente bedeuten, und man lehnte seine Theorien unter fadenscheinigen Gründen ab. Reuter, ein krankhafter Idealist, sah sich aber dazu berufen, die Menschheit von dem Joch des Krebses zu befreien um Millionen von Menschen das Leben zu retten.

    Nach einem Brandanschlag auf ein Hauptbüro der Pharmaindustrie saß Reuter im Gefängnis. Dort lernte er den Kidnapper Cablonsky kennen, den er für seinen teuflischen Plan gewinnen konnte. Nur ein paar Entführungen von reichen Kindern, und er würde gut entlohnt werden, bis Reuter das Medikament hergestellt hatte. Danach wollte er dieses Medikament an todgeweihten Krebspatienten testen, denen man keine Überlebens- und Heilchancen mehr einräumte, um danach mit diesen an die Presse zu treten und der Pharmaindustrie die Pistole auf die Brust zu setzen. "Sehr her, ich kann Krebs ohne Qualen heilen... und die Pharmaindustrie will es verhindern." So sah er seine eigene Schlagzeile. Cablonsky und dessen Freund Zange entführten die Kinder reicher Eltern, von den Lösegeldern bezahlte Reuter die Forschungen.
    Gerade war er tief in einer guten Geistesphase, wie er es selbst nannte, als eine grobe Faust an die blechernde Schwingtür schlug, die diesen Raum von dem Flur abtrennte. Reuter zuckte beinahe etwas zusammen, bevor er sich umdrehte und einen ärgerlichen Zug im Gesicht hatte. "Was ist denn?" Cablonskys heimtückisches Gesicht tauchte mit einem Grinsen durch die Schwingtüre auf und vermeldete, dass man das Kind des türkischen Chiruges aus Köln geschnappt hätte, und in das Haus gebracht hatte. "Gut gemacht, ihr Zwei. Habt ihr Kontaktdaten?" "Na sicher doch. Wir sind doch keine Anfänger.", sagte Cablonsky und warf dem Mediziner Aydas bunten Geldbeutel auf den Tisch. Reuter nahm den Geldbeutel in die Hand und klappte ihn auf. Im Beutel war ein Zettel, auf dem ihr Name, die Adresse und die Handynummer von Semir stand, falls sie den Geldbeutel irgendwo verlieren sollte. Das Gesicht von Reuter verfinsterte sich schlagartig. Er war ein ausgezeichneter Mediziner, jedoch konnte er von einem auf den anderen Moment zum Wüterich werden, wenn er dafür Anlaß sah.

    "Ihr Idioten! Ihr bescheuerten Einzeller!", schrie er laut, nahm den Geldbeutel und warf ihn Cablonsky an die Stirn, der zwei Schritte zurückwich. "Was ist denn jetzt kaputt?" "Ihr habt das falsche Mädchen entführt. Die Tochter des Chirugen heißt nicht Ayda Gerkhan, sondern Nesrin Gerkhan." Cablonsky wurde bleich... so etwas war ihm noch nie passiert. "Aber Chef... sie... sie war in dem Wohnviertel, und in der Schule. Die Informationen unseres Mannes war noch nie falsch. Das hat alles gepasst, auch das Aussehen.", stotterte er. Der Kidnapper unterhielt Kontakt zu einem Computerhacker, der in kürzester Zeit jede Information über eine Familie aus dem Netz ziehen konnte, die es gab. So konnte man eine günstige Gelegenheit zur Entführung perfekt abpassen. "Na super.", knurrte Reuter und hob abwertend die Hand. "Fakt ist, dass das die Falsche ist. Für sie wird uns der Arzt nichts bezahlen." Knurrend drehte er sich zu seinen Formeln.
    Cablonsky sah ein wenig verärgert drein, er mochte es nicht, wenn man so mit ihm umging. Aber der Mediziner bezahlte gut, und so nahm er es hin. Er rieb sich die Stirn und konnte sich noch genau daran erinnern, wie der Typ ihn damals im Knast angesprochen hatte. Er hatte ihm von einer Vision erzählt, den Krebs besiegen und so weiter... Cablonsky hatte da schon nicht mehr hingehört. Interessant wurde es erst, als es ums Geld ging, da war er in seinem Element. Die Hintergründe dieses komischen Weißkittels interessierten ihn nicht... auch nicht, warum er die Kinder ins Koma spritzte. "Kinder sind besser zu entführen als Erwachsene.", hatte er mal gesagt, und damit hatte er recht, musste Cablonsky zugeben. Erwachsene wehrten sich mehr, Erwachsene konnten sich kleine Details, wie die Aussprache und Klang der Stimme besser merken als verängstigte eingeschüchterte Kinder.

    "Und... was machen wir jetzt?", fragte Cablonsky etwas vorsichtig vom Rücken des Mediziners aus, der sich wieder zu seinem, gezwungenermaßen, Geschäftspartner umdrehte. "Du hast die Adresse, eine Handynummer und den Namen des Kindes. Dein Hacker soll alles über die Familie herausbekommen... und dann sehen wir weiter. Wenn du nicht gerade das Kind eines Arbeitslosen entführt hast, können wir ja vielleicht doch noch etwas Geld machen. Und die drei anderen Kinder in dem Haus, für die bereitest du spätestens in drei Tagen auch die Geldübergabe vor. Ich hatte die junge Tochter der Gerkhans nur wegen des möglichen hohen Lösegeldes vorgezogen, aber nicht gedacht dass ihr die Falsche entführt, ihr Flaschen." Cablonsky zog, mit einem Handy in der Hand, murrend ab. An den Wänden des Krankenhauses hing der Putz in Streifen ab, kein Strom funktionierte hier, weswegen der Mediziner nur tagsüber, oder mit Taschenlampe arbeitete. Er ließ seinen Ärger verrauchen, als er sich wieder den Formeln widmete... den Formeln, die der Menschheit ein besseres leben bieten sollten.

    Dienststelle - 16:00 Uhr

    Semir versuchte zunächst, einfach nur zu funktionieren. Die Panik, die Angst, der Horror, der in ihm aufkam zu unterdrücken. Er musste als Familienoberhaupt, als erfahrener Polizist, den kühlen Kopf bewahren, den er hatte, wenn er auch als Polizist in dieser Situation mit Fremden arbeitete. Er versuchte am Telefon Andrea zu beruhigen. "Was meinst du damit? Hast du sie nicht abgeholt?" Die Stimme seiner Frau zitterte, wie ihr ganzer Körper, und sie drückte das schnurlose Haustelefon so fest an ihr Ohr, als ob sie Angst hatte, jemand würde sie belauschen. "Ich... ich habe eine Lehrerin getroffen, als ich an der Schule wartete. Sie hat gesagt, dass Aydas Klasse eine Stunde früher Schluß hatte, und sie mich nicht auf dem Handy erreichen konnte. Da wäre sie den kurzen Weg zu Fuß gegangen." In Semir taten sich schreckliche Paralellen zu Nele Lauer auf... das konnte doch kein Zufall sein. Beobachteten die Kerle etwa Schulen, und passten Kinder ab, die zu Fuß sich auf den Heimweg machten? Nein, nein, an so etwas durfte er zunächst nicht denken. "Es sind zu Fuß höchstens 15 Minuten bis zu uns nach Hause. Kann es sein, dass sie vielleicht bei Jasmin ist, deren Haus liegt doch auf dem Weg." Der erfahrene Polizist versuchte krampfhaft, seine Stimme ruhig und sachlich zu halten, um Andrea zu beruhigen. Es wäre kontraproduktiv, würde Andrea merken, dass er auch er völlig hippelig wurde. "Dort geht niemand ans Telefon.", sagte Andrea sofort. "Okay, wir fahren dahin. Bleib du am Telefon, falls Ayda doch noch anruft, okay? Danach kommen wir nach Hause.", sagte er und legte auf.
    Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Stimme begann zu zittern nachdem er aufgelegt hatte. Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren, und sein Bart wirkte grauer als sonst. "Was ist passiert?", fragte Ben sofort, der das Gespräch natürlich verfolgt hatte, und plötzlich einen Klos im Hals spürte. "Ayda... sie ist nicht nach Hause gekommen.", sagte Semir, und seine Sachlichkeit, mit der er Andrea beruhigen wollte, war wie weggeblasen. "Ach du Scheisse...", murmelte Ben zuerst geschockt, um dann beschwichtigend die Hände zu heben. "Vielleicht... bei einer Freundin?" "Das müssen wir jetzt herausfinden... Los!"

