JVA - 16:30 Uhr
Der Weg zurück zur JVA kam den beiden Autobahnpolizisten quälend und elendig lange vor. Sie wichen dem Verkehr aus, sie überfuhren in der Stadt rote Ampeln, als könnten sie Kevin noch retten. Ben biss sich während der Fahrt auf die Lippe, so sehr er sich auch mühte konnte er seine Tränen nicht zurückhalten. Er war an allem schuld... an Kevins Situation den Job verloren zu haben, vielleicht war er deshalb nicht Herr der Lage, als er auf Schneider traf, nun saß er im Knast... und er würde sich niemals mehr entschuldigen können. Ihm nicht beichten können, was zwischen ihm und Jenny passiert war. Nein, das durfte einfach nicht wahr sein.
Semir bemerkte Bens Zustand, wie sich seine linke Hand in die Seite des Sitzes krampfte, wie er stur gerade aus sah, und seine Augen feucht waren. Auch Semir war aufgewühlt vom den Worten von Kühne, doch er könne es nicht glauben, bis er es nicht mit eigenen Augen gesehen hatte. Wollte Kühne sie vielleicht nur ablenken und damit verhindern, dass sie nochmal in die JVA fuhren? Weil er vielleicht einige Gefangene auf Kevin angesetzt hatten, die nun ungestört losschlagen konnten? Es war eine kleine Hoffnung, aber sie stand wie ein Strohhalm aus dem Ozean, an den Semir sich klammern wollte, wie seine Hände um das Lenkrad, als er mit quietschenden Reifen auf dem Besucherparkplatz der JVA zum Stehen kam.
Diesmal hielten sie sich nicht mit Formalitäten auf. Am Pförtnerhäuschen liefen sie vorbei, und wurden erst von einem Beamten gestoppt an der Schleuse zu den einzelnen Gefangenentrakts. "Moment mal, wo wollen sie denn so schnell hin?" Semir zeigte schnell seinen Ausweis, während Ben den Kerl am liebsten zu Boden geschlagen hätte, um weiter laufen zu können. "Gerkhan, Kripo Autobahn. Hören sie, wir gehen in der Annahme, dass sich im Zellenblock B gleich ein Mord ereignen könnte, oder bereits geschehen ist. Lassen sie uns durch!" Der Mann schüttelte den Kopf, und murmelte: "Da könnte ja jeder kommen." "Wir sind aber nicht jeder!!", schrie Ben erregt und beeindruckte damit den Wachmann, der von der Echtheit der Ausweise überzeugt war, und Ben erstaunt ansah. Wenn sich ein Polizist so sehr echauffierte, dann musste etwas an der Sache dran sein. "Warten sie, ich rufe den Blockaufseher an." Er ging ein Zimmer weiter, wo sein Telefon stand, während sich die beiden Freunde ansahen, und durch ein Nicken blind verständigten. Blitzschnell drückten sie die Öffnung für die Schleuse und verfielen wieder in schnellen Lauf, während sie die wütende Stimme des Wärters hinter sich hören konnten. "Das ist doch... so warten sie doch!!"
Sie kamen gerade an den Eingang des Blocks, wo ebenfalls zwei Wärter standen, die sich angeregt mit einem Mann unterhielten. "... so glaubt mir doch! Sie wollen uns umbringen! Ich kann euch das jetzt nicht alles erklären..." Der Mann war ein Häftling und schien sehr aufgeregt zu sein, und er blickte die beiden Polizisten an. "Sie... sie... sind sie die Kollegen von Kevin?", fragte er mit schwer atmender Stimme, als sei er gerannt. Von seinem Handrücken tropfte Blut, denn tatsächlich musste Jerry den dritten falschen Beamten im Gang niederstrecken. Ben nickte heftig, und Semir fragte sofort: "Was ist los?" Die zwei Beamten schauten reichlich verwirrt, als sie zwischen Jerry und den beiden Autobahnpolizisten hin und her blickten. "Ach, unser Jerry hat nur mal wieder einen durchgezogen, was? Also wirklich Jerry... Drogendealer, falsche Wärter..." "Sie sind Jerry?", unterbrach Semir den Mann, der das ganze offenbar nicht ernstnahm. Jerry nickte heftig und wusste, dass die beiden Kollegen von Kevin Bescheid wussten. "Sie wollten uns umbringen... Kevin hält sie im Gemeinschaftsraum in Schach, aber wir müssen ihm helfen." Als Ben hörte, dass Kevin lebte, kam sein Körper sofort wieder in Bewegung, hinter Jerry her. Semir folgte ihnen sofort, nachdem er schnell zu den Kollegen sagte: "Der Mann hat Recht. Schickt uns Verstärkung in den Gemeinschaftsraum."
