Beiträge von Campino

    Drogendezernat - 16:00 Uhr

    Man hätte eine Stecknadel auf den, zugegeben nicht ganz sauberen Boden, in Bienerts Büro fallen lassen hören, nachdem Semir mit der Neuigkeit rausrückte, dass Kevin verhaftet wurde. Die Reaktion des erfahrenen Drogenfahnders war absolut natürlich und aus dem Bauch heraus, das erkannte Semir und Ben sofort. Kein gespieltes Erstaunen, im Gegenteil... scheinbar schien eine Fassade gerade zu fallen. "Liest du keinen Lagebericht?", fragte Semir und zog dabei die Augenbrauen ein wenig nach oben, während sein Gegenüber sich mit den Fingern über die Lippen strich, im ersten Moment auf seinen Computermonitor blicken wollte, die Maus nicht sofort traf, und dann doch davon absah. "Ich... nein, die letzten Tage nicht."
    Bienert versuchte krampfhaft seine Gedanken zu ordnen. Mein Gott, was hatte der Kerl getan... wieso saß er wegen Todschlags im Gefängnis? Warum hatte er davon nichts mitbekommen? Es konnte nicht mit Kevins Untersuchungen im Drogenring zu tun haben, ansonsten wäre die Sache garantiert auf seinem Schreibtisch gelandet, und er hätte davon erfahren. Aber so... sein wichtigster Informant saß, das würde die Ermittlungen um Monate, wenn nicht gar Jahre zurückwerfen. Und nun blickte er in die verwunderten Augen von Semir, der auf eine Antwort wartete... auf eine Antwort, woher die überraschte, beinahe schockierte Reaktion kam.

    "Wieso bist du so überrascht? Ein Drogendealer ein Totschläger... der Schritt ist meist nicht weit." Thomas fing sich wieder, rückte sich den Kragen seines Hemdes zurecht und spürte Bens extrem misstrauischen Blick auf sich. "Naja... er ist... also war immerhin ein Kollege. Und ich fand ihn nicht gerade unsympathisch, er war sehr kooperativ." Ein kurzes Lächeln zuckte über seine Mundwinkel. "Da ist man natürlich erstmal baff." Semir nickte, scheinbar verständnisvoll und lächelte. Bienert war ein 1A Drogenschnüffler, ein kollegialer Polizist, er strahlte ungeheure Souveränität und Autorität aus, vor allem wenn es um schwierige Verhöre ging, oder im Umgang mit jungen Kollegen. Aber eins war er nicht: Er war kein Schauspieler. Er hatte seine Rolle ohne Druck gut gespielt, doch die Fassade war gefallen. Er hatte mehr mit Kevin zu tun, als "nur" eine Verhaftung und ein Verhör, da war sich der erfahrene Polizist sicher.
    "Thomas, wie lange kennen wir uns jetzt?", fragte er mit einem aufgesetzten Lächeln, und die Reaktion war ein fragender verwirrter Blick. Sie kannten sich viele Jahre, sahen sich immer mal bei Fortbildungen oder Veranstaltungen, schätzten sich und ihre Arbeit. "Warum belügst du uns?", knallte Semir ihm dann den Vorwurf mit voller Wucht auf den Schreibtisch, der verwirrte Blick verschwand. Nur Ben schaute erleichtert und dankbar in Semirs Richtung, ihm tat der Kiefer schon weh, so fest biss er sich auf die Backenzähne um Bienert nicht ein lautes: "Hör auf, Scheisse zu erzählen.", an den Kopf zu werfen. Gerade jetzt war er froh, es nicht getan zu haben, denn sein Freund war auf der richtigen Spur.

    Bienert war von Semirs Vorgehen überrascht. Er strich sich zweimal durch die Haare, er könnte jetzt nochmal das wiederholen, was er eben gesagt hatte... aber da wusste er noch nicht, warum Kevin im Gefängnis saß. "Weißt du Hintergründe, warum Kevin sitzt?", fragte er ihn, als wolle er Semir einen Deal anbieten... die Wahrheit gegen Informationen. Der wusste natürlich, dass seine Informationen nicht ganz legal beschafft wurden, aber Bienert war kollegial... bei ihm hatte der erfahrene Polizist nichts zu befürchten... Polizisten, die Bienert zu schätzen wusste, konnten ihm vertrauen. Er nickte ihm zu.
    Der Drogenfahnder blickte kurz zu Ben, und sagte: "Es ist nichts persönliches... aber könnten wir vielleicht unter vier Augen, Semir und ich...", doch er wurde sofort von Semir unterbrochen: "Vergiss es. Wenn du mir vertraust, vertraust du auch Ben. Ich würde es ihm sowieso sofort draussen erzählen. Also?" Ben war stolz, so etwas von seinem Freund zu hören. Er wollte schon entschieden protestieren, aber Semir's Einwand kam genau rechtzeitig. Und auch Bienert erkannte aus Semirs Worten sofort die innige Beziehung zwischen den beiden Polizisten, die ihm gegenüber saßen. Das waren nicht einfach Kollegen oder zusammengewürfelte Partner, sondern Freunde... und das gleiche schien für Kevin zu gelten, wie Semir deutlich machte: "Also, nun raus mit der Sprache. Was hat Kevin erzählt? Wir sind seine Freunde, und wir wollen ihm helfen.", sagte er eindringlich.

    "Okay... Kevin hat für mich gearbeitet.", ließ Bienert raus, und sowohl Semir als auch Ben schien ein zentnerschwerer Stein vom Herzen zu fallen. Er war nicht wieder zu den Drogen abgerutscht, der Kauf war scheinbar fingiert, und die Bestätigung folgte sofort: "Er sollte sich in diesen Drogenring einschleusen. Der Kauf war also fingiert, um rein zu kommen, beziehungsweise weiter an die Hintermänner ranzukommen. Dass ihr den anonymen Hinweis bekommen habt, war Zufall." Ben brach endlich sein Schweigen: "Durfte er uns nichts erzählen?" Bienert nickte sofort, und der junge Polizist legte den Kopf in den Nacken und hauchte ein "Gott sei Dank." Emotional war Ben unglaublich erleichtert, dass diese abweisende Kälte den beiden Beamten gegenüber scheinbar grandioses Schauspiel ihres Freundes war. "Daran hat er sich beeindruckend gehalten.", gab auch Semir zu. "Warum weiß davon niemand? Soviel ich weiß dürfen suspendierte Ermittler keine Undercover-Operationen bestreiten, und in der Akte der verdeckten Ermittler ist Kevin auch nicht." Thomas Bienert nickte erneut, diesmal nachdenklicher. "Ich habe von der Suspendierung gehört, und mich mit Kevins Akte beschäftigt. Ich finde es beeindruckend, dass ein Mann mit solch einer Vergangenheit es schafft, sich im Polizeidienst einen Namen zu machen." Dann sah er Semir direkt in die Augen: "Du weißt doch, wie das bei Undercover-Einsätzen ist. Wir sehen alles aus dem Auge eines Polizisten... wir dürfen dies nicht, und jenes nicht. Machen wir etwas falsch, ist ein Beweis vor Gericht nicht zulässig und 1 Jahr Arbeit ist beim Teufel." Der erfahrene Polizist fühlte sich unwohl, als hätte er eine böse Vorahnung.

    "Worauf willst du hinaus, Thomas?", fragte er und Bienert fuhr fort: "Kevin ist nicht offiziell undercover. Ich hab ihn kontaktiert, vor ungefähr vier Wochen, als ich rausfand dass einige ehemalige Mitglieder aus Jugendgangs in dem Ring drinhängen. Ein Ermittler von aussen käme da nie rein, und wenn, dann erst nach Jahren regelmäßigen Handel. Kevin kannte zwei der Mitglieder von früher, und ich habe ihm dann ein Angebot gemacht." Wieder entstand eine Pause, die Ben zum Nachfragen zwang: "Ein Angebot? Was für ein Angebot?" Bienert saß immer noch aufrecht und autoritär in seinem Stuhl, trotz dass er quasi ein Geständnis ablegte hatte er nichts von seiner Souveränität eingebüßt. "Er sollte in den Ring hereinkommen, und mir mögliche Beweismittel liefern... nicht undercover, nicht unter dem Schutz des Staates... sondern als Kevin... als er selbst. Wenn wir es schaffen, den Ring zu sprengen, wäre es ein leichtes, die Innere von einer Kündigung abzubringen. Niemals würden sie einen so anpassungsfähigen Ermittler vor die Tür setzen." Ben bekam den Mund nicht zu, und er überlegte ob er ausrasten sollte, Bienert am Kragen packen sollte, oder einfach aus dem Büro dampfen sollte. Semir reagierte besonnener, allerdings nur im begrenzten Maße: "Bist du völlig wahnsinnig geworden? Weißt du, gegen wieviele Regeln du damit verstößt?" Der Drogenfahnder sah seinen Kollegen fest an und nickte: "Ja, das weiß ich. Aber dieser Fall verlangte nach solchen Maßnahmen. Wir ermitteln schon Jahre und landen keinen Schlag gegen diese Verbrecher. Kevin ist...", er stockte kurz... "war unsere einzige Hoffnung."

    "Ich glaub das einfach nicht. Sie lassen ihn schutzlos wieder ins Drogengeschäft einsteigen? Woher wollen sie wissen, dass er nicht wieder rückfällig wird, oder dass er bei etwas gefasst wird, bei dem sie ihm nicht helfen können?", rief Ben erregt. "Weil ich ihm vertraue!", war Bienerts scharfe Antwort, was vor allem für Bens erste Frage galt. "Kevin lebt für den Polizeidienst, und er hat die einzige Möglichkeit ergriffen, um wieder darin zurück zu kehren. Ich kenne den Leiter der Inneren und ich weiß, dass es für ihn nicht gut aussieht. Ich habe ihn nicht dazu gezwungen." Semir sah sein Gegenüber abschätzend an: "Und ich soll dir jetzt glauben, dass du das aus reiner Nächstenliebe getan hast?" Thomas Bienert lächelte. "Es wäre dumm, das zu behaupten. Natürlich verspreche ich mir in erster Linie endlich einen Ermittlungserfolg. Aber wenn es dazu kommt, würde ich mich niemals mit fremden Federn schmücken, falls du das meinst. Und das weißt du." Nun nickte Semir wiederrum, denn das wusste er tatsächlich. Bei der Zerschlagung eines internationalen Drogenrings titelte die Zeitung auf ausdrücklichen Wunsch Bienerts nicht mit seinem Namen und erwähnte immer nur den Namen der SoKo, obwohl nahmhafte Tageszeitungen gerne eine Person der Zerschlagung nennen wollten. Bienert hatte die SoKo damals geleitet, verzichtete aber auf Lobhudeleien.
    Doch eine dringende Bitte hatte er dennoch: "Ich habe keine Angst um meine Person. Sollte das rauskommen, bekäme ich ein Diszi, was mich nicht stört. Aber für Kevin wäre es nicht gut, wenn es rauskommt, das wisst ihr. Behaltet es für euch." Semir und Ben sahen sich kurz an, blindes Verständnis, denn sie wussten: Käme das an die große Glocke, wäre es sicherlich nicht gut für Kevin. "Wer weiß davon Bescheid?", sicherte sich der erfahrene Autobahnpolizist ab. "Niemand... nur wir drei und Kevin." Dann lehnte sich Bienert ein wenig zurück, fühlte sich etwas erleichtert. "Und nun erzähl... warum sitzt Kevin im Knast?"