    Die beiden Polizisten schnappten ihre Jacken und liefen durch das Großraumbüro nach draussen auf den Parkplatz. Jenny und die beiden Streifenbeamten Hotte und Dieter sahen ihnen überrascht hinterher, sie hatten gar nichts von einem dringenden Einsatz mitbekommen. Ben drängelte sich draussen an den Autos vor und setzte sich in den Mercedes, denn er hatte ein ungutes Gefühl, Semir in diesem Gefühlschaos ans Steuer zu lassen. Der willigte nur widerwillig ein, denn gerade jetzt wollte er die Kontrolle behalten, wollte er Einfluss darauf nehmen, wie schnell sie von A nach B kamen. Doch da brauchte er sich eigentlich bei Ben keine Sorgen zu machen, denn der erkannte den Ernst der Lage sofort. Und selbstverständlich machte sich der junge Polizist mit den wuscheligen Haaren selbst große Sorgen um "seine kleine Maus", wie er Ayda immer liebevoll nannte, war er doch schließlich sowas wie der Onkel der beiden Kinder.
    Im Eiltempo wechselten die beiden Autobahnpolizisten die Kölner Vororte und hielten vor einem anderthalb stöckigen Einfamilienhaus mit kleinem Vorgarten. Es lag in Semirs Wohnviertel, denn hier wohnte Aydas Freundin Jasmin, wo sie häufig zum Spielen hinging. Die beiden Männer stiegen aus und hetzten an die Tür, wo Semir sofort Dauerfeuer gab. "Reiß nicht die Klingel ab, Semir.", meinte Ben, der zwar die Hektik und Aufgeregtheit seines Freundes nachvollziehen konnte, aber gerade deshalb auch selbst versuchte, klaren Kopf zu bewahren. Würden sie jetzt beide völlig durchdrehen, würde ihnen das überhaupt nicht helfen. In solchen Situationen bewunderte er manchmal seinen Freund Kevin, der in manchen Situationen, wo manch einer durchdrehte zumindest nach Außen hin eine absolute Ruhe und Gelassenheit vermittelte, und damit auch seine Mitmenschen in seiner Umgebung dazu brachte, eher ruhig zu bleiben. Doch alles klingeln war umsonst, im Haus blieb es still, und in der Einfahrt vor der Einzelgarage parkte auch kein Wagen. "Verdammt nochmal...", meinte Semir mit zusammengepressten Lippen.

    Doch diesmal schien ihnen das Glück zu helfen, denn gerade fuhr ein dunkelblauer Kastenwagen an der Einfahrt vor. Zora Unger, die Mutter von Jasmin und das Mädchen selbst saßen im Auto und blickten den Polizisten überrascht an. "Semir, was machst du denn hier?", fragte die Frau, mit feuerrot gefärbten Haaren, als sie gerade aus dem Wagen ausstieg. Der erfahrene Kommissar versuchte seine Aufgeregtheit so gut es ging zu überspielen, als er die Treppen herunterging und zu Zora in die Einfahrt kam. "Zora, gut dass du kommst. Ayda ist nicht von der Schule nach Hause gekommen, und wir suchen sie gerade." Sein Blick fiel auf die kleine Jasmin, die im Vergleich zu Ayda einen guten halbe Kopf größer war, als Semirs Tochter. "Jasmin... bist du heute mit Ayda nach der Schule nach Hause gegangen?" Das Mädchen nickte, und Semir war erleichtert und noch verängstigter zugleich. "Wir hatten eine Stunde früher Schluß, und sind zusammen hier her. Von hier ist sie dann alleine weiter. Sie konnte ihre Mutter auf dem Handy nicht erreichen.", plauderte das Mädchen. Von hier bis zu Semirs Haus waren es vielleicht nur noch 5 Minuten zu Fuß. Das einzige, was noch auf dem Weg lag, war ein kleiner Park mit einem Spielplatz. "Semir, reg dich doch nicht so auf. Vielleicht ist sie noch zu einer anderen Freundin... so klein ist Ayda doch nun nicht mehr, dass sie sich verlaufen würde.", meinte die junge Mutter und erkannte scheinbar Semirs Aufgeregtheit. Der Polizist konnte ihr die sachliche Sichtweise nicht verübeln, denn in den Medien war so gut wie nichts über die Komakinder bekannt. Dass innerhalb kurzer Zeit zwei Kinder bei angeblichen Unfällen ins Koma gefallen sind assozierte niemand mit einem Verbrechen. Wäre die unheimliche Serie der Kindesentführung in den Medien ein Thema, würde Zora die Sache sicher nicht zu locker sehen.
    Semir bedankte sich bei den Frauen und meinte selbst, dass sich wohl alles ganz harmlos aufklären lassen würde. Es kostete ihn viel Überwindung, ruhig zu bleiben, und die beiden Polizisten zogen wieder ab. "Von der Schule bis hier ist also alles gut gegangen.", meinte er dann, als er wieder mit Ben im Auto saß. "Hat sie noch Freundinnen in dem Wohngebiet, zu denen sie kann." Semir nickte, schränkte aber sofort ein: "Ines, aber die sind heute schon in Urlaub geflogen, weil nächste Woche Herbstferien sind. Ayda weiß das." Damit schied diese Möglichkeit aus.

    Semir wies Ben den Weg zu dem kleinen Park, der mitten in der Wohnsiedlung lag. Ayda ging dort oft mit ihrer Freundin hin, auf den Spielplatz zum Toben, zum Fahhrad fahren oder einfach nur zum Spazierengehen. Auch mit Lilly und ihren Eltern war sie öfters da. Es war zumindest ein wenig abseits der Häuser, und man war eher ungestört, als mitten auf der Straße. Ben ließ den Wagen auf dem Bürgersteig zur Seite des Parks ausrollen. "Ben, wir müssen den ganzen Park da durchkämmen. Groß ist das nicht, irgendwas müssen wir finden." Sein Partner nickte wie selbstverständlich und meinte: "Kein Problem, auf gehts." Widerworte gab es jetzt nicht, und Ben würde sich vollends dem fügen, was Semir nun anordnete, auch wenn er natürlich einige Sachen kritisch hinterfragen würde. Gebückt und wie Spürhunde mit der Nase am Boden, durchschritten sie die Wege in dem kleinen Park, gingen zwischen den Bäumen hin und her und gelangten schließlich zum Spielplatz. Der Spielplatz war, anders als der Park, mit weichem feinen Sand ausgelegt. In diesem Sand fiel Ben sofort etwas auf, als er nahe der Schaukel stand. "Semir... schau mal hier." Sofort kam der kleine Polizist angelaufen, und blieb bei Ben stehen, der auf den Boden bei der Schaukel deutete. Die klare Kuhle unter der Schaukel war zu sehen, an der der Sand dunkler und hart zusammengepresst war, wo die Kinder mit den Füßen über den Boden streiften. Dahinter war der Sand weicher und heller... doch es waren ganz klar mehrere Verwerfungen zu sehen, dunkler unterer Sand, der an die Oberfläche geworfen würde. "Siehst du... als hätte hier irgendeine Bewegung stattgefunden. Und da ist nicht nur jemand vorbei gelaufen. Das sieht aus, als hätte hier jemand gerauft, unkontrollierte Bewegungen gemacht." Semirs Herz klopfte fest gegen seine Brust, in seinem Kopf tauchten Horrorbilder davon auf, dass seine Tochter nichts ahnend und rücklings von der Schaukel gekidnappt wurde. Er blickte starr auf die Verwerfungen im Sand, und konnte keine Antwort geben, denn es war, als würde sich die Welt vor seinem inneren Auge zu drehen beginnen. "Semir?", hörte er Bens Stimme ganz weit weg, und spürte nur schwach dessen Hand an seinem Oberarm.

