Verlassenes Krankenhaus - 11:30 Uhr
Cablonsky war aufgeregt. Er wusste genau, dass irgendetwas schief gelaufen war, denn Zange war immer ein verlässlicher Kerl gewesen. Niemals jemand, bei dem man Angst haben musste, dass er mit der Kohle einfach durchbrennen würde. Er hatte über zwei Stunden am Treffpunkt gewartet, um ihn abzuholen, und niemand war gekommen. Allerdings hatte Cablonsky auch keinerlei Polizeisirene oder sonstige Beamte vernommen. Verdammt, dachte er grimmig und schlug aufs Lenkrad, bevor er zum alten Krankenhaus aufbrach.
Cablonsky und Zange waren Freunde, nicht einfach nur Verbrecherkollegen, die zufällig zusammen mehrere Dinger drehten, so wie es Reuter für ihn war. Die beiden kannten sich schon von Jugendtagen an, zusammen drehten sie die ersten Einbrüche und "spezialisierten" sich später dann auf Entführungen und simple Lösegelderpressung. Einmal wurden sie gefasst, weil sie zu gierig waren, und saßen gemeinsam im Knast. Sie ergänzten sich hervorragend, der bullig gebaute Cablonsky, der keine Gewalt scheute und Opfer wie Verwandte des Opfers perfekt einschüchtern konnte, und auf der anderen Seite Zange, der so unscheinbar erschien, dass er der perfekte Lockvogel für die Entführungsopfer war. Wenn man Zange sah, sah man einfach einen Durchschnittstyp, einer der einfach nichts Böses im Schilde führen konnte. So kam es dann auch, dass Zange im Knast häufiger in Schwierigkeiten geriet, weil einige dachten, dass er ein kleines Opfer war, das sich nicht wehren konnte, doch sie hatten alle nicht mit dem Freund des "kleinen Opfers" gerechnet. Sie probierten es alle nur einmal, und ließen Zange dann in Ruhe nachdem Cablonsky die ersten Nasen im Knast gebrochen hatte. Dass sie gemeinsam weiterarbeiten würden, war für sie glasklar, und so stellte Cablonsky an Reuter die Bediengung, dass Zange mit von der Partie war.
Doch jetzt war etwas schief gelaufen. Der Geiselnehmer hielt auf dem Braschenparkplatz vor dem einsamen, halb verfallenen Krankenhaus und stieg hastig aus. Er wetzte durch die zerbrochene Eingangstür, den Eingangsbereich, in dem keinerlei Licht mehr funktionierte hin zu den verkommenen und knarzenden Treppen. Rechts und links waren die Wände voll Graffiti und Sprüchen beschmiert, bis er endlich in dem großen Saal ankam, den Reuter als Labor genutzt hatte. Freilich sah er jetzt wieder komplett leer und verlassen aus, denn der Mediziner hatte bereits aufgeräumt. "Wo bleibt ihr denn? Seid ihr soweit?", fragte er ungeduldig. Er kam gerade von dem Haus, in dem die letzten Mädchen noch waren, die sie als Geisel genommen hatten, die man jetzt nicht mehr gegen Geld eintauschen konnte. Nachdem Reuter erfahren hatte, dass sie irrtümlicherweise die Tochter eines Polizisten gekidnappt hatten, fürchtete er nicht nur das Gesetz, sondern vor allem die Rache eines Vaters, und war darauf erpicht, so schnell wie möglich das Land zu verlassen.
"Reuter, es ist was schiefgelaufen...", berichtete Cablonsky etwas japsend. "Schiefgelaufen?", wiederholte Reuter und seine Stimme klang nicht nach guter Laune. "Zange ist nicht am Treffpunkt erschienen... ich habe fast zwei Stunden dort gewartet." Der Mediziner sah überrascht auf, und sah kurz auf die Uhr. "Er hat mich angerufen, dass alles geklappt hat. Um zehn nach neun. Also war die Übergabe da schon durch... oder?" "Oder was?" "Oder er will uns bescheissen und ist mit der Kohle abgehauen." Reuter sah Cablonsky beinahe herausfordernd an, doch der schüttelte sofort den Kopf. "Ich kenne Zange schon seit über 20 Jahren. Und wenn wir beide dich bescheissen wollen würden, wäre ich kaum hier." Der gebildete Reuter, der körperlich keine Chance gegen Cablonsky gehabt hätte, nickte verkniffen. Die Nachricht war nicht gut, denn 100.000 Euro fehlten ihm nun, letztendlich war die Entführung des Mädchens ein kompletter Reinfall. Es gefährdete sie, und jetzt war nicht mal Geld dafür rausgesprungen.
"Na gut, dann ist es halt so. Lass uns fahren.", sagte der Mann und nahm einen großen Schalenkoffer in die Hand. Dort waren all seine Aufzeichungen drin, alle wichtigen Dokumente und Ordner zu seinen Forschungen. In seiner Jackentasche brannten drei Flugtickets nach Brasilien, ein Land das kein Auslieferungsabkommen mit Deutschland hat, und wo sie erstmal untertauchen wollten, weiter forschen wollten bis das Geld knapp wurde. Dann wären einige Jahre ins Land gegangen, und man könnte noch einmal beginnen. "Wohin?", fragte Cablonsky etwas ratlos und stemmte die Hände in die Hüften. "Ja, wohin wohl? Zum Flughafen. Unser Flug geht in zweieinhalb Stunden." Reuter ging bereits mit strammen Schritten zum Ausgang des großen Saales. "Auf keinen Fall!", schmetterte Cablonsky ihm hinterher. "Ich lasse meinen Freund nicht einfach hier sitzen, und verpiss mich."