    Kevin's Zelle - 15:30 Uhr

    Kevins Kopf hämmerte vor Schmerz. Die Schläge, die er eingesteckt hatte, waren nicht von schlechten Eltern gewesen. Jetzt fühlte sich seine Lippe taub an, sie hämmerte im Takt mit seinem Kopf. Er befühlte sie mit der Zunge, spürte die Schwellung und den Cut, den er erlitten hatte. Er hatte Thomas abblitzen lassen, hatte keine Lust auf Smalltalk, hatte keine Lust sich mit irgendjemandem hier zu unterhalten. Eigentlich hatte er am liebsten Lust gehabt, sich auf seine Britsche zu legen, die Decke über den Kopf zu ziehen und zu warten... aber auf was? Seine Verurteilung, seine Freilassung? Verdammt, er konnte doch nicht einfach hier drin vor sich hin vegeterien, er durfte nicht schon wieder den Kopf in den Sand stecken. Er war immer jemand, der alles im Griff zu haben schien und immer irgendwo einen Lösungsweg zu sehen schien. Er hatte sich nie hängen gelassen...
    Philipp blickte schreckhaft von seinem Tisch auf, an dem er wieder las und sein Gesicht entspannte sich nicht, als er sah, was Kevin zugestoßen war. "Oje... was ist dir denn passiert?", fragte er mit zitternder Lippe, als würde er drohendes Unheil vermuten. "Nichts.", war die knappeste aller Antworten seines Zellenkumpanen, der sich auf sein Bett fallen ließ, die Beine verkreuzte und die Augen schloß. Philipp sah den Mann an, wollte sich zuerst wieder seinem Buch zu wenden und überwand seine Angst schließlich doch. "Das Aufnahmeritual?", fragte er zögerlich, und erreichte immerhin, dass Kevin die Augen wieder öffnete, und zu dem kleinen Kerlchen aufblickte, und stumm nickte. "Das machen sie mit jedem, der hier neu reinkommt. Mancher hat seine erste Nacht nicht in der Zelle, sondern auf der Krankenstation verbracht." Die Stimme von Philipp zitterte dabei, als hätte er panische Angst vor dem, an was er sich so erinnerte. "Den Typ, der mit mir hier eingefahren ist, und vor mir dran war, haben sie tot geschlagen. Die Wärter sehen weg. Hendrik und seine Jungs haben schon lange das Sagen hier." Dabei sprach er leise und blickte immer mal wieder zur offenen Zellentür, als könnte Hendrik oder Yanek plötzlich in der Tür stehen.

    Kevin setzte sich wieder auf und lehnte sich mit dem Rücken an die blanke Zellenwand. "Und wie hast du das Ritual überstanden?" Philipp blickte beschämend zu Boden, und seine Stimme kam nur sockend über die Lippen. "Ich... ich habe mich... mich auf den Boden geworfen und vor Angst gebettelt, er solle mir nichts tun. Die haben gelacht... die haben gemeint... ich sei es nicht mal wert, verprügelt zu werden." Seine Hände verkrampften sich dabei um die Stuhllehne, und seine Schultern bebten. Offenbar erwartete er, dass auch Kevin ihn auslachte, und im Nachhinein verfluchte er sich, dass er es überhaupt erzählt hatte. Aber Philipp war naiv und leicht zu beeinflussen, er hatte viel erdulden müssen im Gefängnis. Kevin lachte nicht, er sah ihn mit seinem recht ausdruckslosen Gesicht an, aber er nickte und schien zu lächeln: "Keine schlechte Idee. War sicher besser für dich, als den Helden zu spielen.", meinte er mit ehrlicher Anerkennung, und sofort fühlte Philipp sich einige Stufen besser. Auch er lächelte, sein Zittern verschwand und er fand es gut, dass ihm jemand recht gab. "Danke...", meinte er beinahe verlegen. "Warum bist du überhaupt hier?", fragte der suspendierte Polizist und ging im Geiste Straftaten durch, die so unschuldig dreinblickende Jungs, wie Philipp einer war, überhaupt begehen konnten. "Ich... ich hab versucht eine Bank zu überfallen.", meinte er, wieder ein wenig geknickt... ob aus schlechtem Gewissen es überhaupt getan zu haben oder aus Scham, dass er dabei geschnappt wurde, konnte Kevin nicht sagen. "Einer der Wachmänner hat die Spielzeugpistole erkannt, als ich fliehen wollte... und hat mich fast über den Haufen geschossen." Dann erhellte sich sein Gesicht jedoch zu einem Lächeln: "Aber in 2 Monaten darf ich endlich wieder raus. Und dann werde ich alles dafür tun, nie wieder in so ein Loch zu müssen." Irgendwie hatte Kevin den gutgläubigen kleinen Kerl in sein Herz geschlossen. Ohne viel fragen zu müssen wusste der Polizist, dass sein Zellengefährte der Prügelknabe dieses Abschnitts war. Er war kleiner und schmächtiger, er hatte vermutlich vor jedem Angst, und er wehrte sich nicht, wenn man ihn rumschubste. Das perfekte Opfer, um seine Aggressionen rauszulassen, und davon gab es hier im Knast genug.


    Drogen-Dezernat - 15:40 Uhr

    Es dauerte nur 5 Minuten nach ihrer Ankunft im Drogen-Dezernat von Köln, dann wurden Semir und Ben von einer jungen Kollegin in Bieners Büro begleitet. Der erfahrene Drogenfahnder saß hinter einem Stapel von Akten, sein grau angehauchtes Haar lag trotzdem akurat wie immer, er hatte den obersten Hemdknopf geöffnet und die Krawatte leicht gelöst. "Semir, mein Freund. Setzte euch.", begrüßte er die beiden Autobahnkommissare mit ausgestreckten Armen und schüttelte beide Hände. Ben stellte sich vor, er kannte Bienert ja noch nicht und die freundliche Kollegin brachte drei Tassen dampfenden Kaffee. "Viel zu tun?", fragte Semir mit einem Blick über den vollbeladenen Schreibtisch von Thomas Bienert, und der ließ sich gespielt stöhnend in den Sessel fallen. "Mir geht es so wie euch. Genauso wie es immer Raser geben wird, wird es auch immer illegalen Drogenhandel geben. Und geht die Arbeit nicht aus." Sie lachten kurz, dann kam der erfahrene Polizist aber zur Sache. "Aber sagt, was kann ich für euch tun? Was verschafft mir die Ehre eures Besuches." Die beiden Polizisten von der Autobahnpolizei guckten sich kurz an, und Ben nickte. Sie hatten sich darauf verständigt, dass Semir mit Thomas redete, denn er kannte ihn bereits.
    "Es geht um den nächtlichen Einsatz... beziehungsweise um einen der Festgenommenen.", begann Semir defensiv, während Thomas Bienert sich in seinem Sessel nach hinten lehnte und aufmerksam zuhörte, auch wenn sein freundlicher Ausdruck in den Augen ein wenig wich, wie es Ben sofort auffiel. "Ich bin ganz Ohr.", gab er sich dennoch hochfreundlich. "Es geht um Kevin Peters. Vielleicht weißt du es schon, aber er es ein Kollege... er hat einige Fälle mit uns zusammengearbeitet." Bienert zog, obwohl er es natürlich wusste, verwundert die Augen nach oben. "Ein Polizist? Das ist unerfreulich." Der Mann beugte sich nach vorne und stützte die Ellbogen auf die Schreibtischplatte. "Aber warum hat er bei euch nichts geredet, wenn er euch kennt?" Semir strich sich mit den Fingern über die Lippen. "Kevin ist kein einfacher Typ. Wir können jetzt nicht genau sagen, warum er nichts mit uns geredet hat... aber deshalb sind wir auch gar nicht hier."

    Ben saß unruhig auf seinem Stuhl, zu gerne hätte er selbst das Wort ergriffen, aber er hielt sich an die Abmachung. "Sondern?", fragte Thomas Bienert nun genauer und zeigte sich weiter interessiert. "Wir wollten wissen, ob er bei dir irgendetwas ausgesagt hat. Was hat er dort gemacht, für wen hat er die Drogen gekauft... oder irgendetwas anderes." Bienert schmunzelte kurz, schlug eine beliebige Akte auf dem Schreibtisch auf und sofort wieder zu, als Ersatzhandlung. Genauso gut hätte er seine Uhr nachjustieren können, oder die Jalousien hochziehen können. "Du weißt doch, dass ich dir solche Sachen aus laufenden Ermittlungsverfahren nicht sagen darf." "Komm schon, Thomas. Wie lange kennen wir uns jetzt?" Semir legte den Kopf ein wenig zur Seite und lächelte vertrauensvoll, so dass auch sein Gegenüber grinsen musste. "Gib uns nur ein paar Anhaltspunkte. Wir wollen wissen, was mit unsrem Kollegen los ist."
    Bienert holte kurz Luft, und ergriff die Story, die er sich zurechtgelegt hatte, die er mit Kevin abgesprochen hatte. "Er hat ausgesagt, dass er die Drogen für einen Bekannten gekauft hatte. Trechsel kannte er angeblich von früher. Dass er Polizist ist, haben wir natürlich gewusst, aber er war ja suspendiert. Mehr hat er auch nicht gesagt, uns hat Trechsel als Verkäufer sowieso mehr interessiert." "Er hat die Pillen für einen Freund gekauft?", fragte Semir nochmal nach und in seinem Kopf arbeitete es bereits. Soll er Schneider schon gekannt haben? Und ihm die Pillen verkauft, oder mitgebracht haben? Soll es da zum Streit gekommen sein? Aber konnte es so ein irrer Zufall sein, dass ausgerechnet dieser Mark Schneider Jenny vergewaltigt hatte? Ben machte sich die gleichen Gedanken und hielt sich nur sehr krampfhaft daran, nicht das Wort zu ergreifen. "So hat er es gesagt, ja. Aber interessiert euch das wirklich nur, weil er euer Kollege war? Warum fragt ihr ihn nicht selbst?" Der ältere Autobahnkommissar seufzte auf. "Können wir nicht. Er sitzt im Gefängnis... wegen Totschlags." Nun war es Bienert, dem alle Gesichtszüge entglitten. Dass seine Show jetzt wie weggeblasen war, merkten die beiden Kommissare sofort. "Was sagst du da?", wiederholte Bienert ungläubig.