    Die Welt stand plötzlich still, als er in den Verwerfungen etwas entdeckte. Der Polizist fiel in dem Sand auf die Knie und begann einiges an Gestein zur Seite zu schieben, um das ans Tageslicht zu befördern, was er gerade entdeckt hatte. Als er es in den Händen hielt, und von allen Seiten betrachtete, begann er zu zittern. Sein Herz wollte zerspringen, als er die kleine Haarspange entdeckte, die eindeutig Ayda gehörte, denn Semir kannte sie. Er hatte sie ihr selbst aus der Türkei mitgebracht, als er dort vor einigen Jahren mit Ben zusammen war. "Oh mein Gott...", hörte er sich selbst flüstern. Ben stand schräg hinter ihm, und konnte erkennen, was sein Freund in der Hand hielt. Es war unnötig zu fragen, ob die Haarspange Ayda gehörte, denn sonst würde Semir nicht so reagieren. Der junge Polizist fühlte sich schrecklich hilflos für einen Moment und wusste nicht, welche tröstenden Worte er für seinen Freund finden konnte. Was sagte man in diesem Moment einem Mann, der selbst für andere immer die richtigen Worte fand. Und ausserdem... wie groß war die Möglichkeit, dass Ayda hier war, schaukelte und die Spange verloren hatte? Aber die ganzen Verwerfungen im Sand? Und warum ist sie nicht nach Hause gegangen...
    Es war eigenartig, Semir im Sand knien zu sehen, wie hypnotisiert auf die Haarspange zu starren, und den großgewachsenen Ben daneben. Irgendwann griff der seinem Freund unter die Arme, und versuchte ihn wieder hoch zu ziehen. "Komm Semir. Wir müssen zu dir nach Hause fahren. Wenn sie Ayda entführt haben, dann rufen sie bei dir an, und dann musst du da sein." Das überzeugte den Polizisten, der sich von Ben wieder auf die Beine heben ließ und mit ihm zum Auto zurückging. Die Spange hielt er dabei wie ein Kind fest an die Brust gedrückt, wobei er sein Herz deutlich spüren konnte.

    Wohngebiet - 13:30 Uhr

    Die Stimmung im Dienstwagen von Ben und Semir war nicht unbedingt die beste, nachdem sie das Krankenhaus verlassen hatten, und Ben den Mercedes in Richtung des Wohngebietes steuerte, in dem die Lauers wohnten. Sie sprachen nur die nötigsten Sätze miteinander, man konnte als Aussenstehender fast das Gefühl haben, dass die beiden Krach miteinander hätten, was natürlich nicht der Fall war. Aber Semir fühlte sich nicht besonders gut in seiner Haut, als solle sich ein größeres Unheil androhen, und er es bereits vorspüren. Ben warf immer mal wieder einen Seitenblick auf seinen Partner, es war ungewohnt in so einer Stille und Ernsthaftigkeit zu arbeiten, wo beide doch immer recht locker zueinander waren und immer einen lustigen Spruch auf den Lippen.
    Der Polizist lenkte den grauen Mercedes zu der Grundschule, und hatte sich die Route zu Neles Adresse in das Navi einprogrammiert. Nun fuhren sie langsam die Strecke ab, die komplett in einem kleinen Vorort von Köln lag, direkt an der Autobahn. Immer waren Häuser in der Nähe, nie hätte das Kind auf dieser direkten Route durch ein längeres einsames Waldstück oder Teil einer Landstraße gehen müssen. Die Gangster mussten skrupellos und eiskalt zugeschlagen haben, blitzschnell ohne dass es jemand mitbekommen hatte. Sicherlich hatte das LKA bereits alle Nachbarn auf Auffälligkeiten befragt, sicherlich hatten die auch schon Neles Weg zur Schule genauestens untersucht. Doch die beiden Autobahnpolizisten spürten, dass sie irgendetwas tun mussten, sie konnten nicht einfach zur Tagesordnung übergeben.

    Plötzlich hielt Ben an. Auf der rechten Seite der Straße war, vielleicht gerade mal 100 Meter eine kleine Waldfläche an der Straße entlang. Dahinter lag direkt die Autobahn, man konnte durch dieses kleine Wäldchen durchspazieren und stand direkt hinter der Leitplanke. In 10 Minuten hatte man diese Baumgruppe durchschritten, gegenüber standen allerdings immer noch Häuser. "Was hälst du davon?", meinte Ben und zeigte mit dem Finger in das kleine Waldstück hinein, das auf dieser Seite die Wohnsiedlung quasi unterbrach. Die Autobahn machte hier einen kleinen Schwenk zum Wohngebiet, und offenbar wollte man niemandem zumuten, den Garten direkt an der Lärmschutzwand zu haben. "Hmm... da könnte man zumindest ein Auto hinstellen und ein Kind schnell von der Straße zerren.", meinte Semir nachdenklich. Sein Partner drehte den Schlüssel des Autos um, um den Motor abzuschalten und beide Freunde stiegen aus.
    Sie überquerten die Straße und verschwanden dann schnell in dem kleinen Wäldchen. Der Boden des Feldweges, der einmal quer durch den Wald führte, war bereits von Blättern durch den gestrigen Sturm übersät, einige Äste lagen herum und über den Köprfen der beiden Polizisten rauschten die bunten Bäume im immer noch steifen Wind, der vor allem Bens Haare durcheinander brachte, die er mit der rechten Hand mehrmals zu bändigen versuchte. "Wird langsam Zeit für ein Haargummi, hmm?", meinte Semir, während sie den Weg abgingen und die Augen offen hielten. Ben war froh, mal wieder etwas Lustiges aus Semirs Mund zu hören und konterte mit: "Das ist der Neid der Besitzlosen." Sie spähten auf den Weg, versuchten irgendwelche Hinweise wie Reifenspuren, weggeworfenen Zigarettenkippen oder sonstige Dinge zu finden... doch nichts, was in irgendeiner Art und Weise verdächtig erschien, kam ihnen vor die Augen.