Der Widerstand der vier Typen war scheinbar gebrochen. Einer war immer noch bewusstlos, die anderen beiden lädiert, Yanek funkelte Kevin voller Hass an... doch gegen die Pistole fehlte ihm der Mumm. Der Polizist wartete ungeduldig darauf, dass Jerry Unterstützung brachte, um reinen Tisch zu machen, und alle, zur Drogengang gehörenden Gefangenen und Wärter dingfest zu machen. Doch sein Herz rutschte ihm in die Hose, als die Nebentür aufgestoßen wurde, und Philipp im Schwitzkasten in den Raum gedrückt wurde. Das Klappmesser an seinem Hals funkelte im Schein der Leuchtstoffröhre an der Decke und war klar zu erkennen. "Du bist zäher als ein Stück Rindsleder, Peters.", rief Hendrik, der sich hinter Philipp verbarg, in Kevins Richtung, der sofort die Waffe auf das Pärchen richtete. "Lass ihn los. Der Junge hat dir nichts getan." Philipps Gesicht war vor Angst wie verzerrt, sein kleiner Körper zitterte unter dem Griff des kräftigen Hendrik. Er hatte wahnsinnige Angst davor, dass einer der beiden die Nerven verlor, dass Kevin vielleicht das Leben des kleinen Bankräubers aufs Spiel setzte, oder dass Hendrik das Messer abrutschte. "Schieb deine Waffe rüber... und ihm wird nichts passieren." Kevin schluckte, er sah sich um und bemerkte, dass Thomas einen der Schläger, der gerade wieder aufstehen wollte, zurück auf die Bank schubste. Er hatte die Sache unter Kontrolle, und so konnte er sich ganz auf Hendrik konzentrieren. "Na schön...", sagte er mit seiner eintönigen Stimme, sein Blick kalt auf Philipp gerichtet, weil Hendrik sich dahinter verbarg. Langsam ließ der Polizist die Waffe sinken, legte sie auf den Boden und schob sie mit dem Fuß in Richtung des Geiselnehmers, der nur wenige Meter von Kevin entfernt stand. Langsam, ohne die Klinge von Philipps Hals zu nehmen, hob Hendrik sie auf. Die einzige Chance, hier raus zu kommen, war mit einer Geisel... und ein Polizist war weitaus mehr wert, als ein kleiner Bankräuber. "Los, komm her.", rief er in Kevins Richtung, als er die Pistole in der Hand hatte, und sie nun an Philipps Kopf hielt, was sich nicht unbedingt besser anfühlte, als die eiskalte Klinge am Hals.
Kevin setzte einen Fuß vor den anderen, als er auf Hendrik zuging, er nickte Thomas kurz beruhigend zu, dass er alles unter Kontrolle hatte, und er sich nicht in Gefahr geben sollte... Jessy brauchte ihn noch. Er war auf einen Meter an Hendrik heran gekommen, als dieser Philipp von sich wegstieß, und gerade nach Kevins Kragen greifen wollte. Diese Zehntelsekunde nutzte der Polizist, er griff nach hinten in seinen Hosenbund, zog die zweite Waffe, die er von dem Wärter an der Tür mitgenommen hatte, und zielte mit ihr auf Hendriks Stirn, während dieser es ihm gleich tat. Beide spürten die kalte Metallmündung der Waffe auf ihrer Haut, bei Kevin wurde die Stirn durch einige Haare etwas verdeckt. Die beiden Männer blickten sich an, Kevin mit kaltem Blick ohne mit der Wimper zu zucken, Hendriks Mundwinkel bebten. Auch seine Stimme klang nicht sicher: "Lass die Waffe fallen... sonst drücke ich ab." Die Gefangenen im Raum waren mucksmäuschenstill, man konnte eine Stecknadel in dem Raum fallen hören, sie hielten den Atem an als würden sie im Kino sitzen. Viele waren abgestumpft von ihren Verbrechen, sollten sie sich doch über den Haufen schiessen, andere hatten Angst, wiederrum andere realisierten nicht, was geschah. Thomas fiel es schwer, sitzen zu bleiben, doch er war unbewaffnet.
"Du hast Angst.", sagte Kevin mit seiner arrogant wirkenden Stimme, in Richtung des Mannes, der ihm eine Pistolenmündung gegen die Stirn drückte, und Hendrik konnte das leichte Beben, ein leichtes Zittern nicht unterdrücken, das bis zu Kevins Nervenenden in der Stirn weitergeleitet wurde. "Du warst nie auf der Straße, Hendrik. Du hast dich niemals auf jemanden in der Not verlassen müssen, und hattest nie das Gefühl, ein Teil einer Gruppe zu sein.", sagte der Polizist mit seelenruhiger Stimme, und spürte, wie das Zittern stärker wurde. "Sonst würdest du nicht deine Gangmitglieder, deine Familie töten lassen. Egal, was der große Boss sagt." Hendrik spürte, dass Kevin Mitglied einer anderen Art von Gang war. In einer Gruppe, die wie eine zweite Familie war, in der keiner an der Spitze Angst und Schrecken verbreitete, dem man gehorchte, weil man weiterleben wollte. "Ausserdem war von uns niemals jemand so feige, einen wehrlosen Kerl als Schutzschild zu missbrauchen.", sagte der Polizist ein wenig schärfer. Hendrik flehte beinahe: "Bitte, lass deine Waffe fallen."