    JVA - 15:10 Uhr

    Der Schlag kam so unerwartet, wie kraftvoll. Er konnte gerade noch aufstehen, sonst hätte Yanek ihm eine echte Breitseite ins Gesicht mitgegeben, so traf Yanek die Rippen, was aber für Kevin ebenfalls sehr schmerzhaft war, und ihm für einen kurzen Moment den Atem raubte. Die Häftlinge um ihn herum begannen zu jubeln und zu gröhlen, offenbar war dieses Aufnahmeritual typisch für einen Neuankömmling. Yanek wollte sofort einen weiteren Schlag ansetzen, diesmal frontal, wieder in Richtung Kevins Gesicht. Doch der war jetzt bereit und wachsam, und wich dem Schlag erstmals aus, schaffte es gerade noch so rückwärts auf die Bank, auf der er gerade saß, zu springen. Aus dieser leicht erhöhten Position zog er seinem Gegner den Schuh durchs Gesicht, der nun seinerseits nach hinten taumelte, und es wurde urplötzlich still im Saal.
    Die Häftlinge sahen drein, als hätte es gedonnert. Sie schauten sich gegenseitig ins Gesicht, denn offenbar war es nicht normal, dass es jemand wagte, Yanek oder seinem Chef Paroli zu bieten. Der Kerl hielt sich die Wange, wo Kevins Fuß ihn getroffen hatte. Auch er sah zuerst verwirrt drein, doch dann wich die Verwirrung der Wut. "Na warte, du Bastard.", schäumte er und machte einen Schritt auf Kevin zu, der rückwärts von der Bank sprang. Yanek war sowohl schnell, als auch stark, er riss die Bank zur Seite, während der suspendierte Polizist sich zunächst im Rückwärtsgang befand. Eine Schlagkombination von Yanek ging zuerst ins Leere, doch ausweichen und rückwärts gehen war schwer... und so traf der dritte Schlag Kevin nun doch im Gesicht und tauchte alles um ihn herum in einen blutroten Nebel, der ihn zu Boden sinken ließ. Langsam begann die Meute wieder zu jubeln, als sie bemerkte, dass Yanek die Oberhand gewann.

    Kevin wischte sich mit dem Handrücken über die blutende Nase, als er harte Hände an seinem Shirt spürte, die ihn gewaltsam hochzogen. "Na, du Wichser... war das alles?" Der Polizist spürte die Bärenkräfte des Mannes, der trotzdem gewandt und schnell erschien, er versuchte ihn mit den Händen am Brustkorb wegzudrücken, doch der Kerl wankte keinen Meter zurück. Also wählte Kevin die letzte Möglichkeit und gab ihm mit Wucht eine Kopfnuss. Sofort löste sich der Griff, Kevin nutzte den kurzen Blackout, trat Yanek erst mit voller Wucht auf die Niere, was ihn zuerst sich nach vorne beugen ließ, und zog ihm dann mit einem Fußfeger das Standbein weg. Krachend landete der keuchende Kämpfer auf dem schmutzigen Boden des Aufenthaltsraums, während sein Gegner in Kampfhaltung und schnell atmend vor ihm stand.
    Doch noch war Yanek nicht geschlagen. Ebenfalls im Gesicht blutend rappelte sich Hendriks Handlanger auf, während Kevin auf ihn wartete. Ein kurzer Blick an seinem Gegner vorbei, der diesen nicht genau sah, und sofort ging Yanek wieder nach vorne. Wilde Schläge, nicht präzise aber gefährlich, ließen Kevin immer wieder ausweichen und rückwärts gehen, bis er plötzlich zwei Handpaare jeweils um einen Arm gepackt spürte. Zwei von Hendriks Männer hatten sich hinter ihm aufgebaut, und hielten den Polizisten nun in Schach, so dass er sich nur noch geringfügig wehren konnte. Yanek wurde zuerst mit einem gezielten Tritt auf Distanz gehalten, doch als der den ersten Schlag gegen Kevins Magen ins Ziel brachte, brach der Widerstand. Er versuchte nur noch, alle Muskeln soweit es ging anzuspannen, um die Schläge erträglicher zu machen. Das funktionierte zwar, solange Yanek auf Kevins Körper schlug, doch als eine krachende Rechte wieder Kevins Gesicht fand, brach auch dieser Widerstand, denn dabei gingen dem Polizisten die Lichter aus. Er spürte noch, wie mehr warmes Blut aus seiner Nase lief, wie seine Lippe aufplatzte und seine Beine nachgeben wollten. Er hörte wie unter einer Käseglocke die lauten Jubelstürme, die Anfeuerungsversuche, und einen lauten Ruf der klang wie: "Lasst ihn los!".

    Es war kein Wärter, der in diese Prügelei endlich eingriff. Kevin erkannte die Stimme, auch wenn sie sich dumpf und weit weg anhörte, und er sah angestrengt, keuchend auf. "Was willst du, Thomas? Das ist unsere Sache.", sagte Hendrik mit dominanter Stimme zu dem, ebenfalls recht kräftigen Kerl, der aus der Masse nun dazu kam. "Eure Sache.", spottete der nur und spuckte auf den Boden. "Eure Sache sind bei euren Ritualen faire Zweikämpfe. Aber wenn sich mal einer wehrt, wird er festgehalten? Pah." Hendrik kaute sich auf der Unterlippe, und sah Thomas durchdringend an. Er kannte den Mann, der schon seit Frühsommer hier im Gefängnis war. Thomas hatte sich aus allen Revierkämpfen rausgehalten, hatte bei seiner Neuankunft im Gefängnis Hendriks anderen Handlanger krankenhausreif geprügelt, so sehr dass sich niemand traute ihn fest zu halten. Seitdem wurde er von allen in Ruhe gelassen. Deswegen hatte seine Drohung auch bei Yanek Gewicht, als er sagte: "Wenn du heute Nacht ein weiches Bett auf der Krankenstation haben willst, dann schlag noch einmal zu." Yanek sah ein wenig hilflos auf Hendrik, der allerdings nur stumm nickte. Die beiden Kerle ließen von Kevin ab, der Mühe hatte, nicht auf den Boden zu sinken. Sein Gesicht brannte und pochte, das Atmen tat ihm weh, doch so langsam begann er klar zu sehen. Vor ihm stand tatsächlich Thomas Stern... Jessys Bruder, den er, Semir und Ben vor einigen Monaten festgenommen hatten. Er hatte bei dem Zugriff seinen Bruder verloren, zeigte sich aber beim Geständnis mit Kevin sehr einsichtig, und die beiden Männer spürten damals, dass sie einiges gemeinsam hatten.

    Hendrik und der Rest seiner Gruppe trollte sich langsam, ein Wärter kam wieder herein, nachdem er merkte dass die Show zu Ende war und Thomas packte Kevin am Arm. "Dich hab ich hier nicht wirklich erwartet.", meinte er mit einer eigenartigen Stimmlage... Kevin konnte nicht ganz einschätzen ob sie höhnisch oder fürsorglich klang. Trotzdem brachte er ein schmerzverzerrtes "Danke" für sein Eingreifen über die Lippen. "Komm.", sagte sein Retter und führte Kevin am Arm zu den engen und schmutzigen Toiletten. Kevin sah langsam wieder etwas klarer, konnte alleine gehen und schlug sich vor dem kleinen zersprungenen Spiegel Wasser ins Gesicht. Er betrachtete sich selbst im Spiegel, und war beinahe erschrocken. Die Lippe aufgeplatzt, ein Cut über dem Auge, doch noch mehr Angst machte ihm sein Blick. Er war leer und ohne Hoffnung, er war ohne Weg und ohne Ziel. Immer noch hatte er sich die Frage selbst nicht beantwortet... hatte er den Typen wirklich umgebracht? Hatte er ihm einmal zu fest auf die Brust geschlagen? Ist er zu weit gegangen damit, den Kerl zusammen zu schlagen, der Jenny vergewaltigt hatte?
    Thomas stand schräg hinter Kevin und betrachtete den Polizisten, während der sich das Gesicht wusch. Dass Kevin kein normaler Schreibtischbulle war hatte er bereits damals bemerkt. Dass er aber als Gefangener im Knast auftauchen würde, damit hatte er nun nicht gerechnet. "Bist du undercover hier drin?", fragte er, nachdem er sich kurz vergewissert hatte, ob die Kabinen leer waren. "Schön wärs.", sagte Kevin düster und schmallippig. Thomas schob die Augenbrauen nach oben. "Hör auf mich zu verarschen." Die beiden redeten, als würden sie sich jahrelang kennen... als wären sie Bekannte, die sich wieder sahen. Dabei war Thomas damals Kevins Entführer, und nun waren sie beiden Häftlinge. Thomas ein verurteilter Todschläger und Entführer, Kevin ein vorläufig festgenommener Todschläger.

    Kevin drehte sich um, und stützte sich mit den Händen auf das Waschbecken, das in seinem Rücken stand. "Ich verarsch dich nicht. Ich sitze." "Warum?" Der suspendierte Polizist atmete tief durch und sah auf den Boden. "Das ist eine verdammt lange Geschichte. Und ich hab eigentlich überhaupt keine Lust, sie zu erzählen." Dabei drehte sich Kevin von Thomas weg und wollte gerade aus den Toiletten rausgehen, als Thomas ihn am Arm festhielt. "Allein wirst du hier drin nicht lange überleben. Schon gar nicht, nachdem Hendrik weiß, dass du dich einigermaßen wehren kannst." Der junge Mann blickte seinen Mahner kurz misstrauisch an, bevor er mit einer energischen Bewegegung seinen Arm befreite. "Ich brauche keinen Babysitter.", sagte er mit seiner monotonen Stimmlage, und verließ endgültig die Toilettenkabinen. Nur schwach hörte er noch ein leises "Ganz wie du willst.", von Thomas, und der Polizist fragte sich, warum er so dämlich war und jede Hilfe einfach ablehnte. Doch sein Schutzwall war stärker als sein Verstand.

    Pathologie - 15:00 Uhr

    Semir zeigte sich einsichtig, denn Bens Worte hatten ihn beeindruckt, und getroffen. Ja, Kevin war Bens Partner für einige Tage und Semir selbst war nicht dabei, er konnte nicht wissen wie nah sich die beiden standen. Und ja, Semir hatte André beinahe blind vertraut. Er hatte ihm zwar zurecht vertraut, denn André hatte das Vertrauen in keinster Weise missbraucht, aber er hatte ihm vertraut, und so konnte er sich ein Stück weit in Ben hinein versetzen. Er konnte sich vorstellen, wie Ben darunter litt, dass er für seinen Freund nichts tun konnte, bzw es ihm nicht erlaubt war, etwas zu tun. Ausserdem wusste der erfahrene Polizist auch, dass er in gewisser Weise noch in Kevins Schuld stand, als dieser sich vor die Waffe der Geiselnehmerin gestellt hatte, die bereits auf Semirs Kopf zielte. Er hatte unwissend sein Leben aufs Spiel gesetzt, was der Kommissar dem jungen Kollegen hoch anrechnete.
    Diese kleine Erinnerung von Ben gab den Ausschlag, dass Semir, obwohl er nur schwer an Kevins Unschuld glauben konnte, letztlich doch nachgab. "Lass uns zur Pathologie fahren. Meisner kennt uns doch gut, vielleicht erzählt der uns etwas.", sagte er in einem versöhnlichen Ton, als er den Wagen startete, und Ben nickte. Es war eine Mischung aus stummen, aber erfreuten Nicken, denn Ben war erleichtert, dass Semir ihm nun doch zur Seite stand, und sie zumindest den Mordfall soweit untersuchen würden, bis sie selbst Kevins Schuld eindeutig bewiesen hatten, oder einfach keinerlei Hinweise auf einen anderen Tathergang finden würden.