    Der Wald war reine Natur, und je weiter sie sich von der kleinen Ortsstraße entfernten, desto lauter konnten sie die Autobahn hören und allmählich auch sehen. Sie kamen tatsächlich bis an die Leitplanke der Fahrtspur heran. "Sie könnten das Auto auch hier am Seitenstreifen abgestellt haben.", rief Ben gegen den Verkehrslärm, während Semir die Leitplanke abging. Aber auch hier waren keinerlei verdächtige Spuren zu sehen, bis etwas gelbes, plastikähnliches aus dem grünen Gras herausstach. Der ältere Polizist der beiden bückte sich, und beförderte tatsächlich ein gelbes Plastikschild mit einer schwarzen 2 darauf hervor. Es hatte einen Winkel, damit es schräg auf dem Boden stehen konnte. "Wir sind nicht die Ersten, die hier suchen.", rief er laut und hielt es nach oben, damit auch Ben den Fund begutachten konnte. Ohne Zweifel war es eines der Markierungsschilder, die der Suchtrupp der KTU benutze um Beweisstücke auf dem Boden zu markieren, Fotos davon zu schiessen, bevor sie eingesammelt wurden. "Haben die das hier vergessen, oder was?", fragte Ben, als er näher bei seinem Freund war, und das Schild in die Hand nahm. Es war nicht verwittert oder besonders alt, es konnte also noch nicht lange hier liegen. "Scheinbar haben sie ja zumindest etwas gefunden... als war unsere Vermutung mit dem Wald nicht ganz falsch. Lass uns zurückgehen."
    Auch bei dem Rückweg klebten die Augen der beiden Polizisten auf dem Boden, sie gingen nicht auf dem Weg, sondern quer durch die Bäume. Doch wenn die Entführer Nele wirklich auf dem Gehweg abgepasst hatten und hier in den Wald geschleppt hatten, dann wären sie kaum abseits des Weges gelaufen, soviel war den beiden klar. Und der Feldweg war zu fest, von den Bäumen vor starkem Regen geschützt, als dass sich dort wirklich hätten Fußspuren finden lassen können. Ausserdem ging hier auch sicher mal der ein oder andere Bewohner der Wohnsiedlung mit seinem Hund Gassi.

    Semir war nicht niedergeschlagen, als sie aus dem Wald wieder ans Sonnenlicht, das sich mal ausnahmsweise durch die graue Wolkendecke gebrochen hatte, zurückkehrten. Er spürte, dass er diese Jagd, diese Ermittlungen betrieb, weil er Angst hatte. Angst davor, ähnliches zu erleben, Angst um seine Kinder... eigentlich eine Angst, die tagtäglich herrschen musste, und die er niemals so intensiv gespürt hatte. Sie war jetzt so intensiv, weil er das Schicksal dieser Eltern und der Kinder im Krankenhaus hautnah gesehen hatte. Ihm war klar, dass er damit Schluß machen musste, dass ihn diese Gedanken mehr ängstigten, als dass sie ihn therapierten.
    "Na komm... machen wir wieder unsere Arbeit.", meinte er zu Ben, als sie wieder ins Auto einstiegen. Er wurde von seinem jüngeren Kollegen etwas irritiert angesehen. "Was meinst du?" "Na, auf die Piste. Zeit für unsere Runde." Bens Augen bewegten sich etwas unsicher hin und her, hatte er doch den Eindruck dass gerade Semir besessen davon war, diese Ermittlungen an sich zu reißen, gegen den Befehl der Chefin, gegen die Anweisungen des LKAs... eben weil er sich durch seine Töchter so betroffen fühlte. So ganz wurde er auch der Meinung seines Freundes nicht ganz schlau, und das spürte Semir auch. "Wir sind keine Superbullen. Wer weiß, welche Erkenntnisse das LKA schon hat. Lass die ihren Job tun, wir tun unseren." Ben lenkte den Mercedes wieder auf die Straße und nahm die Route in Richtung Autobahn auf. "Okay... aber eben hatte sich das noch ganz anders angehört.", sagte er vorsichtig ohne zu Semir herüber zu schauen. "Ja, ich hab mich von der Situation etwas vereinnahmen lassen. Aber als ich jetzt das Schild gefunden habe wurde mir klar, dass wir doch hier nach etwas suchen, was das LKA vielleicht längst gefunden hat. Ausserdem...", meinte er und lächelte zu Ben, was eher aufgesetzt war, als dass es ein ehrliches Lächeln war: "... wir dürfen nicht immer denken, dass wir alles besser können als andere Abteilungen." Sein Freund wiegte mit einer Schnute den Kopf hin und her, wobei er kurz nickte. "Okay, dann kümmern wir uns wieder um unsere bösen Buben."

    Freilich, besser fühlte sich Semir keinesfalls. Aber er war abgelenkt irgendwann, durch seine Arbeit. Sie hielten einen Raser an, der beinahe mehrere Verkehrsunfälle verursacht hatte und stellten fest, dass dieser sowohl unter Alkohol- als auch unter Drogeneinfluss stand. Er wurde aufs Revier verfrachtet und dort von Kollegen der Drogenfahndung am späteren Mittag abgeholt.
    Ben war gerade zur Toilette, Andrea bereits nicht mehr im Büro, als Semirs Handy klingelte. Auf dem Display erschien das Anruferbild seiner Frau Andrea, und der erfahrene Kommissar konnte nicht sagen, warum er plötzlich und unweigerlich ein beklemmendes Gefühl in den Magen bekam. Diese Beklemmung entwickelt sich zu einem Stechen, als er die zitternde, beinahe aufgelöste Stimme seiner Frau am Hörer hörte. "Semir...?", fragte sie leise, noch bevor er sich melden konnte, und der Kommissar spürte, wie es ihm heiß und kalt den Rücken herunterlief. "Andrea... was ist los?" Die Worte, die Semir nun von seiner Frau vernahm, wollten ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Obwohl sie nicht automatisch etwas Schlimmes bedeuteten, so öffneten sie doch Tor und Tür für jeden erdenklichen Alptraum, der Semir in den letzten 24 Stunden über den Weg gelaufen war. Ihm wurde schwindelig, er musste sich setzen. "Ayda ist nach der Schule nicht nach Hause gekommen..."

    Übungsgelände - 12:30 Uhr

    Es war ihm übel - kein Wunder. Nach einer Flasche Whiskey und nur 3 Stunden Schlaf steckte Kevin die Nacht in den Knochen, und das ließ ihn sein Körper spüren. Er hatte sich morgens bereits mehrfach übergeben, er hatte keinen Bissen runterbekommen, und er wandelte bei jeder Sportübung, und bei jedem Programmpunkt während der GSG9-Ausbildung an einem Kreislaufkollaps. Eisen-Kasper hatte allerdings kein Erbarmen, als er den schlechten Zustand seines "liebsten" Schülers bemerkte, und es schien im Spaß zu machen den jungen Polizisten mehr zu quälen, als jeden anderen in der Gruppe. Er ließ Kevin doppelt zu viele Liegestütze und doppelt soviele Sit-Ups machen, bei denen Kevin immer wieder schwarz vor Augen wurde, und er wieder und wieder das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen. Den ganzen Vormittag standen verschiedene Ausdauersportarten auf dem Programm, die dem Freund von Ben normalerweise keine Probleme machten... doch heute fiel ihm jeder Schritt, jede Bewegung schwer.
    Auch beim Mittagessen in der Kantine des Ausbildungslagers stocherte er nur lustlos im Essen. Sein Magen brannte und rebellierte gegen jede Form fester Nahrung. Christian, einer der wenigen in der Truppe, die keine Vorbehalte gegen Kevins Vergangenheit hatte, setzte sich zu ihm an den Tisch. "Du siehst aus, als hättest du gestern das komplette Nachtleben von Köln auf links gezogen.", meinte er mit einem Lachen im Gesicht, und begann zu essen. Christian war breit wie ein Schrank, und äusserlich der typische GSG9-Mann. Seine Haare hatte er an den Seiten abrasiert und trug einen typsichen amerikanischen GI-Schnitt, trug gerne hautenge T-Shirts, die seinen muskulösen Oberkörper besonders zur Geltung brachten. Doch trotz seinem, für manche primitiv wirkenden Auftretens hatte Christian enorm was im Kopf, war in Einsatztaktik der Beste der Truppe, und würde bei der GSG9 eine große Karriere vor sich haben. "Ja, so fühle ich mich auch.", meinte Kevin kurz angebunden und schaffte es doch ein paar Kartoffeln hinunter zu würgen.

