Dienststelle - 9:00 Uhr
Ben schaute Semir beinahe sehnsüchtig hinterher, als dieser das Büro verließ um ihn und Jenny alleine zu lassen. Wenn er gekonnt hätte, wäre er hinterher gelaufen, denn Jenny schien über das Thema sprechen zu wollen, dass ihm in den letzten Tagen wieder vermehrt im Kopf umher ging... ihre gemeinsame Nacht vor einigen Wochen.
Die junge Polizistin setzte sich auf Semirs Platz und schaute am Computerbildschirm vorbei auf den gegenübersitzenden Ben, der seine Kollegin mit etwas verkniffenem Gesichtsausdruck ansah. "Und?", fragte er erwartungsvoll, obwohl er das Thema der Unterhaltung kannte. Vermutlich wollte sie nun doch darauf drängen, Kevin endlich Bescheid zu sagen, doch dann überraschte sie ihn, mit der direkten Aussage: "Ich habe es Kevin gesagt." In Ben wechselten sich für einen Moment Erleichterung und Schock ab, und er konnte sich nicht für ein Gefühl entscheiden, dass jetzt dominieren sollte. "Was hast du?", fragte er nochmal nach und legte den Kopf ein wenig schief. "Ich sagte, ich habe es Kevin gesagt... unsere Nacht." Sein Herz schlug etwas schneller, und er atmete hörbar aus. Jennys Stimme und ihr Gesichtsausdruck war selbstsicher, und er meinte, er konnte auch bei ihr eine gewisse Erleichterung verspüren, dass sie es geschafft hatte. "Warum... warum hast du mir vorher nicht Bescheid gesagt?" Ein wenig zuckte die junge Frau mit den Schultern. "Es war... gestern spontan. Nicht geplant. Kevin hatte einen Motorradunfall, den ich über Funk mitbekommen habe, und da bin ich hingefahren. Wir haben uns unterhalten... und... dann hab ich es ihm gesagt."
Ben schreckte bei dem Wort Motorradunfall sofort zusammen, aber da die beiden sich danach unterhalten haben, und Jenny ihm die Nacht mit Ben gebeichtet hatte, schien er ja keinerlei Verletzungen fortgetragen zu haben. "Wie hat er reagiert?", war die Frage, die Ben am meisten auf der Seele brannte. Jenny wog den Kopf hin und her, bevor sie antwortete: "Er hat gemeint, dass ich keinerlei Verpflchtung ihm gegenüber gehabt hätte... dass ich mich dafür also nicht entschuldigen müsste." Bens Stirn zog sich ein wenig in Falten, mit dem Inhalt der Aussage war er zwar zufrieden, aber die Antwort von Jenny kam sehr zögerlich. "Das klang aber nicht überzeugend?", meinte er und beugte sich nach vorne, um sich mit den Ellbogen auf dem Tisch abzustützen. "Ja... also. Irgendwie, hatte ich den Eindruck, dass es ihm doch etwas ausgemacht hat. Aber irgendwie auch nicht... er hat es nicht gezeigt und es war ein sehr schöner Abend noch danach." Sie seufzte auf und sah einen Moment nach rechts aus der großen Fensterfront auf den trüben, immer noch stürmischen Morgen. "Ach, Ben. Dieser Mann ist so schwer zu durchschauen. Für einen Moment denke ich, ich verstehe ihn und begreife ihn... und 5 Minuten später stellt er mich vor unlösbare Rätsel. Ich kann jetzt nicht mit Bestimmtheit sagen, dass es ihm gestern wirklich nichts ausgemacht hat, wie er behauptet." Ben konnte ihr diesen Eindruck sehr gut nachfühlen, und ähnliches hatte Semir schon vor Monaten von Kevin gesagt. "Wem sagst du das.", murmelte er und sah auf seinen Schreibtisch.