    Die Pathologie war ein unangenehmer Ort. Er war kalt, farblos und allerlei bedrückende Gerüche über den Tod hingen in den Räumen. Die beiden Polizisten meldeten sich an und wurden zu Roland Meisner ins Büro gebracht. "Hey ihr zwei Straßen-Cowboys.", begrüßte der erfahrene Pathologe die beiden Polizisten, die ihn ebenfalls anlächelten. "Hallo Meisner, alter Leichenschnippler.", sagte Semir, und die drei Männer schüttelten sich die Hände. "Was kann ich für euch tun?", fragte der leicht ergraute, größer gewachsene Mann und lächelte wie immer freundlich. "Es geht um den Mord an Mark Schneider. Wir wollten mal hören... ähm...", Semir blickte kurz zu Ben, bevor dieser fortfuhr. "Was du so rausgefunden hast." Meisner schaute die beiden Autobahnpolizisten ein wenig misstrauisch an. "Ihr seid doch gar nicht für den Fall zuständig. Plotz und sein Kollege ermitteln in dem Fall, und haben, wie ich hörte, auch schon einen dringenden Tatverdächtigen festgenommen." Wieder tauschten die beiden Polizisten kurz Blicke aus, blindes Verständnis und eine wortlose Kommunikation. Semir sagte daraufhin: "Ja klar. Aber... vielleicht sind die beiden ja auch auf dem... Holzweg." Dabei setzte Semir eine so vertrauenserweckende Miene auf, dass es Meisner schwerfiel, nicht sofort los zu lachen. "Wollt ihr nun die beiden vom Holzweg überzeugen, oder in dem Mordfall ermitteln?", fragte er belustigt. "Das Eine schließt das Andere ja nicht aus.", grinste Ben lässig.
    Der Pathologe schüttelte den Kopf. "Ihr wisst genau, dass ich euch das nicht darf.", sagte er mit ironischem Unterton, suchte eine Akte aus einem Stapel und legte sie, rein zufällig, auf den Schreibtisch. "Und wehe, ihr schaut euch auf meinem Schreibtisch um, während ich uns mal eine Tasse Kaffee mache." Dabei stand er auf und ging zu einer Kaffeemaschine am anderen Ende des Raums. Die beiden Polizisten hatten natürlich sofort begriffen. Meisner durfte ihnen die Akte nicht zeigen, aber wenn sie illegalerweise einen Blick reinwarfen, konnte man ihm eher wenig anhängen.

    Ben nahm die Akte, und begann zu lesen. Semir stellte sich neben ihm auf die Zehenspitzen um ebenfalls einen Blick hinein zu werfen. "Tod durch Herzstillstand. Leichte Gehirnerschütterung noch feststellbar, vermutlich durch Schlagwirkung am Kopf. Schwellung des Brustbeins, durch Schlageinwirkung auf die Brust." Nichts Neues für die beiden Autobahnpolizisten, all das hatten sie bereits von Plotz gehört, bzw in dessen eigenen Verschriftungen nachgelesen. "Wie sicher kannst du sein, dass der Herzstillstand durch den Schlag auf die Brust eingetreten ist?", rief Semir in Richtung Meisner, der mit drei Tassen zurückkam, und nun keinerlei Anstalten machte, den beiden die Akte aus der Hand zu reißen. "Der Schlag kam auf einen recht zentralen Punkt. Da wusste jemand, wo er hinzuschlagen hatte. Es gibt da so eine fernöstliche Kampfkunst, die beschäftigt sich mit solchen speziellen Schlägen." Ebenfalls etwas, was nicht für Kevin sprach, sie hörten es aus Meisners Mund. "Ausserdem waren die Drogenrückstände in seinem Blut so gering, das hätte nicht ausgereicht um einen Herzstillstand auszulösen." Nun blickten die beiden Polizisten gleichzeitig von der Akte auf. "Drogen?", kam es aus beiden Mündern. "Ja, steht doch hier." Meisner stellte sich schräg neben die beiden Polizisten und wies mit dem Finger auf einen unteren Absatz. "Wir fanden im Blut minimale Rückstände von Speed. Die Partydroge aus den 90ern. Hilft aber immer noch, um gut drauf zu sein, oder sich besonders toll zu fühlen. Er hatte sie mindestens 12 Stunden vor seinem Tod genommen, vielleicht aber auch 18 Stunden davor. So in dem Dreh." Ben blätterte weiter, ohne noch etwas Besonderes zu finden, während sein Partner sich wieder an Meisner wandte: "Hast du Plotz davon erzählt?" "Das hatten wir heute nachmittag erst rausgefunden. Ich hab es ihm gesagt, aber es hatte ihn nicht mehr interessiert, es sei nicht von Belang. Sie hätten soeben einen Tatverdächtigen verhaftet, und die Indizien würden gegen ihn reichen." Dabei zuckte er beinahe entschuldigend mit den Schultern, als sei er nicht Schuld daran, dass der Ermittler der Mordkommission an diesem Ergebnis kein Interesse hatte.

    Die beiden Polizisten bedankten sich bei Meisner und versprachen, niemandem davon zu erzählen, dass er ihnen Einblick in die Ergebnisse gewährt hatte. Draussen atmeten sie die frische Spätsommerluft ein, es war angenehm aus dieser bedrückenden Kühle wieder an die Sonne zu kommen. "Das erklärt wohl, dass er über Jenny hergefallen ist.", meinte Semir, als die beiden zum Auto zurückgingen. "Das ist ja wohl keine Entschuldigung für sowas.", brummte sein Partner, doch Semir stellte sofort klar: "Ich hab ja auch gesagt "Erklärung", nicht "Entschuldigung."" Sie schritten über den Parkplatz der Pathologie, bis sie zu dem silbernen BMW gelangten und Semir sich auf den Fahrersitz gleiten ließ, Ben gesellte sich auf den Beifahrersitz. "Also mal angenommen, Kevin hat den Kerl nur zusammengeschlagen... dann muss nach ihm noch jemand in der Wohnung gewesen sein, den die Zeugin nicht gesehen hat. Vielleicht war der schon da, oder er kam erst danach. Und schiebt die ganze Sache Kevin in die Schuhe.", sprach Ben seine Gedanken laut aus. Semir schüttelte skeptisch den Kopf: "Ich glaube nicht, dass jemand das geplant Kevin zuschieben will. Dann hätte er ja erstmal Schneider beauftragen müssen, Jenny zu vergewaltigen, damit Kevin einen Grund hatte, ihn zu besuchen... und sich umbringen lassen.", wiedersprach er. "Du glaubst also, dass das einfach ein dummer Zufall ist?" Semir blickte durch die Frontscheibe nach draussen, die Hände um das Lenkrad gelegt. "Ich weiß es nicht. Aber ein Polizeianwärter, der Speed konsumiert... der muss das Zeug auch irgendwo herbekommen, und es bezahlen. Vielleicht hat ein Dealer rausbekommen, dass er Polizist ist."
    Beinahe gleichzeitig kam den beiden Polizisten ein schrecklicher Gedanke: "Und vielleicht...", meinte Semir vorsichtig, um Ben nicht wieder auf den Schlips zu treten, aber auch weil er den Gedanken erst einmal fassen musste: "...vielleicht war Kevin nicht nur wegen Jenny da." Ben sah Semir an, nicht verärgert sondern ebenfalls er erschrocken, weil er die gleichen Gedanken hatte. "Als Verkäufer? Das Zeug, dass er auf dem Rastplatz eingekauft hatte?" Semir nickte stumm, und Ben atmete tief durch. Verdammt, plötzlich waren sie über den Fund der Drogen in Schneiders Blut gar nicht mehr so sehr begeistert.

    Doch dem erfahrenen Ermittler kam bereits die nächste Idee: "Lass uns zu Bienert fahren. Vielleicht hat er was aus Kevin rausbekommen letzte Nacht." "Glaubst du, der erzählt uns etwas darüber?", meinte Ben ein wenig misstrauisch, doch Semir winkte sofort ab: "Ich kenne Bienert schon länger. Einen kollegialeren Polizisten wirst du in Köln nicht finden. Der hilft uns bestimmt weiter."

    JVA - 14:30 Uhr

    Mit einem zivilen Dienstwagen wurde Kevin zur Justivvollzugsanstalt nach Ossendorf gefahren. Die Hände hatte man ihm sicherheitshalber mit Handschellen auf den Rücken gefesselt, diese wurden nach dem Aussteigen hinter der Sicherheitszone abgenommen. Sollte er hier versuchen abzuhauen, hätte das so gut wie keine Erfolgsaussichten. Seine Papiere wurden ihm abgenommen und verwahrt, genauso wie sein Handy und seine Schlüssel. Formulare wurden von den beiden Beamten ausgefüllt, die ihn hierher brachten, die er unterschreiben musste. Auf einem der Zettel stand in Handschrift: "Dringender Mordverdacht" geschrieben, ein Wort dass auf Kevins Körper eine Gänsehaut auslöste, genau wie die gesamte Umgebung.
    Früher als Jugendlicher hatte er immer damit gerechnet, irgendwann mal hinter Gitter zu landen. Jetzt war dieses Gefühl irgendwie unwirklich, und die kahlen grauen Wände um ihn herum strahlten etwas Kaltes, Uneinladendes aus. Er wurde angehalten, heute noch einen Verwandten anzurufen, der ihm ein paar Klamotten ins Gefängnis bringt, oder aber einen Beamten dazu beauftragen. Kevin nickte nur, er sprach kein Wort, er war zu sehr in Gedanken versunken, und er würde in Zukunft viel Zeit zum Nachdenken haben.