    Christian war ein schneller Esser und in Windeseile hatte er bereits die Hälfte seines Tellers leer. Robert Kowalke, der Typ der Gruppe, der Kevin vermutlich am meisten verabscheute, kam an dem Tisch der beiden vorbei. "Na, Peters... bist du dir sicher, nachher am Selbstverteidigungstraining teilnehmen zu wollen. Nicht dass wir noch den Doktor rufen müssen." Dabei lachte er scheckig, dass ihm fast sein Teller vom Tablett rutschte. Kevin sah ihn nur mit unbewegtem Blick von der Seite an, und meinte mit gelangweilter Stimme: "Dich stoß ich auch nach Feierabend noch aus dem Anzug." Es klang wie ein lustiger Spruch, die Tonlage glich eher einer ernst zu nehmenden Drohung. "Tja... Disziplin kann man von einem Typ, der auf der Straße aufgewachsen ist, eben nicht verlangen.", versuchte der, ebenfalls recht muskulös gebaute Kowalke Kevin zu provozieren, der jedoch auf ein verbales Scharmützel weder Motivation, noch Lust verspürte. Das bemerkte auch Christian, der sich an Kowalke wandte: "Komm schon, Robert. Setz dich auf den Arsch, iss deine drei Brocken und halt hier nicht den Verkehr auf." Aus Christians Mund klang es nicht wie eine Drohung, sondern wie eine vernünftige Schlichtung der Diskussion. Der Muskelprotz war, nicht nur aufgrund seiner Erscheinung, sondern vor allem aufgrund seines Wesens bei allen geschätzt. Man wollte es sich mit ihm nicht verderben, und so drollte sich auch Robert mit seinem Tablett.
    "Keiner, mit dem Mann abends ein Bierchen zusammentrinken würde, was?", meinte der GSG9-Schüler grinsend zu seinem grimmig dreinblickenden Kollegen, der bei den Worten "Bier" und "trinken" am liebsten wieder auf der Toilette verschwinden wollte. "Ganz und gar nicht.", meinte er kurz angebunden, und dachte daran, wann er das letzte Mal mit Semir und Ben ein Bier trinken war. Es war definitiv schon zu lange her...

    "Du bist nicht so glücklich hier.", meinte Christian dann nach einer Weile, als er das Gefühl hatte, dass nicht nur die letzte Alkoholnacht Schuld an Kevins mieser Stimmung war. Er schien ein feines Gespür für die Stimmung eines Menschen zu haben, denn er hatte ganz recht... Kevin war hier nicht glücklich. Es gab soviele Möglichkeiten, als guter Polizist bei der Polizei in eine interessante Abteilung zu kommen, doch nach der Sache im Knast war Kevin in echten Nöten, wieder Anschluß im Polizeidienst zu finden. Zur Autobahnpolizei wollte er nicht, wegen Jenny... was er im Nachhinein bereute. Und jetzt, wo mit Jenny alles geklärt war, und die beiden sogar zusammen waren, erst recht. Bienert hatte ihm einen Platz im Drogendezernat angeboten, doch hier befürchtete der ehemalige Dealer zuviel Kontakt zu Ex-Freunden und noch bestehenden Freunden in der Szene. Wechseldienst kam für ihn ganz und gar nicht in Frage, und in der Mordkommission hatte er ebenfalls keinerlei Freunde mehr, noch dazu würde er auf seinen ungeliebten Ex-Partner Plotz treffen.
    Bei der GSG9 kannte ihn niemand, und hier hatte er sich eine Art Flucht erhofft. Er hatte sich ein Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe erhofft, das sich nicht einstellte, denn die Knast-Geschichte hatte sich in der kompletten Polizei herumgesprochen, genauso wie das interne Ermittlungsverfahren gegen ihn... und es gab nur wenige, die keine Vorbehalte hatten. "Das hast du gut bemerkt.", antwortete er auf Christians Feststellung. "Dann solltest du nicht hierbleiben. Dieser Job ist der härteste, der dir bei der Polizei begegnen kann, und dafür musst du leben. Versteh mich nicht falsch, Kevin. Du bist ein klasse Polizist, ein 1A-Karatekämpfer und wärst in der GSG9 sicher ein sehr guter Mann. Aber du musst nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen dabei sein." Er unterbrach seine Rede kurz, bevor er mit dem Tablett in der Hand aufstand. "Und das bist du nicht." Kevin konnte nichts anderes, als ihm zu zu stimmen. Sein Herz war in der Tat woanders.

    Es ging ihm nicht unbedingt besser, während er in der Umkleidekabine seine Sporthose und ein kurzärmeliges Shirt anzog. In der Turnhalle wärmten sie sich auf, dass ihnen sofort der Schweiß aus den Haaren rann. Dann wurden mehrere Stunden verschiedene Kampfportarten trainiert, vom Boxen über Karate, zu Kung-Fu. Auf jeden erdenklichen Angriff musste man eine entsprechende Antwort parat haben, wurden sie von Eisen-Kasper instruiert, der einen erfahrenen Boxer und einen erfahrenen Karate-Kämpfer zur Unterstützung dabei hatte. Kevin war eher aus der Puste als sonst, aber immerhin waren seine Reflexe von dem Restalkohol im Blut nicht alzu beeinträchtigt.
    "Okay. Stellt euch auf zu den Karate-Zweikämpfen. Die Tritte und Schläge werden nur angedeutet, es gibt keinen Kontakt.", rief Kasper mit seiner sonoren Stimme durch die Turnhalle. Dann gab er die Paare bekannt, die sich gegenüber stellten... am Ende stellte er Kevin und Robert zu einem Zweikampf zusammen. Kevins Gegner grinste, bevor er ihm beinahe überfreundlich die Hand reichte, die Kevin mit einem arroganten Blick verweigerte. Sofort gefror Roberts grinsende Miene. Kevin war niemand, der Gemeinheiten schnell vergaß und gute Miene zum bösen Spiel machte. Eine Abneigung ließ er andere mehr als deutlich spüren. Die beiden begannen mit verschiedenen Tritten und Schlägen, schlugen aber nie so weit, dass sie den anderen verletzten. Als Karate-Kämpfer konnte man dies gut abschätzen, die Faust kurz vor der Nase zu stoppen. Der junge Polizist hatte beinahe vergessen, dass es der ungeliebte Kotzbrocken der Truppe war, der ihm gegenüber stand, so konzentriert war er, als Robert einen Schlag in Richtung der Magengrube von Kevin voll durchzog, und dem Polizist der Atem wegblieb. Sofort gaben Kevins Beine nach, und er krümmte sich vor Schmerz auf der Matte, sofort kam die Übelkeit zurück, die er schon den ganzen Morgen bekämpfte. Robert machte ein erschrockenes Gesicht und beugte sich sofort runter zu Kevin: "Oh scheisse... tut mir leid, Mann. Das war keine Absicht." Er wurde von Kevin, der das gespielte Mitleid sofort erkannte, weggeschubst, wobei er danach entschuldigend die Hände hob. Eisen-Kasper sah die Szene, und grinste in sich hinein, ohne einzugreifen.