"Ich denke... ich denke, es wäre gut, wenn du auch nochmal mit ihm redest. Oder ihm zumindest irgendetwas sagst dazu.", meinte Jenny vorsichtig und strich sich über die, zu einem Zopf gebundenen Haare. Ben nickte abwesend und blickte Jenny dabei an. "Und ihr hattet noch einen schönen Abend?", fragte er, wie zur Sicherheit oder einer Forderung einer erneuten Bestätigung, was Jenny bejahte. "Und ihr seid jetzt... beide...?", meinte er und machte dabei eine eindeutige Geste mit seinen beiden kleinen Finger, die er ineinander verhakte. Jenny musste lächeln und nickte, wenn auch ein wenig zögerlich. Sie hatten sich gestern abend geküsst, sie haben lange dicht beieinander gesessen und er hatte ihr gesagt, dass er sich verliebt hätte.
Ben wunderte sich ein wenig, über einen Anflug von Traurigkeit, die ihn befiel, als Jenny seine zweite Frage ebenfalls bejahte, auch wenn er sie anlächelte und meinte, dass dann ja alles in Ordnung wäre. Doch er konnte diesen Gedanken nicht verscheuchen, der sich in seinem Kopf festgeklammert hatte. Er fand die Nacht mit Jenny zusammen sehr schön, und hatte sich eingebildet, dass sie nicht nur aus gegenseitigem Trost entstanden war. Und er hatte die Hoffnung, dass Jenny selbst nicht genau wusste, was sie wollte... und sich vielleicht anders entscheiden würde. Jetzt war er zwar erleichtert, dass sein Freund die gemeinsame Nacht offenbar zumindest akzeptierte... und Ben keine Bedenken haben musste, dass Kevin dadurch eine Art Rückfall erleidet... in was auch immer.
Jenny lächelte, und tippte zweimal auf den Tisch, als sie sich von Semirs Stuhl erhob. "Na dann...", meinte sie versöhnlich, und auch Ben stand auf um Jenny noch einmal in die Arme zu schließen. Die beiden würden nie mehr einfach normale Kollegen sein wie früher, diese Nacht würde die beiden immer miteinander verbinden. "Danke, dass du damals für mich da warst, trotzdem.", sagte die junge Polizistin, als sie sich aus der Umarmung wieder trennten. "Kein Ding. Ich war ja auch froh drum.", sagte Ben mit seinem typischen Gute-Laune-Lächeln... auch wenn er sein Gefühl nicht betrügen konnte, was in ihm stattfand. Aber er würde sich damit abfinden. Das bevorstehende Gespräch mit Kevin, irgendwann in naher Zukunft, lag ihm allerdings jetzt schon im Magen. "Dann mache ich mich mal wieder an die Arbeit.", meinte die Polizistin und verließ das Büro. Durch die offene Tür konnte er sehen, wie Semir und die Chefin sich mit zwei, wichtig aussehenden Männern in Sakkos angeregt unterhielten. Er zog die Augenbrauen etwas zusammen und gesellte sich zu den Vieren.
"Auf jeden Fall haben sie in diesem Fall nichts mehr zu schaffen, meine Herren.", sagte der Wortführer der beiden Männer, die scheinbar Polizisten waren. "Sie hätten uns diesen Vorfall sowieso sofort melden müssen." Anna Engelhardt, die Chefin der Autobahndienststelle hob beschwichtigend beide Hände. "Moment mal, meine Herren.", sagte sie in ihrer natürlichen Autorität. "Wenn sie diese Sache so unter Verschluss halten, woher sollen wir dann überhaupt wissen, dass in diesem Fall bereits ermittelt wird? Geschweige denn, dass hier überhaupt ein Verbrechen vorliegt." Den Einwand ließen die LKA-Ermittler Schöneberg und Reuter gar nicht gelten und schüttelten fast synchron die Köpfe. "Ich bitte sie, uns alle nötigen Unterlagen und Ermittlungsakten in diesem Fall vorzulegen." "Es gibt keine Ermittlungsakte. Wir haben einen Zigarettenstummel neben dem Mädchen gefunden, und dort einen vorbestraften Kinderschänder heraus ermittelt, denn wir verhört haben. Davon können wir ihnen gerne das Protokoll geben, und den Urheber gleich mit, der sitzt nämlich in unserer Zelle. Allerdings hat sich der Verdacht nicht bestätigt, der kam nur zufällig vorbei. Den Bericht der Untersuchung im Krankenhaus können sie auch haben.", erklärte Semir.