    Die zwei Polizeibeamten verabschiedeten sich bei den Gefängniswärtern und kehrten zurück in den Dienst... etwas, was Kevin nun auch liebend gern getan hätte. Doch er musste nun dem Wärter folgen, durch viele helle, teils dunkle Flure, bis er vor einer Stahltür stand, die der Wärter nun aufschloß. Die Zelle war klein, es waren zwei Pritschen und ein Waschbecken vorhanden. Eine Tür, die nicht richtig schloß, grenzte den Bereich zu einer Toilette ab, immerhin. Ein kleiner Tisch und ein Stuhl standen noch drin, an dem Tisch saß ein junger Kerl, jünger als Kevin und sehr schmächtig, beinahe klein. Er hatte verschreckte Augen und blickte auf, als die Tür sich öffnete, und Kevin von dem Wärter hineingeschubst wurde. "Wir wünschen einen angenehmen Aufenthalt.", meinte einer der beiden höhnisch und grinste. Über einer Pritsche hingen kleine Bilder und Poster was darauf hinwies, dass diese dem kleinen Kerl gehörte, also warf Kevin sein Bettzeug, dass er in der Hand hielt auf die gegenüberliegende Matratze. "Philipp, warum bist du hier drin und nicht draussen um diese Zeit im Gemeinschaftsraum?" Die Stimme des Jungen, der fast noch kindlich wirkte, war hell als wäre sie kurz vorm Stimmbruch. "Ich... ich bin lieber hier... und... lese.", sagte er ein wenig stotternd, beinahe nervös. Der Wärter nickte und zog die Zellentür wieder zu. In freien Stunden konnten sich die Gefangenen frei im Gefangenenbereich bewegen, erst nach dem Abendessen wurden die Zellen verschlossen.
    Kevin ließ sich auf die Matratze nieder, stützte die Arme auf die Beine und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und die abstehenden Haare. Er seufzte auf... war er diesmal wirklich zu weit gegangen? Er hatte es für Jenny getan, für sein eigenes Gewissen. Er hatte sich so sehr in seine Vergangenheit zurück versetzt gefühlt, dass es ein Drang für ihn war, diesen Menschen, der Jenny das angetan hatte, zu bestrafen, weh zu tun. Er hatte über die Konsequenzen seines Handelns nicht nachgedacht.

    Der suspendierte Polizist merkte für einen Moment gar nicht, dass er hin und wieder neugierig beobachtet wurde. Erst als er aufblickte und sah, dass Philipp sich auf dem klapprigen Holzstuhl umgedreht hatte und zu Kevin rübersah, bemerkte er das Interesse des Jungen. "Gehts dir nicht gut?", fragte er neugierig, aber mit gehörigem Respekt. "Wie soll es mir schon gehen, nachdem ich gerade eingebuchtet wurde.", war die kratzige Antwort, die den Jungen ein wenig zusammen zucken ließ. Offenbar musste er seine Neugier häufiger bezahlen, Kevin erkannte in seinem Gesicht eine leicht violette Schwellung an der Wange. "Und... warum... bist du hier?", fragte er dann dennoch zaghaft und zog ein wenig den Kopf ein, als hätte er Angst sofort eine von dem jungen, viel größeren und kräftigeren Mann, gescheuert zu bekommen.
    Kevin war für eine Art Smalltalk jetzt überhaupt nicht zu gebrauchen. Er stand ruckartig auf, so dass Philipp vor Schreck beinahe nach hinten gegen den Tisch fiel, und sagte: "Ich hab jemanden totgeschlagen." Er sagte es mit einer Stimme, die er selbst nicht erkannte... mit einer Überzeugung, vor der er selbst erschrak. Jedenfalls erreichte er, dass der Junge in seiner Zelle vor ihm zurückwich, und sich jede nächste Frage verkniff. Er drehte sich auf dem Stuhl um und vergrub seine Nase wieder in dem Buch, das er las... unwissend, dass Kevin sich niemals an Kleineren vergreifen würde, egal wie sehr sie ihm auf die Nerven gehen würden. Aber er wollte jetzt Ruhe, und wenn Härte erstmal das Mittel zum Zweck waren, dann sollte das eben so sein. Im Knast würde er diese gespielte Überzeugung noch häufiger brauchen.

    Kevin verließ die Zelle und ging durch die kahlen, farblosen Gänge, über die Tretgitter der beiden Stockwerke, in denen die Gefangenen untergebracht waren. Alte vergammelte Schilder zeigten teilweise an, wo man was finden konnte. Selbsterkundung war angesagt, von den Wärtern hatte Kevin weder Arbeits- noch Essenszeiten gesagt bekommen. Der Weg zum Telefon war der erste, den Kevin antrat. Er hatte einen Anruf frei und kurz überlegte er, ob er den für Hilfe vergeuden sollte und bei der Autobahnpolizei anrufen sollte, oder doch Kalle, die ihm Klamotten bringen sollte. Als er sah, dass ein Wärter bei dem Telefonat über die Schulter blickte, entschied er sich für Zweiteres. Kalle war erst mal geschockt, aber doch einiges aus der Familie Peters gewohnt. "Ich habe deinem Vater schon öfters Klamotten in den Knast gebracht, als ich selbst einkaufen war.", schnaubte sie mit ihrem gewohnt trockenen Humor durchs Telefon und versprach, heute noch vorbei zu kommen. Der junge Polizist bedankte sich, und legte auf.
    Dann ging er langsam zum Gemeinschaftsraum. Es war ein großer Raum, beinahe ein Saal, und er war nicht einladender als die Zelle oder die Gänge, die dazwischen lagen. Ein Fernseher hing in einer Ecke, darunter stand eine Sitzgruppe. Eine Tischtennisplatte und ein Kickertisch, die beide belegt waren, standen herum. Ausserdem mehrere Bänke, auf denen Gefangene saßen, sich unterhielten, Zigaretten drehten oder Bücher lasen. Einige Augenpaare schauten Kevin aber auch neugierig an, wie immer wenn ein Gesicht auftauchte, das niemand kannte. Ein ziemlich kräftiger Typ, der auf der Couch thronte wie ein König unterhielt sich kurz mit seinem Nebenmann, den Blick nicht von Kevin abweichend. "Ein Neuer?", fragte er mit kratziger Stimme, und der Kerl neben ihm schien zu nicken. "Sieht ganz so aus. Den sollten wir mal testen." Ein diabolisches Grinsen breitete sich auf den beiden Gesichtern aus, während der Polizist sich auf eine Bank, die noch frei war, niederließ und seine Umgebung beobachtete.

    Der etwas zu kurz geratene Kerl, der gerade noch bei dem Typen auf der Couch saß, ging nun zu dem einzigen Wärter, der den Raum im Auge hatte. Beide tuschelten etwas zueinander, bis der Wärter den Raum verließ. Die Gefangenen, die dies mitbekamen, richteten den Blick sofort auf Kevin... mitleidig, herausfordernd, amüsiert. Hendrik, der kräftige Kerl auf der Couch, der sich die Haare an den Schädelseiten abrasiert hatte, erhob sich und ging auf Kevin zu, während einige der Sitzgruppe sich ebenfalls erhoben, und Hendrik folgten. Der Polizist blickte erst auf, als Hendrik schon direkt vor ihm stand. "Du bist neu hier?", fragte er nach unten, den Kevin machte keinerlei Anstalten für Hendrik auf zu stehen. "Sieht ganz so aus.", war seine typische, schmallippige Antwort. "Wir mögen hier aber keine Neuen. Schon gar nicht, wenn sie ne große Fresse und nichts dahinter haben." Die Blicke der beiden kreuzten sich, und oft kam es vor, dass das Gegenüber des tätowierten Mannes vor Angst die Augen senkte... nicht bei Kevin. Der hatte mit solch einer Konfrontation gerechnet, schließlich bekam er in der Gang öfters mal erzählt, was im Gefängnis so abging... was sich in den letzten 12 Jahren sicherlich nicht geändert hatte.
    "Tja, das ist dann wohl eher dein Problem.", meinte Kevin seelenruhig mit arrogantem Unterton und Hendrik lächelte. Er musterte den Typen vor sich, der weder kräftig noch besonders brutal aussah, oder zumindest ansatzweise wie ein ernst zu nehmender Gegner. Er drehte den Blick über die Schulter zu Yanek, ein Glatzkopf der schräg hinter ihm stand, und nickte. Yanek war Hendriks Handlanger, ein perfektes Werkzeug, das nicht widersprach und normalerweise Neuankömmlinge testete, die nicht sofort vor Hendrik zu winseln begannen. Der kräftig gebaute Kerl trat einen Schritt zur Seite und meinte in Kevins Richtung: "Schauen wir mal, ob es nicht vielleicht doch dein Problem wird.", und ließ Yanek den Vortritt. Als Kevin sah, was dieser vor hatte, erhob er sich nun doch mit einem Ruck... zu spät...

    Mordkommission - 13:45 Uhr

    Semir hatte den BMW auf dem Parkplatz der Mordkommission noch nicht zum Stehen gebracht, da riss Ben schon die Tür auf, so eilig hatte der Polizist es. Er dachte, dass Kevin vielleicht noch verhört werden würde und hatte die Hoffnung, ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Semir hetzte seinem Partner hinterher, der bereits vorausging und mit seinen langen Beinen einen Schritt machte, wo der kleine Semir anderthalb machen musste. An der Pforte hatte er seinen Freund eingeholt, beide stiegen die Treppen herauf zum 2. Stock, weil Ben, wie immer, den Fahrstuhl verweigerte, was Semir wie immer akzeptierte ohne nachzufragen... einfach, weil er sich darum keine Gedanken machte, jetzt schon gar nicht.
    Sie lasen auf einem Schild die Zahlenbezeichnung der Mordkommission, darunter alle aufgelisteten Kommissare, die momentan für die Mordkommission tätig waren. Darunter auch die Namen Plotz und Kühne. Mit schnellen Schritten gingen sie durch den recht düsteren Flur, das Klacken ihrer Schuhe auf dem alten Boden klang durch den ganzen Durchgang. Den Kopf immer nach rechts und links drehend um zu sehen, wo der Name Plotz neben an einer Tür stand, blieb Ben plötzlich stehen. Sie hatten das Büro erreicht.

    Ohne anzuklopfen drückte Ben die Klinke herunter und sah den dicken Kommissaren gerade beim Mittagessen. Vor sich hatte er eine McDonalds-Tüte stehen, in seiner Hand ein fettiger Cheeseburger, drei weitere davon gestapelt in Papier gewickelt auf seinem Schreibtisch. Plotz schaute zuerst überrascht, dann verärgert ob des Besuches in seiner Mittagspause. "Schon mal was von Anklopfen gehört?", blaffte er mit vollem Mund, und auch sein Schoßhündchen, der gegenüber von ihm saß, schaute nun auf. "Warum haben sie Kevin verhaftet?", fragte Ben ohne Umschweife, während sich Semir neben ihn gesellte und ein Gefühl des Unbehagen verspürte. Er merkte, dass Ben keinen besonders objektiven Blick auf die Sache hatte, genauso wenig wie Plotz scheinbar. "Weil er ein mutmaßlicher Mörder oder Todschläger ist... das wird dann der Richter entscheiden.", sagte Kühne in einem penetrant korrekten Hochdeutsch, wobei er sich kurz seine Hornbrille zurecht rückte. "Sie haben schon mal mit ihm zusammengearbeitet, Plotz. Sie müssten doch wissen, dass Kevin kein Mörder ist.", sagte der hochgewachsene Kommissar mit scharfem Ton, der den dicken Polizisten aufblicken ließ. "Richtig... und genau weil ich den Kerl kenne, und durch das Ermittlungsverfahren der inneren Abteilung noch besser kenne, weiß ich ganz genau was er auf dem Kerbholz hat." Auch der Ton von Plotz war angriffslustig, was Semir dazu nötigte, beschwichtigend die Hände zu heben.