Reuter fühlte sich Cablonsky zwar körperlich unterlegen, geistig jedoch meilenweit voraus. Er seufzte, ließ den Koffer sinken und legte, beinahe übertrieben väterlich gespielt, den Kopf etwas schief. "Mein Junge...", sagte er mit ruhigem Ton. "Was stellst du dir denn vor? Sollen wir deinen Freund befreien? Mit zwei Pistolen in ein Polizeirevier stürmen? Oder sollen wir warten, bis die Polizei uns findet?" "Nein... wir rufen den Bullen an, und sagen ihm, dass seine Tochter stirbt, wenn er Zange nicht laufen lässt." "Ja, gute Idee. Dann schicken sie uns Zange direkt mit einem Peilsender hierher.", meinte Reuter sarkastisch und lachte auf. "Pass auf. Wenn Zange sich an die Regeln hält, wird er die Bullen hinhalten. So ist es vereinbart, dass der Rest dann verduftet. Also halt dich jetzt gefälligst an die Regeln." Cablonsky biss die Zähne aufeinander, dass die Kiefern schmerzten. Klar hatten sie das ausgemacht, aber an den Ernstfall hatte nie jemand gedacht. Er schüttelte den Kopf. "Na gut. Ich meine, ich nehme es euch nicht übel, dass durch eure Amateurhaftigkeit wir jetzt unsere Zelte hier abbrechen müssen, und noch nicht mal bei dieser Entführung Geld für uns herausgesprungen ist. Aber wenn du nicht mit willst, bitte." Reuter nahm zwei Tickets aus seiner Jackentasche und lag für Cablonsky auf den Tisch. "In ein paar Jahren werde ich sicher andere Leute finden, die für Geld alles machen... und es besser machen.", sagte er verächtlich und wandte Cablonsky den Rücken zu, der seine Knarre zog.
Dienststelle - zur gleichen Zeit
Semir parkte den BMW auf seinem Stammparkplatz und atmete tief durch. Er war noch vollkommen aufgewühlt von dem Weinkrampf seiner Frau, von dem sie sich erst nach mehreren Minuten beruhigte. Andrea's Mutter kam heraus, und redete ihrer Tochter gut zu, nahm sie in die Arme und führte sie langsam ins Haus. Sie nickte Semir dabei freundlich zu als Zeichen, dass er sich ganz auf seinen Job und die Befreiung von Ayda konzentrieren solle... Andrea wäre hier in guten Händen. Semir war dafür dankbar, doch die Gedanken um seine Frau und seine Tochter konnte er nicht verscheuchen. Dabei dachte er auch an Lilly, die heute mittag spätestens, wenn sie aus dem Kindergarten kam, merken würde, dass etwas nicht stimmt, wenn Ayda wieder nicht nach Hause kommt.
Mit leicht zitternden Händen stieg er aus und durchschritt die Eingangstür zur Dienststelle. Im Großraumbüro hielten sich nur Hotte und Bonrath auf, die beide aufblickten als Semir eintrat. "Hallo Semir... wie... wie gehts dir?", fragte Herzberger vorsichtig, denn er konnte sich denken, wie Semir sich jetzt fühlte. Der erfahrene Kommissar versuchte ein Lächeln. "Es... es geht." Er versuchte nun stark zu sein, auch wenn hier niemand seine Schulter benötigte wie Andrea. "Sind... sind Kevin und Ben beim Verhör?", fragte er mit vorsichtiger Stimme und deutete mit dem Daumen auf die hinteren Räume. Während Bonrath stumm nickte, meine Hotte vorsichtig: "Du sollst aber erst mit der Chefin reden... sie ist im Nebenzimmer."
Der kleine Polizist konnte sich bereits denken, was die Chefin ihm zu sagen hatte. Seine Handflächen schwitzten, bei dem Gedanken daran, dass der Entführer seiner Tochter nur einen Raum weitersaß, und er versuchte, seinen Puls herunter zu kriegen. Er ging in den kleinen Raum neben dem Verhörzimmer, wo Anna Engelhardt und Jenny beieinander standen und in den Verhörraum blickten. "Semir... was machen sie hier?", fragte die Chefin sofort, und wandte ihren Blick vom Spiegel weg. "Na, Chefin... ich will...", begann er verständnislos, als sein Blick durch die Glasscheibe, in den Verhörraum schweifte. Er sah Ben am Tisch sitzen, sah Kevin dahinter mit verschränkten Armen an der Wand stehen. Er bemerkte, dass nur Ben redete und der Kerl, mit den kurzen brauen Haaren, der aussah wie ein völlig gewöhnlicher Kerl, der keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte, kein Wort sagte. Er saß gerade auf dem Stuhl, hatte die Hände auf dem Tisch gefaltet und schien aufmerksam den Fragen zu lauschen, schüttelte aber immer wieder den Kopf.
"Ist das der Kerl?", fragte Semir mit scheinbar ruhiger Stimme, ohne den Blick von dem Spiegel zu wenden. Jenny wurde mulmig, denn sie spürte, dass Semirs Puls gerade hochkochte, als er den Geiselnehmer sah. Scheinbar brach gerade jeder gute Vorsatz, ruhig zu bleiben, in sich zusammen. "Semir... wir sollten...", sagte die Chefin ruhig, als sie erneut von Semir unterbrochen wurde: "IST das der KERL?", wiederholte er seine Frage, diesmal lauter, diesmal mit direktem Blick auf die beiden Frauen, wobei Jenny innerlich zusammenzuckte. Als hätte er das leichte, und stumme Nicken der Chefin nur abwarten wollen, verließ der Polizist das Nebenzimmer mit lautem Knall, um nebenan zu gehen. Das laute: "SEMIR!" der Chefin hörte er gar nicht mehr.