Die Tür wurde aufgestoßen, als Semir, Ben und Jerry in den Gemeinschaftsraum platzten. Die beiden hatten die Schusswaffen gezogen und zielten sofort auf das eigenartige Pärchen, das sich gegenüber stand, die Waffen jeweils an die Stirn gedrückt, und den Blick nicht voneinander lassend. "Hendrik, lassen sie die Waffe fallen.", rief Ben und nahm den Mann sofort ins Visier. Semir versuchte zuerst die Lage zu überblicken, aber scheinbar ging keine weitere Gefahr von den Gefangenen aus. "Hendrik, hör auf damit!", rief auch Jerry in Richtung des Duos. "Jerry war der Einzige, der so etwas wie den Gedanken der alten Gruppe hier rein brachte.", sagte Kevin leise und mit eindrücklicher Stimme, auch Ben und Semir konnten ihn verstehen, sie zielten auf Hendrik, standen seitlich von den Beiden, bereit abzudrücken. Bens Fingerknöchel wurden weiß, so sehr umklammerten sie den Griff der Waffe. Auch Jerry hörte die Worte seines damaligen jungen Freundes, und schluckte. "Weil er von der Straße kam... und wusste, dass Zusammenhalt wichtiger ist als Profit. Wo kommst du her, hmm?" Das leichte Beben um Hendriks Mundwinkel war mittlerweile ein Zittern. Doch eine Antwort brachte er nicht heraus, das Zittern seiner Hand war mittlerweile so stark, dass die Mündung gegen Kevins Stirn stieß. "Wo kommst du her? Sag mir, warum du hier bist?", rief Kevin wieder, als er merkte, dass er bei Hendrik offenbar einen Punkt hatte, der ihn nervlich kollabieren ließ, und ihn so dazu bringen wollte, die Waffe zu senken.
Ben fühlte, als würde der Boden unter ihm nachgeben. Er stand nicht in einem Gemeinschaftsraum, sondern auf einem Acker, neben ihm lag ein Auto auf dem Dach und vor ihm standen Kevin und Jessy, die sich gegenseitig die Pistolen an den Kopf drückten. Er stand da, und tat nichts... bis Jessy abdrückte, und Kevin erschoss... NEIN! Ben kniff die Augen zusammen, und war wieder in der Wirklichkeit. "Diesmal nicht, mein Freund!", rief er, dass Semir neben ihm kurz zusammen zuckte. Bens Waffe bellte in seiner Hand auf, die Kugel drang in Hendriks weiches Muskelfleisch in den Oberschenkel ein. Wie ein Reflex drehte Kevin den Kopf von Hendriks Mündung, aus Angst, sein Gegenüber würde im Reflex abdrücken. Doch der Drogendealer schrie nur kurz auf, seine Hände folgten einem Hirnreflex und fuhren zu der Schusswunde, so dass die Waffe klackernd zu Boden fiel, Hendrik folgte dann langsam mit schmerzverzerrtem Gesicht. Kevin bückte sich schnell, hob die zweite Waffe auf und zielte nochmal auf Hendrik, doch das war nicht mehr nötig. Er war ausser Gefecht, windete sich vor Schmerzen am Boden und drückte mit aller Kraft seine Hand auf die blutende Wunde.
Semir sah Ben von der Seite an, der stocksteif in Schussposition verharrte, nachdem er abgedrückt hatte. Diesmal hatte er es richtig gemacht... dieses Mal war er dieses Risiko nicht eingegangen. "Erschreck mich doch nicht so, Mensch.", meinte der kleine Kommissar und schüttelte nur den Kopf, doch Ben wusste, dass er es in dem Moment nicht böse meinte. Der Mann mit den Wuschelhaaren atmete tief durch und ließ die Waffe sinken. Semir lief sofort den beiden Wärtern entgegen, um den Gefängnisarzt zu rufen, während Ben langsam in Richtung seines Freundes ging, der beiden Waffen in den Hosenbund zurückgesteckt hatte, seine Weste ausgezogen hatte und sie als Verband für Hendriks Schusswunde missbrauchte. Als er merkte, dass Ben sich neben ihn gesellte, blickte er kurz auf: "Der hätte im Leben nicht geschossen.", sagte er mit einem leicht schelmischen Grinsen. Ben war noch etwas benebelt von der Aufregung, doch ein erleichtertes Grinsen konnte auch er nicht verbergen: "Ja klar... so wie letztes Mal." Kevin wusste sofort, worauf er anspielte...
"Wie kannst du bei sowas nur so scheisse ruhig bleiben?", fragte Ben seinen Kollegen dann noch, als der dem wimmernden Hendrik die Weste ums Bein fest zurrte, und seine blutigen Hände am Shirt abwischte. "Soll ich dir was verraten?", fragte der suspendierte Polizist, und richtete sich neben Ben auf, der erwartungsvoll schaute. "Ich bin nicht so ruhig... ich hab mir fast in die Hosen gemacht." Ben sah Kevin beinahe fassungslos an und konnte nicht sagen, ob es nun ein Scherz oder Ernst von dem Mann mit den blauen Augen war. Mit dieser Antwort ließ Kevin seinen Freund erstmal stehen, um sich um den, wie Espenlaub zitternden Philipp zu kümmern.