    Kevin rappelte sich langsam wieder auf, presste eine Hand auf die schmerzende Stelle, und sah sein Gegenüber an. Der streckte Kevin die Faust, als nochmalige Entschuldigung hin, wobei er gleichzeitig grinsend fragte: "Oder soll ich doch den Doktor rufen." Eine Anspielung auf seine Provokation aus der Mittagspause, was Erklärung genug war, dass der Schlag nicht unabsichtlich passiert ist. Als wolle Kevin die Entschuldigung annehmen, berührte er mit der rechten Faust die Faust von Robert, um gleichzeitig mit Links einen Schlag gegen dessen Gesicht zu landen. Seine Faust landete krachend an Roberts Wange, der sofort zurücktaumelte und der junge Polizist ging sofort nach. Einen rechten Schlag auf die Leber konnte der Fiesling aufgrund seiner Benommenheit nicht mehr abwehren, und beugte sich, schmerzensgekrümmt nach vorne. Bevor Christian, der das ganze aus der Nähe, weil er direkt neben den beiden trainierte, eingreifen konnte, zog Kevin dem vor ihm nach vorne gekrümmten Robert das Knie unters Kinn, was diesen endgültig und im Gesicht blutüberströmt zu Boden gehen ließ.
    "Bist du bescheuert?", fuhr Christian Kevin an und packte den jungen Polizisten sofort an den Armen, um ihn von Robert wegzuziehen, aus Angst dass er nochmal zuschlagen würde. Doch das hatte der Polizist gar nicht vor, und er ging ein paar Schritte zurück. Erst Christians Ruf hatte alle anderen Polizisten dazu bewogen, sich zu der Szene zu drehen, und auch jetzt erst bekam Kasper mit, was geschah, denn er hatte sich gerade zwei anderen Schülern zugewandt. Er drängte sich zu dem Schauplatz, wo Robert keuchend und Blut spuckend versuchte, sich aufzusetzen. "Was ist hier los? Was soll das, Peters?", schrie er wütend. Kevin hob die Arme, wobei ihm Roberts Blut von einem Handrücken lief. "Das war keine Absicht.", meinte er mit seiner montonen Stimme, genau wie Robert vorher, und sein Blick auf den stöhnenden Kerl am Boden drückte Gleichgültigkeit aus. Er spürte immer noch Christians stahlharten Blick am Arm, und erntete von diesem einen vorwurfsvollen Blick. "Los, ab unter die Dusche! Wir sprechen uns noch, Peters.", wütete der Ausbilder, und der Muskelprotz lies Kevins Arm los, der sich kommentarlos die Hand an der Sporthose abwischte, und sich in die Umkleidekabine verdrückte.

    Krankenhaus - 12:00 Uhr

    Ben und Semir konnten Neles Mutter Maria ruhig zu reden, ihre Tochter für einige Minuten alleine zu lassen. Es fiel ihr schwer, das Zimmer zu verlassen und die beiden Polizisten gaben ihr alle Zeit der Welt, dem jungen Mädchen noch einmal durchs Haar zu streichen, und ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben. Semir beobachtete dies mit einer Beklemmung, die in diesem Moment nur Eltern verstehen konnten, und sein Blick drückte unendliches Mitgefühl aus, als die drei das Krankenzimmer verließen und sich auf die Stühle im Flur setzten.
    Immer, wenn ein Arzt oder eine Krankenschwester, sowie andere Patienten an ihnen vorbeigingen, verstummten die Gespräche. Sie wollten nicht, dass jemand etwas mitbekam, wenn die ganze Sache wirklich so geheimnisvoll war. "Frau Lauer.... ich weiß, dass das unglaublich schwer für sie sein muss, aber sie müssen uns die ein oder andere Frage beantworten.", sagte Ben mit ruhiger, und vertrauenserweckender Stimme, während Maria sich die Nase schneuzte und die Tränen wegwischte. Sie wollte stark und mutig sein, sie wollte den beiden Polizisten helfen damit nicht noch mehr Eltern dieses furchtbare Schicksal erleiden mussten. "Erzählen sie uns der Reihe nach: Wie kam es zu der Entführung, was haben sie mitbekommen?"

    Die Frau seufzte auf, schaute einen Moment in ihr Taschentuch, als würde dort die Antwort auf Bens Frage stehen. Dann antwortete sie mit müder, und leiser Stimme: "Nele war in der Schule. Normalerweise gehe ich sie mit dem Auto holen und bringe sie hin. Aber an diesem Tag hatte sie früher frei, wie wir später erfahren haben." Unbemerkt, fast automatisch, rieb Semir sich die Hände, während er an den Lippen von Neles Mutter hing. Dieses Szenario, was er beschrieb, kam ihm so verdammt bekannt vor. Es war, als erlebe er gerade seinen persönlichen Alptraum. "Normalerweise ruft sie dann an. Ich bin ja den ganzen Tag zu Hause. Oder sie fährt mit einem Nachbarskind mit. Aber dieses Mal...", stockte sie und spürte wieder, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Ben tippte einige Notizen ins Handy, während Semir die Frau betrachtete... ansah... und mitlitt. "Sie kam einfach nicht. Ich stand an der Schule, und sie kam nicht. Ein Lehrer hat mir dann erzählt, dass sie eine Stunde früher Schluss hatten, und Nele zu Fuß nach Hause gehen wollte. Das sind vielleicht 2 km bis zu unserem Haus."
    "Was haben sie dann gemacht?", fragte Ben und merkte, dass Semir zwar unglaublich konzentriert schien, aber nicht in der Lage eine Frage zu stellen. "Ich habe meinen Mann angerufen, der kam sofort nach Hause. Er ist die Straßen abgefahren, ich habe bei Freundinnen von ihr angerufen. Niemand wusste etwas von ihr. Ihre beste Freundin in der Nachbarschaft hatte an diesem Tag noch eine AG und blieb in der Schule. Auch sie hatte gesagt, dass Nele alleine heimgegangen ist." Auf dem Heimweg musste die Entführung stattgefunden haben. Irgendwo zwischen der Grundschule, und dem feinen Viertel, in dem Lauers wohnten. "Ungefähr am... am späten Nachmittag... kam dann der erste Anruf.", sagte die Frau stotternd und ihre Hände begannen zu zittern. In ihrem inneren Auge erlebte sie das Grauen erneut, dass sie erfuhr, als sie die verzerrte Stimme am Telefon hörte, die ihr gerade erzählte, dass man ihre Tochter entführt hatte.

    "Welcher Anruf?", fragte Ben sofort und blickte zu der Frau auf. Sie verstummten kurz, als eine Krankenschwester an der Gruppe mit dem Stühlen vorbeiging. Dann erst fuhr Neles Mutter fort: "Es war eine verzerrte Stimme. Sie sagte, sie haben Nele entführt, und forderten Lösegeld." "Sie?", wurde die Frau sofort von Semir unterbrochen, der bisher schweigend mitgehört hatte, und jede Situation, die Maria beschrieb auf sich und seine Kinder übertragen hatte. Doch jetzt wachte sein kriminalistischer Spürsinn endlich auf. "Haben sie von mehreren gesprochen?", wiederholte er sofort. Geiselnehmer sprachen in der Mehrzahl wenn sie Profis waren, oder tatsächlich mehrere. Ein nervöser Einzeltäter würde von "ich habe... entführt", sprechen. Das war seine Erfahrung. "Ja... er sagte deutlich "Wir haben"... da bin ich mir sicher.", meinte die Frau und rief sich das schreckliche Gespräch nochmal in Erinnerung. "Hatten sie das Gefühl, er war nervös? Hatte er gestottert, hatte seine Stimme gezittert? Sprach er einen Akzent?" Semir überflutete die Frau mit Fragen, so dass Ben kurz davor war, ihn ein wenig einzubremsen, doch das tat die Frau bereits, die ein wenig abwehrend die Hände hob. "Die Stimme war wie eine verzerrte Computerstimme... da konnte man.... sowas nicht raushören.", meinte sie, und ihre Stimme hörte sich keineswegs sicher an.
    "Frau Lauer, wie gings dann weiter?", fragte Ben nun wieder etwas ruhiger und bedachte Semir mit einem tadelnden Blick, ob seines plötzlichen Übereifers. Die Frau atmete kurz durch. "Sie verlangten, dass wir keine Polizei einschalten sollten. Sie würden sich... sie würden sich abends wieder melden. Das haben sie dann auch getan und... und 250.000 Euro verlangt." Die beiden Polizisten beobachteten die Frau, von der man merkte, dass sie diese Befragung schnell hinter sich bringen wollte, um wieder zurück ins Zimmer ihrer Tochter zu können. Vermutlich könnten Semir und Ben das alles auch aus den Akten des LKA herauslesen, doch da würde man sie niemals heranlassen. Und für das Schnüffeln in fremden Akten hatte Hartmut erst einen empfindlichen Rüffel bekommen...