    "Moment mal, ganz ruhig.", sagte der erfahrene Kommissar und blickte vor allem Ben ein wenig tadelnd an. "Herr Plotz, Kevin ist ein Freund von uns. Wir würden gerne wissen, was genau gegen ihn vorliegt, und warum es einen Haftbefehl gibt. Nur weil er gesehen wurde und von der Vergewaltigung von Frau Dorn wusste, dafür gibt ihnen kein Haftrichter einen Haftbefehl." Semirs Stimme war ruhig und besonnen, auch wenn er von dem Verhalten des Mordermittlers einigermaßen angekotzt war. Trotzdem bemühte er sich, die Situation halbwegs objektiv zu betrachten.
    Plotz hätte den beiden, in seinen Augen völlig unfähigen Polizisten gerne ein "Das geht euch einen Scheißdreck" an den Kopf geworfen... doch sein Siegeszug die entgeisterten Gesichter zu sehen, wenn er den beiden eine lupenreine Indizienkette vorlegen würde, war ihm dann doch lieber. Er wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. "Peters wurde nicht nur gesehen und eindeutig erkannt.", begann er, bevor er die letzten Bisse seines ersten Burgers runterschluckte. "Er hat ein glasklares Motiv. Das Verhältnis zwischen ihm und Frau Dorn war scheinbar enger als nur ein Kollegenverhältnis." Gesagt hatte Jenny das nie, doch ihre Reaktion auf diese Frage am gestrigen Abend ließ Plotz einfach zu diesem Schluß kommen. "Wobei das in eurer Dienststelle scheinbar Normalität ist...", sagte er in einem abwertenden Ton in Richtung Semir, der bekanntlich mit Andrea von der gleichen Dienststelle verheiratet war. Ben wollte dieser Provokation bereits antworten, spürte jedoch Semirs Hand am Arm, der betont freundlich und gelassen blieb. "Und weiter?" Plotz schob den beiden Männern ein Laborgutachten hin. "Laut diesem Bericht haben wir Hautpartikel von Peters verschrammten Fingerknöchel in den Platzwunden des Opfers gefunden." Semir hob das Papier vom Schreibtisch, und überflog es... zweifellos. Das war ein eindeutiger Beweis, dass Kevin zugeschlagen hatte. "Ausserdem haben wir das...", mit einer Bewegung warf Plotz ihnen das Buch auf den Tisch, das er in Kevins Wohnung mitgehen hat lassen. "...gefunden. Mit einem Schlag dieser sehr speziellen Kampfkunst wurde der Mann getötet. Einem Schlag auf die Brust, nach dem innerhalb von 15 Minuten ein Herzstillstand eintritt. Ich weiß nicht, ob man bei sowas noch von Todschlag sprechen kann." Ben betrachtete das Buch, und er fühlte, dass ihm schlecht wurde. Davon hatte ihm der suspendierte Polizist mal erzählt, dass er fasziniert sei von dieser Kampfkunst.

    Trotzdem, Ben wollte nicht glauben, dass Kevin zum Mörder geworden war. Das konnte einfach nicht sein, es würde alles kaputtmachen was Ben bisher über seinen Freund geglaubt hatte. "Gab es nichts besonderes beim Opfer? In dessen Lebensakte?", hakte er nach und erntete Unverständnis. "Der Junge war Kommissarsanwärter. Was denken sie, sollen wir da rausfinden?" "Vor allem war der Kerl ein mieser Vergewaltiger.", sagte der Polizist laut und stützte sich mit zwei Armen auf den Schreibstisch von Plotz, näherte sich mit dem Gesicht an den dicken Kommissar heran. "Und wer Frauen vergewaltigt, der hat auch andere Dinge auf dem Kerbholz. Habt ihr nun ermittelt, oder nicht?" "Da gibt es nichts zu ermitteln, sie Grünschnabel. Wir haben den Mörder von Mark Schneider überführt. Peters war eindeutig in der Wohnung und hat zugeschlagen, letzteres hat er sogar abgestritten bis wir den genauen Beweis hatten." Ben verlor er die Nerven. Er packte einen, der drei noch da liegenden Cheeseburger und beförderte ihn mit einem gezielten Wurf in den Papierkorb, wobei er provokant sagte: "Weniger Fett wäre besser fürs Hirn. Dann würden sie auch aus ihrem Tunnelblick rauskommen." Semir fuhr mit der Hand über seine Augen, das hatte er ja schon kommen sehen. Als Plotz ruckartig, schneller als man es mit seiner Figur erwarten konnte, aus seinem Stuhl aufstand, fasste er seinen Freund an der Schulter und zog ihn zurück. "Was bilden sie sich eigentlich ein? Ich werde mich bei ihrer Chefin beschweren.", rief er laut, wobei er dann provokant nachsetzte: "Ach, das hat eh keinen Sinn. Was soll man von einer Vorgesetzten erwarten, die solche Schmalspurpolizisten wie euch nicht unter Kontrolle hat, und noch dazu Kriminelle in Schutz nimmt. Und jetzt raus aus meinem Büro." Gerade wollte Ben erneut antworten, doch Semir kam ihm zuvor. "Es reicht jetzt. Danke, für ihre freundliche Unterstützung." Er zog seinen Freund vom Schreibtisch weg und schubste ihn in Richtung Bürotür. Hinter sich grollte Plotz: "Und wagen sie es ja nicht sich in irgendwelche Dinge einzumischen. Das wird sie ihre Karriere kosten."

    Wortlos stapfte Ben vor Semir die Treppe runter. Sein Adrenalin kochte, sein Kopf und sein Herz bebten, nur sein Verstand wusste nicht, was er glauben sollte. Es sprach wirklich ALLES gegen Kevin... aber so blöd konnte der doch nicht sein, so einen dummen Mord zu begehen. Und wenn es im Affekt war? Würde er es dann leugnen? Hätte er sich dann nicht gemeldet und um Hilfe gebeten? Wäre er dann nicht geflohen? Am Ausgang spürte er, wie er von Semir am Arm festgehalten wurde. "Sag mal, gehts noch? Was sollte das denn da drinnen?", fuhr der kleine Polizist seinen jüngeren Kollegen an, als sie auf dem Parkplatz standen. "Ich lasse mich von diesem fetten Köter nicht verarschen. Kevin hat niemanden umgebracht." "Ben, bei solchen Typen erreichst du nur was, wenn du ihm hinten rein kriechst. Er hat uns vorgelegt, was Sache ist." Ben sah Semir entgeistert an. "Du glaubst ihm? Du denkst, Kevin hat den Kerl umgebracht?" Fassungslos lachte er auf, schüttelte den Kopf. "Ich bin Polizist. Ich glaube erst mal nur den Fakten. Und Fakt ist, dass Kevin diesen Mark Schneider zusammengeschlagen hat, gesehen wurde und ein Motiv hat." Der Polizist mit dem Wuschelkopf stemmte die Hände in die Hüften. "Du hast ihn doch selbst beobachtet damals... auf dem Dach der Fabrik. Du hast selbst gesagt, dass du fest damit gerechnet hast, dass er abdrücken würde." Ja, das hatte Ben. Er hätte es Kevin ohne Zögern damals zugetraut. Aber es war eine Ausnahmesituation... der Kerl war der Killer seiner Schwester. Er hatte Kevin damals beinahe seelisch gebrochen. Das war etwas anderes.

    "Ben, ich möchte auch nicht glauben, dass Kevin ein Mörder ist. Aber leider... sieht es momentan so aus." "Ja. Und weil es so aussieht, müssen wir ihm helfen. Wir müssen alle anderen Möglichkeiten abchecken, die es noch gibt." Semir sah Ben zweifelnd an. Was stellte sich sein Kollege da nur vor. Semir sah die Sache wie ein erfahrener Polizist, er sah die Indizien und die Fakten, die alle gegen Kevin sprachen... so leid und so weh es ihm auch tat. Und Ben spürte die Zweifel seines Freundes... er sah sie quasi. "Du glaubst, ich spinne, hm?", sagte er und Semir schüttelte den Kopf. "Ich glaube, du siehst das ganze nicht objektiv." "Du willst ihn also hängen lassen? Kevin hat mir das Leben damals gerettet... und er hätte beinahe seins gegeben, dafür dass Jessy DICH nicht abknallt." Bens Stimme wurde im Verlauf des Satzes immer lauter und ließ Semir nachdenklich werden. Kevin hatte sich selbstlos und im blinden Vertrauen vor die Waffe einer Geiselnehmerin gestellt, um Semir zu schützen. Die hatte abgedrückt, doch das Magazin war leer... was keiner der Beteiligten wusste. "Der große Bruder...", meinte Ben noch höhnisch und klang beinahe verzweifelt. Weil Semir damals derjenige war, der auf Kevin einwirkte, hatte der ihn so genannt, was den erfahrenen Polizisten sehr schmeichelte. Der stand nun da, die Hände in der Hüfte und sah zu Boden, doch Ben war noch nicht fertig.
    "Und ich bin nicht objektiv... Ich will dir mal was sagen: Du hast deinem Partner André geholfen, und ihm geglaubt, dass er bedroht wurde, als er den Mann erschossen hat. Du hast ihm geholfen, obwohl du nicht genau wusstest, was los ist." Semir sah auf und wollte sich wehren: "Das ist etwas anderes. André war drei Jahre lang mein Partner." Ben nickte: "Ja... und Kevin war drei Tage lang mein Partner. Das reicht mir, ihn nicht hängen zu lassen." Danach drehte Ben sich von Semir weg und ging in Richtung des silbernen BMWs. Die letzten Worte trafen Semir ins Herz, und ließen ihn nachdenklich zurück.