Die drei blickten in zwei fassungslose Gesichter. "Wie kommen sie überhaupt dazu, so weit zu ermitteln. Sie sind für die Autobahnen zuständig.", polterte Reuter und wurde von Ben sofort gekontert: "Das Mädchen haben wir nicht neben der Bahnstrecke gefunden." Er wurde mit einem spöttischen Blick bedacht, der aussagen sollte, wieso er sich den einmische. "Das ist mein Partner, Ben Jäger.", stellte Semir ihn noch schnell vor. "Die beiden Herren sind vom LKA Düsseldorf, Fachgebiet Menschenraub." Ben schaute ein wenig verständnislos: "Menschenraub?" Schöneberg seufzte künstlich auf. "Entführungen, lieber Kollege.", belehrte er den jungen Polizisten hochnäsig. Der grinste ironisch: "Danke, Kollege, aber ich weiß was Menschenraub ist. Aber was hat das mit dem Mädchen zu tun?" "Das kann ihnen ihr Kollege erklären. Wir hätten jetzt gerne die Unterlagen, wir haben nämlich auch noch anderes zu tun." Die beiden Autobahnpolizisten bemerkten, dass die Chefin mit ihrer Geduld einen kritischen Punkt erreichte, als sie schnaubte und nur kurz angebunden meinte: "Semir, sie erledigen das mit den Unterlagen. Meine Herren.", um sofort in ihren Büro zu verschwinden.
Nachdem die widerspenstigen Kollegen des LKA Düsseldorf die benötigten Unterlagen bekamen, übernahmen sie auch sofort den festgenommenen Kinderschäner, um ihn erneut zu verhören. Semir und Ben kehrten in ihr Büro zurück und ließen sich in ihre Stühle fallen. "So, dann erzähl mal was.", forderte ihn Ben sofort auf, denn er brannte vor Neugier. "Also...", begann der erfahrene Polizist seinen Bericht. "Diese Kinder im Koma sind allesamt Entführungsfälle. Alle in kürzester Zeit, zeitweise waren drei Kinder gleichzeitig verschwunden. Insgesamt sind es bis jetzt 7." Ben stand vor Erstaunen der Mund offen. "Wie kommt es, dass wir davon nichts gehört haben?" "Die Eltern sind nicht zur Polizei. Scheinbar wurde gedroht, ein weiteres Kind zu entführen, wenn nach der Geldübergabe das bewusstlose Kind gefunden wurde. Die Kinder werden ins Koma gespritzt. Diese Info darf das Krankenhaus nur an eine Handvoll Ermittler herausgeben. Die haben auch die Polizei beim dritten Kind informiert, das ohne ersichtlichen Grund im Koma liegend ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Allerdings gibt es eine absolute Nachrichtensperre und eben höchste Geheimhaltung.", erklärte er mit sorgenvoller Miene, denn er dachte sofort an seine beiden Töchter.
"Puh... harter Tobak.", sagte Ben. "Allerdings... die Entführer sind offenbar in der Lage, mit diesem Mittel die Stärke des Komas zu bestimmen. Die Kinder, bei denen das Lösegeld ohne Probleme überbracht wurde, würden sich auf den Weg der Besserung befinden. Zwei Mädchen werden wohl irreperable Schäden behalten, bei denen war die Übergabe zu spät. Und bei einer Entführung ist die Übergabe geplatzt. Das Kind wurde im Koma gefunden und ist mittlerweile der erste und einzige Todesfall." Bedrückende Stille herrschte im Büro der beiden Polizisten, nach diesem Bericht. Jetzt wussten sie, was hinter den Komakindern steckte, und waren doch unfähig etwas zu tun, denn man hatte ihnen den Fall weggenommen, bevor er begann.