    "Wir... wir sind in der Lage, das Geld zu bezahlen. Wissen sie... wir haben viel Geld, was sie vermutlich an unserem Haus bemerkt haben. Eventuell... könnten das auch die Männer gewusst haben." An ihrer Stimme konnte man erkennen, dass ihr dieses Thema ein wenig unangenehm war, und Ben kam ihr mit einem: "Wir verstehen, was sie meinen", zur Hilfe. "Jedenfalls sahen wir uns in der Lage die Sache durchzuziehen, und das Leben unserer Tochter nicht zu gefährden, in dem wir die Polizei einschalteten." Ein Gedanke, der oftmals falsch war. Immer wieder machte die Polizei Kampagnen um den Leuten einzuprägen, sich bei einer Entführung immer an die Polizei zu halten. Semir wollte gar nicht wissen, wie hoch die Dunkelziffer an Entführungen, auch Kindesentführungen mit Lösegeldforderungen war, die abliefen ohne dass die Polizei davon etwas mitbekam. Es wäre sicher unvorstellbar, und auch dieser Fall würde, ohne das Auffinden der Komakinder, niemals in einer Statistik auftauchen.
    "Wie sollte die Übergabe ablaufen?", fragte Ben, nachdem erneut zwei Krankenschwestern an der Gruppe vorbei stolziert waren. "Mein... mein Mann sollte über den Domplatz gehen, mit einer Sporttasche und dem Geld. Irgendwann wurde er angerufen, und sollte die Tasche in einen toten Briefkasten verstecken... in den öffentlichen Toiletten. Sobald er dort wieder rauskam, wurde von ihm verlangt, dass er den Platz sofort verlassen sollte. Man sagte uns zu, dass wir unsere Tochter bald... bald auffinden würden." Am Schluß des Satzes begann sie erneut zu weinen, denn das Auffinden ihrer Tochter war nicht so, wie sie es sich erhofft hatte. Sie fand ihre Tochter nicht vielleicht verängstigt, aber unverletzt vor, sondern tief im Koma liegend, und niemand der Ärzte konnte ihr sagen, was mit Nele passieren würde. Die beiden Polizisten wollten die Frau nicht weiter quälen, und begleiteten sie zurück in Neles Zimmer, das Ben langsam und sanft wieder verschloß, als sie sich ans Bett gesetzt hatte.

    "Das klingt alles nach einer recht normalen Entführung, mit Lösegeldübergabe.", meinte er, als er sich die Notizen nochmal durchlies. "Achja? Was ist denn normal daran, dass man seine Entführungsopfer ins Koma spritzt, nachdem man das Lösegeld erhalten hat?", fragte sein Partner mit einer Prise Aggressivität in der Stimme. Ihn nahm der Fall mit, denn alles was passierte projezierte Semir als potentielle Gefahr auf seine eigene Famile. Dies nahm ihn mehr mit, als er zugeben wollte, und Ben hatte dafür Verständnis, also ging er nur auf den Inhalt der Antwort ein. "Das ist natürlich nicht normal. Die Frage ist, was er damit bezwecken möchte?" Für einen Moment waren nur ihre Schritte im Krankenhausflur zu vernehmen, bis sie durch die Empfangshalle wieder nach draussen auf den Parkplatz zurückkehrten, und in den Mercedes stiegen. Erst dort meinte Semir, nun nicht aggressiv, sondern eher resignierend: "Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass das verdammt kranke Typen sein müssen, die Eltern sowas antun." Da konnte sein Kumpel ihm nur zustimmen, und tätschelte ihm wieder ermutigend auf dem Oberschenkel, bevor er den Dienstwagen startete.
    "Lass uns mal den Weg von Neles Schule abfahren. Vielleicht finden wir dort etwas verdächtiges.", sagte Ben, als er den Parkplatz des Krankenhauses verließ. "Gute Idee.", antwortete sein Partner, und griff zu seinem Handy. "Ich rufe mal Jenny an. Sie soll die Lageberichte der letzten Wochen durchforsten. Wenn die ersten Entführungen da stattfanden, müssen sie ja auch drinstehen, bevor man gemerkt hatte, dass dies eine Serie ist, und man die ganze Angelegenheit zur Hochgeheimsache erklärt hatte." Was als privater Besuch begann, waren nun doch wieder handfeste Ermittlungen...

    Autobahn - 11:00 Uhr

    Nach dem die Kollegen des LKA die Autobahnpolizisten über den Fall der Komakinder aufgeklärt hatten, schien sich die bedrückende Stimmung wie das graue Wetter über die gesamte Dienststelle zu legen. Es wurde weniger gelacht und gescherzt, denn jeder der von dem Fall mitbekommen hatte, machte sich seine Gedanken darüber. Unschuldige Kinder, die ins Koma gespritzt wurden, war ein Verbrechen was in seiner Dimension beinahe neu für die Autobahnpolizei war, die mit sowas eigentlich nichts zu tun hatte.
    Vor allem Semir nahm der Fall sehr mit. Er war schweigsam, und hing während der gemeinsamen Tour in Ben's Mercedes seinen Gedanken nach, in dem er den Kopf auf seine Hand gestützt hatte, und durch das Seitenfenster in die Ferne blickte. Auch Ben war mit seinen Gedanken beschäftigt, jedoch war er weniger bei den entführten Kindern, sondern eher bei Jenny, wobei er jedoch Semirs Bedrücktheit schnell ebenfalls bemerkte, als sie auf Streife fuhren. Der Verkehr war ruhig, es gab wenig Meldungen und beide Polizisten hatten reichlich Zeit zum Nachdenken.