    Verhörzimmer Mordkommission - 11:00 Uhr

    Kevin hatte keinen Ton von sich gegeben, er hatte keinen Widerstand geleistet, als dieser Bubi-Assistent von Plotz ihm die Handschellen angelegt hatte. Eigentlich hatte er die ganze Zeit damit gerechnet, dass jemand bei ihm auftauchen würde... und nun saß er hier. Die Hoffnungen auf die Rückkehr in den Polizeidienst hatten sich endgültig erledigt, vermutlich hatte sich gerade sein komplettes Leben erledigt. Hatte er einmal zu fest zugeschlagen? Hatte er den Kerl auf die Brust geschlagen? Kevin konnte sich selbst nicht mehr genau daran erinnern. Er weiß nur, dass er dem Kerl unvermittelt eine gelangt hatte, als der die Tür öffnete und auf die Frage von dem suspendierten Polizisten seinen Namen nannte. Schneider versuchte nach dem ersten Schlag tatsächlich nochmal auf zu stehen, was Kevin, getrieben von Wut und Zorn nicht zuließ. Aber schlug er ihm wirklich auf die Brust... er lebte doch noch, als er ihn verliess, er sah dem Polizisten zitternd und wimmernd in die Augen, als dieser ihn auf dem Boden am Kragen packte und drohte: "Wenn du Jenny noch einmal näher als 5 Kilometer kommst... dann schlage ich dich tot." Und vor dem Polizisten konnte man sich durchaus fürchten, wenn man seinen Zorn geweckt hatte. Danach verließ Kevin die Wohnung, und hatte diese Frau kurz gesehen, die ihn neugierig beäugte. Wenn es einen guten Grund dafür gab, seine Polizei-Karriere endgültig gegen die Wand zu fahren, dann einem Kerl die Zähne einzuschlagen, der sich an einer Frau vergreift... und dann auch noch an einer Frau, die Kevin nahestand und bei ihm Alpträume auslöste, die längst vergessen waren. Doch scheinbar war er zu weit gegangen.

    Sie hatten ihm DNA-Proben entnommen, und kleine Hautpartikel von den Händen abgestreift. Dann hatten sie ihn hier rein verfrachtet, die Handschellen abgenommen, und die Tür zugesperrt... Kevin hatte genug Zeit zum Nachdenken, bis Plotz letztendlich wieder hereinkam. Er wurde wieder begleitet von zwei uniformierten Polizisten, scheinbar traute sich der Feigling nicht alleine zu Kevin herein. "So, du warst also nicht bei Schneider in der Wohnung.", sagte er voller Vorfreude und knallte das Blatt Papier, das er in der Hand hatte, dem suspendierten Polizisten auf den Tisch. Kevin wagte keinen Blick darauf zu werfen, denn Plotz kam ihm sowieso zuvor. "Die Untersuchung hat ergeben, dass Hautpartikel von dir in der Gesichtswunde des Toten gefunden wurden. Damit ist bewiesen, dass du ihn totgeschlagen hast, Peters." Er blickte nach unten auf den sitzenden Kevin, der erst stumm vor sich hin starrte, bevor er den Kopf zu Plotz hob, und ihn aus seinen hellblauen Augen heraus ansah. "Als ich ging, hatte die Ratte noch gelebt." Plotz nickte beinahe zufrieden. "Todesursache, Herzstillstand nach einem Schlag auf die Brust. Die Dianxue-Technik ist bekannter als du denkst, und der Herzstillstand kann erst eine Viertelstunde nach dem Schlag eintreten." Kevin kannte diese Technik, er hatte ein Buch darüber gelesen und sie trainiert. Er hatte den Kerl doch gar nicht auf die Brust geschlagen... oder doch?
    "Du wurdest am Tatort gesehen, du hast ein Motiv, und du kennst die Technik, mit der der Kommissarsanwärter getötet wurde.", zählte der erfahrene Mordermittler auf. "Nicht nur dass du als Drogenjunkie zur Polizei gekommen bist... jetzt gehst du als Mörder in den Knast. Solcher Abschaum wie du ändert sich nie.", sagte Plotz voller Abscheu zu dem schweigenden Kevin. Er schaffte es nicht, den jungen Mann zu provozieren, der scheinbar so war es, aufgegeben hatte. "Mal sehen ob du immer noch so cool bist, wenn du im Knast ein paar alte Bekannte wiedersiehst." Dann drehte sich Plotz um, im sicheren Wissen bereits die Untersuchungshaft beantragt und genehmigt bekommen zu haben. Dass er auf seine alten Tage nochmal einen Fall bekommt, der ihn so befriedigt, hätte er nicht für möglich gehalten. "Abführen. In einer Stunde wird er in die U-Haft überführt." , sagte er einsilbig zu den beiden uniformierten Beamten, die Kevin erneut Handschellen anlegten, und ihn nach unten in die Zelle führten. Der Polizist leistete keinen Widerstand, dachte an die weinende Jenny und war überzeugt, diesmal alles richtig getan zu haben.


    Landstraße - 13:00 Uhr

    Ben und Semir kamen nicht um ihre Tour herum, trotz aller Gedanken sie sich um Jenny und den Mordfall ihres Vergewaltigers machten... und vor allem um Kevin, der da mit drin hängen könnte. Beide waren geschockt, als sie die Zusammenhänge aus der Akte der Mordkommission gelesen hatten, denn es sprach objektiv tatsächlich vieles gegen Kevin. Sie überlegten, ob sie sofort zu ihm nach Hause fahren sollten, aber die beiden Polizisten waren immer noch verärgert darüber, wie er sich ihnen gegenüber bei dem Einsatz wegen des Drogenhandels auf der Raststätte verhalten hatte. Er verweigerte ihre Hilfe, verweigerte jeden Dialog, was Semir und vor allem Ben sehr getroffen hatte. Trotzdem plagte sie das Gewissen, die Gedanken, und nach der Mittagspause schließlich beschlossen sie, doch zu dem Mehrfamilienhaus zu fahren, wo Kevin seit einigen Wochen mit Kalle zusammen wohnte.
    Es war still im Auto, als plötzlich Semirs Handy klingelte, und er am Lenkrad die Taste für die Freisprecheinrichtung betätigte. "Ja...", sagte er missmutig, als er Andrea's Nummer im Display sah, wofür er von seinem Partner tadelnd angeschaut wurde. "Semir... ich bins. Weißt du, was ich gerade gelesen habe?", sagte Semirs Frau ein wenig hektisch, und der Polizist erkannte sofort, dass es wichtig war, und so versteckte er seinen harschen Ton sofort. "Was denn?" "Kevin ist festgenommen worden.", sagte sie nur und wartete auf eine Reaktion, die prompt kam. "Wie bitte?" Andrea nickte am Apparat und sagte leise und etwas zögerlicher. "In Verbindung mit einem Mord an Mark Schneider... der... der auch was mit der Sache um Jenny zu tun hat, die ich dir nicht erzählt habe." "Andrea, wir wissen bereits alles. Jenny hat Mark Schneider wegen Vergewaltigung angezeigt, und jetzt ist Schneider tot." Andrea schluckte, und sah schräg herüber zu Jenny, die an ihrem PC saß und tippte. Für sie war die Arbeit die beste Ablenkung.

    "Scheinbar hat Plotz bereits genug Beweise für einen Haftbefehl... er soll nach Ossendorf in die JVA.", sagte Andrea wieder etwas leiser, damit die junge Kollegin nichts davon mitbekam. Jenny schaute nicht zu Andrea herüber, sie war momentan gefangen in ihrer Welt. Sie machte sich Gedanken um Kevin, sie hatte die schrecklichen Minuten mit Mark Schneider noch im Kopf und versuchte diese Gedanken krampfhaft zu verdrängen. Sie wollte im Moment auch nicht viel Kontakt zu Kevin, weil sie selbst mittlerweile glaubte, dass er Schneider getötet hatte, auch wenn sie es nicht glauben wollte. Sie erschrak bei dem Gedanken, dass es sie nicht störte, dass jemand dieses Schwein um die Ecke gebracht hatte, aber sie wollte nicht dass Kevin sein ganzes Leben ruinierte, sie wollte nicht dass er sich eigenmächtig einmischt... sie wollte einfach nicht darüber nachdenken und sich von allem ablenken. Schneider, Kevin, dem ganzen Abend...
    "Weiß Jenny schon davon?", fragte Semir. Andrea drehte den Kopf kurz zu der jungen Polizistin, bevor sie antwortete: "Ich glaube nicht. Also, sie macht nicht den Eindruck. Sie versucht sich von allem abzulenken, stürzt sich in die Arbeit und redet ziemlich wenig." "Sag ihr erstmal nichts... sie wird es wohl über das Intranet früh genug erfahren.", sagte ihr Mann, wobei die Sekretärin ihm recht gab. "Was ist mit der Chefin?" "Der sagst du auch nichts, die wird es auch früh genug erfahren. Bis später." Semir legte auf und blickte kurz zu Ben, der völlig fertig aussah... immerhin war er mit Kevin befreundet, auch wenn sie sich ein wenig entzweit hatten nach dem Streit.

    Semir zog auf der Landstraße, als hinter ihm niemand fuhr und ihm auch auf der Gegenspur niemand entgegenkam, die Handbremse um den Wagen umzudrehen und zurück zur Innenstadt zu fahren. "Wir hören uns das mal selbst an von Plotz.", meinte Semir vorsichtig, auch wenn er vieles aus der Akte schon kannte. Ben nickte Semir dankbar zu. Für ihn stand es völlig ausser Frage, Kevin da raus zu holen. Er war, wenn auch nur für wenige Tage, sein Partner und war in einem Moment, in einer Situation da, als Ben ihn brauchte. Das würde er Kevin niemals vergessen. Ausserdem hatte er den Killer seiner Schwester verschont, um ihm das Leben zu retten und Ben würde sich gerne revanchieren. "Wir müssen ihn da rausholen.", sagte er entschlossen, und blickte geradeaus. Semir sah ihn von der Seite an, und bremste ihn ein: "Wir hören uns erstmal alles an." Semir war nicht so überzeugt wie sein junger Partner und dachte etwas rationaler. Alle Indizien sprachen gegen den suspendierten Polizisten, und Semir kannte Kevin mittlerweile ebenfalls. Ben hatte ihm erzählt, wie er Kevin auf dem Dach der Fabrik beobachtete, die Waffe auf den Mörder seiner Schwester richtend und Entschlossenheit zeigend. Er hätte ihn eiskalt umgebracht, Kevin kam von der Straße und musste lernen, keine Skrupel zu zeigen. Es erschrak den erfahrenen Autobahnpolizisten ein wenig, aber er würde es absolut für möglich halten dass Kevin Jenny's Peiniger getötet hatte, vor allem weil er die Schlagkunst kannte. Aber er sprach es erstmal nicht aus...

    Naja, so lange ist das nicht her, denn zu Beginn fragen sie doch ob das "Papas neuer Partner" ist. Vielleicht hat Semir ihnen einfach gesagt, dass sie ihm das schenken sollen.

    Hoffe, Alex geht es bald besser, und er kann wieder mit Semir ermitteln.