    "Dir gehen die Kinder nicht aus dem Kopf, hmm?", fragte Semirs bester Freund, und sah immer wieder zu seinem Kollegen herüber, während seine Hände des Lenkrad fest in der Hand hielten. Semir antwortete nicht direkt auf die Frage, doch seine Antwort die er gab, war eindeutig. Er sagte, mit einem leichten Kopfschütteln: "Ich stelle mir vor, wie ich reagieren würde. Was ich tun würde, wenn ich am Bett meiner Töchter sitzen würde, die im Koma liegen. Das muss doch ein schreckliches Gefühl der Hilflosigkeit sein." Ben konnte die Gedanken nachfühlen, auch wenn er selbst keine Kinder hatte. Doch er liebte Semirs Töchter, als wären sie seine eigenen, nicht umsonst war er quasi der "Onkel" der Familie Gerkhan, schenkte den Kindern regelmäßig etwas zu Weihnachten und Geburtstag, und war erster Babysitter, wenn Andrea und ihr Mann abends etwas unternehmen wollten. "Ja, das muss sehr schlimm sein.", antwortete er mit leiser Stimme.
    "Weißt du, es ist ja nicht nur, dass das schlimm für uns ist. Aber als Vater bist du doch der, der seine Familie beschützt. Der auf sie aufpasst. Und wenn deinem Kind dann sowas passiert...", er stockte kurz und sah zu seinem Freund herüber: "Hat man dann als Vater versagt?" Der junge Polizist konnte Semir auf diese Frage keine Antwort geben, aber er war erstaunt über die Gedankengänge. Solche Fragen zu beantworten war normalerweise Semirs Art, die Dinge sachlich und weise zu sehen. Ben meinte, er würde Selbstzweifel aus Semirs Stimme heraushören. "Ich weiß es nicht... aber... naja, du kannst ja nicht immer um deine Töchter herumschwirren. Sie werden älter, sie werden erwachsen." "Ich weiß, Ben.", gab der erfahrene Ermittler zu. "Aber immer, wenn sowas passiert, bekomme ich Paranoia. Jetzt waren wir selbst hautnah dran, und ich bekomme die Gedanken nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe sogar schon Albträume." Sein Partner tätschelte ihn tröstend, und beinahe liebevoll mit der Hand auf dem Oberschenkel und gab Semir ein ermutigendes Lächeln.

    "Weißt du was?", sagte Ben irgendwann, nach dem die beiden eine Zeitlang geschwiegen hatten. "Lass uns ins Krankenhaus fahren. Wir reden mal mit Neles Eltern, vielleicht erzählen sie uns etwas. Details, die uns weiterhelfen." Semir wollte spontan sofort zustimmen, doch die Order der Chefin hielt ihn zurück. "Aber Ben, du hast doch gehört. Das ist nicht unser Fall, und da hat das LKA ausnahmsweise mal Recht." Normalerweise scherte sich Semir wenig um Anweisungen des LKAs, und auch der Anweisung der Chefin folgte er nur, wenn er es selbst für richtig hielt. "Ach, wir ermitteln doch nicht.", sagte Ben mit einem Augenzwinkern. "Wir haben Nele gefunden, und wir haben ein verdammtes privates Recht zu erfahren, wie es ihr geht." Semir dachte nach... Ben hatte recht. Niemand könnte es ihnen verbieten sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen. Welche Worte dann mit den Eltern gewechselt werden, ging niemanden etwas an. Sie würden dort als Helfer erscheinen, nicht als Polizisten.
    "Und jetzt mal ehrlich... ich hab echt keinen Bock vor diesem LKA-Wich... Wichtigtuern mit einzurollen, oder?", meinte Semirs jüngerer Partner und stieß ihn mit dem Ellbogen motivierend an die Schulter. "Je eher dieser Typ, oder diese Typen geschnappt sind, desto eher kommst du wieder zur Ruhe. Und wenn wir etwas zu tun haben, dann lenkt uns das beide ab." Der erfahrene Polizist sah Ben ein wenig von der Seite an. "Und von was willst du dich ablenken?"

    Ben fühlte sich etwas ertappt. Er hatte den Satz eher beiläufig gesagt. "Naja... ich habe demnächst ein Gespräch mit... Kevin.", meinte er etwas zögerlich, und Semir wusste sofort um was es ging. "Willst du beichten?" Der junge Polizist schüttelte den Kopf. "Nicht mehr nötig. Jenny hat es Kevin gestern abend gesagt." Semir zog die Augenbrauen überrascht nach oben. Es tat gut, sich mal wieder die Probleme anderer anzuhören, statt sich pausenlos den Kopf über die eigenen zu zerbrechen. "Und?" "Er schien ganz okay reagiert zu haben... von wegen, sie hätte ihm gegenüber damals keine Verpflichtung gehabt." Semir zog beinahe anerkennend die Mundwinkel nach unten und nickte kurz: "Hätte ich jetzt von unserem unberechenbaren Freund nicht gedacht." "Tja, ich auch nicht.", meinte Ben und äusserte in der Art dieser Antwort sofort seine Bedenken, inwiefern Kevins Reaktion ehrlich war, die gleichen Gedanken, die auch Jenny ihm mitgeteilt hat.
    "Jenny meinte, ich sollte aber trotzdem nochmal mit ihm darüber reden.", sagte Ben nun und zog an einem LKW auf der Überholspur vorbei. "Ja, das ist sicher besser. Wenn er bei Jenny mit Verständnis reagiert hat, dann wird er bei dir sicher nicht ausflippen.", machte Semir seinem Freund Mut. "Die beiden sind jetzt übrigens... zusammen.", schob der junge Beamte noch hinterher, und erneut sah sein Partner überrascht auf. "Und das scheint dir nicht zu gefallen?" Semir hatte den Tonfall seines Freundes sofort bemerkt und sah mit einem Lächeln herüber auf den schulterzuckenden Mann am Steuer. "Hast du dir Chancen bei ihr ausgerechnet?" Wieder ein Schulterzucken von Ben, der beinahe melanchonisch auf die Straße blickte, während sein Freund ihn weiter ansah. "Ich sag mal so...", meinte Ben. "Dem Gefühl nach zu deuten, das ich verspürt habe, als sie es erzählt habe... scheint es mir zumindest nicht egal zu sein." Das hörte sich für Semir noch sehr unentschlossen an...

    Ben parkte den Dienstwagen auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus. Durch die automatische Tür schlug ihnen sofort der unverwechselbare Gerucht des Krankenhaus entgegen, der den einen nichts ausmachte, und bei anderen spontane Krankheitsgefühle weckte. Sie gingen auf die Kinderstation, und klopften an das Zimmer, in dem sie wussten, dass Nele dort lag. Sie klopften, und die junge Frau mit blonden Haaren war es, die ihr die Tür öffnete. "Oh... sie sind es.", sagte sie leise. "Wir wollten uns erkundigen, wie es ihrer Tochter geht?", meinte Ben mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Maria Lauer nickte mit müden Augen, und ließ die beiden Männer in das Krankenzimmer eintreten. Die kleine Nele hatte ein Einzelzimmer ohne andere Kinder, sie lag im Bett und sah aus, als würde sie friedlich schlafen. Auch war sie nicht an einem Beatmungsgerät angeschlossen, so dass der Anblick nicht ganz so unangenehm war. Trotzdem spürte Semir eine Klammer, die sich um seine Brust legte und zu zog, dass er beinahe um Atem ringen musste. "Der Arzt sagt, dass... dass das Koma nicht ganz so tief zu sein scheint.", meinte die Frau, während sie die Hand des Mädchens fasste, und die Augen nicht von ihrem friedlichen Gesicht lassen konnte. "Aber ob sie Schäden davon trägt, und wann sie aufwacht... weiß niemand."
    Ben sah Semir an, und bemerkte dessen Blässe im Gesicht. Die ganze Szene schien den erfahrenen Ermittler mehr mit zu nehmen, als Ben gedacht hätte. Deswegen übernahm er es, die Mutter auf das schwere Thema anzusprechen. "Frau Lauer... ist Nele entführt worden?" Die Reaktion konnte nicht eindeutiger sein... wäre diese Frage völliger Blödsinn, wäre die junge blonde Frau nicht aufgeschreckt bei dem Wort "entführt." "Nein... wie... wie kommen sie darauf?", fragte sie mit zitternder Stimme. "Frau Lauer, wir haben die Informationen vom LKA. Wir wissen über die Komakinder Bescheid, und wir wollen ihnen nur helfen." Er blickte in die Augen von Neles Mutter, deren Augen sich langsam mit Tränen füllten.