    Dienststelle - 8:00 Uhr

    Ben war ausnahmsweise mal vor Semir im Büro. Pünktlichkeit gehörte nämlich nicht zu den Stärken des jungen Polizisten, und so war er es, der diesmal Kaffee für seinen Kollegen kochte. Sonst stand der immer schon bereit, wenn Ben langsam ins Büro eintrudelte. Sein Partner kündigte sich diesmal unorthodox an - durch ein lautes Türenknallen auf dem Parkplatz und den aufgeregten Stimmen von ihm und seiner Frau Andrea. "Da fragt man dich einmal was, und bekommt keine gescheite Antwort.", meckerte der Polizist lautstark und bekam prompt Kontra von Andrea: "Ich habe dir einmal gesagt, dass ich dir nichts davon erzähle, und das gilt beim zweiten und dritten Mal auch noch." Auweia, dachte Ben... scheinbar war sein Freund beim vorsichtigen Nachfragen nach dem, was gestern Jenny vorgefallen war nicht erfolgreich gewesen, und noch dazu zu ungeduldig.
    Der Polizist spähte durch die Glasscheibe und sah, wie Andrea zuerst ins Büro stapfte und Semir mit gehörigem Sicherheitsabstand dahinter. Beide wünschten den Kollegen einen guten Morgen, wobei man ihnen das "gut" nicht wirklich abnahm. Während Andrea ihre Tasche neben den Schreibtisch feuerte, tat Semir das mit der Bürotür gleich. Ben grinste ein wenig und meinte: "Hach... die Verhöre meines Partners werden immer erfolgreicher." Semir konterte im gleichen Atemzug: "Und die Sprüche meines Partners immer dummer.", bevor er sich in seinen Drehstuhl fallen ließ. "Du solltest Andrea nur mal vorsichtig fragen, ob sie dir etwas erzählt, und nicht gleich deine Ehe aufs Spiel setzen." Ben's Befürchtung war nicht ganz ernst gemeint, als er sich etwas nach vorne beugte und zwischen Monitor und Aktenstapel zu Semir hindurch sprach. Der winkte ab und nahm einen dankbaren Schluck schwarzen Kaffee, der vor ihm auf dem Tisch dampfte. "Ich hab sie einmal gefragt..." "Ja, das kenne ich bei dir. Einmal, und noch ein weiteres Mal, und noch ein weiteres Mal...", witzelte Ben und kannte die Vehemenz und Sturheit seines Partners, wenn der etwas wissen wollte, und anderen Leuten damit auf den Wecker ging. "Ja, schon gut, vielleicht wars auch zwei, oder dreimal. Jedenfalls hat sie nichts gesagt, kein Sterbenswörtchen. Jenny würde es uns erzählen, wenn es an der Zeit ist." Sein Partner nickte, aber natürlich war er nicht zufrieden. Sie tappten weiter im Dunkeln, und nun würde ihnen wohl ihr guter Freund Hartmut helfen müssen.

    Der Mann mit den etwas längeren Haaren griff zum Telefon und wählte die Nummer der KTU. Hartmut, als Computergenie bekannt hatte auch aushilfsweise die Administration des Polizeinetzwerkes übernommen, und stand bei Problemen der IT-Abteilung mit Rat und Tat zur Seite. Er konnte somit Berechtigungen auf Bereiche auf den Polizeiservern verteilen, und um diesen Gefallen wollte Ben ihn gerade bitten. "Hallo Hartmut, altes Genie.", begrüßte er den rothaarigen Polizeibeamten, der für den Einsatz auf der Straße allerdings denkbar ungeeignet war. "Na Ben. Habt ihr was für mich?", fragte der arbeitswütige Mann und lachte. "Ja, ich hab ein Anliegen. Ich bräuchte mal kurz Zugriff auf die Dateien der Mordkommission.", meinte der junge Polizist mit Engelszungen. "Kein Problem, Ben. Schick mir einfach das benötigte Zugangsformular, das von eurer Chefin unterschrieben ist übers Fax, und ich machs sofort." Ben strich sich grinsend mit den Fingern über die Lippen. "Ja... das Formular. Weißt du, Hartmut... ich habs verlegt. Ich kanns auf meinem Schreibtisch einfach nicht mehr finden." Semir beobachtete seinen Partner, der ihm zu zwinkerte, und grinste. Ben schaftte es mit Leichtigkeit Semirs schlechte Laune über den kleinen Streit mit Andrea zu vertreiben. "Ja und? Dann druck halt ein Neues aus.", klang Hartmuts Stimme aus der Hörmuschel. "Na klar... aber du weißt doch.... unsere Chefin. Wenn die so drauf ist wie heute...", meinte er mit gespielt weinerlicher Stimme "und ich komme zweimal wegen dem gleichen Formular zu ihr... weißt du was dann passiert? Die macht mich glatt einen Kopf kürzer... und das willst du doch nicht?" Fast konnte er das Augenrollen von Hartmut hören. "Ihr habt also kein Formular, und die Chefin solls auch nicht wissen." "Ich höre mich nicht "Nein" sagen.", grinste der Wuschelkopf. "Oh Mann, wegen euch krieg ich irgendwann auch noch an den Karren gefahren." "Im Zweifel von uns auf dem Parkplatz, Hartmut.", rief Semir, der Bruchstücke über die laute Hörmuschel mitbekam. Ben hörte das schnelle Klicken auf Hartmuts Tastatur. "Eine Viertelstunde hast du Zugriff... nimm dir was du brauchst, und mich hast du nie angerufen." "Danke Einstein.", sagte Ben freudig, und verabschiedete sich.

    Nur Minuten später klickten sich die beiden Polizisten durch die Ordnerstruktur der Mordkommission... das hieß, Ben klickte und Semir saß schräg mit der Tasse in der Hand hinter ihm, und sah gespannt auf den Monitor. Ben sortierte die Ordner nach Datum, der letzte Ordner hieß "Mordfall Mark Schneider." Mehrere Tatortberichte, Bilder eines übel zugerichteten Mann, der auf dem Boden seiner Wohnung lag, um ihn herum viele kleine Glasscherben. Blutergüsse, Platzwunden im Gesicht, eine Augen etwas zugeschwollen. "Schau mal auf die Gesprächsprotokolle.", meinte Semir und zeigte mit dem Finger auf mehrere Dokumente. "Anruf von der Sitte.", war eins gekennzeichnet, dass Ben jetzt öffnete. Als die beiden es stumm betrachteten und den Text lasen, wurden ihre Augen größer, und der Mund öffnete sich vor Entsetzen. "Ach du heilige Scheisse...", murmelte Ben, während Semir sich die Hand vor den Mund hielt. Der schlimmste Fall, über den sie sich gestern unterhalten hatten, war tatsächlich eingetreten. Die Sitte hatte sich bei der Mordkommission gemeldet, nachdem der Mord im Polizei-Netzwerk bekannt wurde und berichtete, dass erst am Morgen eine Kollegin, eine gewisse Jenny Dorn Herr Schneider wegen einer Vergewaltigung angezeigt hätte. "Hinweise auf Motiv.", stand da, was aber mit nachträglichen Notizen in dem Programm bereits geändert wurde. "Alibi", stand da. "Deswegen waren die beiden gestern da. Die dachten, Jenny hat den Kerl umgebracht.", murmelte Semir, der sah wie Bens Entsetzen in Wut umschlug. "Schade, dass jemand schneller war als wir.", knurrte er mit dem Hintergedanken, dass diese Drecksau ihrer Kollegin etwas angetan hatte. Sie klickten sich durch weitere Akten, erfuhren dass der Tote Kommissarsanwärter war, gestern morgen zwischen 10 und 12 Uhr gestorben war. Die Kopfverletzungen waren äusserlich zwar schwer, aber nicht lebensbedrohlich. Gestorben war er durch einen gezielten Schlag auf die Brust, dabei stand ein Fachbegriff "Dianxue". "Hey, davon hat mir Kevin mal erzählt.", meinte Ben völlig ohne Hintergedanken, während Semir weiterlas und unbeeindruckt sagte: "Und scheinbar hat Jenny Kevin von der Vergewaltigung erzählt." Bens Gesichtsausdruck entglitt ein zweites Mal, und er hatte plötzlich das Gefühl, dass die Temperatur im Raum anstieg. "Um Gottes Willen...", sagte er leise, und beide Polizisten hatten den gleichen Gedanken.


    Kevin's Wohnung - gleiche Zeit

    Kevin wollte Jenny Zeit lassen... er wollte sich ihr nicht aufdrängen, ständig anrufen und bei ihr sein. Er entschloß da zu sein, wenn sie ihn brauchte... nicht mehr. So ging er gestern abend wieder seinem Fall nach, doch wirklich neue Erkenntnisse brachten ihm das rumhängen in Szenediskotheken nicht wirklich, ausser einem dicken Kopf vom Alkohol. Der war auch jetzt noch nicht abgeklungen, als es an der Wohnungstür von Kalle, die schon in ihrem Klub war, klingelte und ein etwas schlaftrunkender Kevin in Shorts und Shirt die Tür öffnete. Er staunte nicht schlecht, als er seinen alten Kollegen Plotz vor sich stehen sah, flankiert von einem schlanken Typ mit Hornbrille und zwei uniformierten Beamten. "Was willst du denn hier?", fragte er mit seiner monoton wirkenden Stimme und ablehnendem Gesichtsausdruck. Plotz war einer der Kollegen, die die meisten Vorurteile gegen den jungen Polizisten hatte. Anders als die anderen allerdings sprach er sie offen aus. "Dürfen wir reinkommen?", fragte Plotz erst gespielt höflich. Kevin wollte seinen Fall nicht unnötig gefährden, sah die beiden Polizisten im Hintergrund misstrauisch an und gab dann aber den Weg frei... er wusste selbst, wie einfach es für einen Verbrecher sein konnte, wenn er kooperierte. Die kleine Gruppe ließ sich im Wohnzimmer nieder und Kevin zündete sich eine Zigarette an.
    "Also, was verschafft mir das zweifelhafte Vergnügen?", meinte er beinahe gelangweilt, obwohl er ein extrem ungutes Gefühl hatte... die Mordkommission kam meistens nicht ohne Grund bei jemandem zu Hause vorbei. "Ist dir ein Mark Schneider bekannt?", fragte Plotz gefährlich freundlich und dem jungen suspendierten Polizisten war klar, dass früher oder später die Polizei wegen seinem Besuch auftauchen würde... aber so früh hatte er nicht damit gerechnet. "Ja.", sagte er einsilbig. "Und woher?" Beinahe provokant zog Kevin erst noch an seiner Kippe und blies den Rauch in Plotz' Richtung im Wissen, dass der sich damals bereits über Kevins Raucherei beschwert hatte. "Das Schwein hat eine Kollegin von mir vergewaltigt. Das solltet ihr doch wissen." "Ach Kevin... wir wissen so einiges.", meinte der Mordkommissar seelenruhig ohne sich vom Rauch aus der Ruhe bringen zu lassen.

    Langsam, mit einem Blick in sein Notizbuch, fuhr er fort. "Eine Zeugin hat dich gestern bei Schneider vor der Wohnung gesehen." Kevin zuckte mit den Schultern. "Ja und?" "Was wolltest du dort?" Mit hochgezogenen Augebrauen, die Stirn in Falten gelegt, blickte Kevin zwischen den beiden Ermittlern hin und her. "Was zum Teufel hat euch das zu interessieren?", fragte er provokant. Plotz beugte sich ein wenig nach vorne: "Pass mal auf mein Junge... es reicht schon, dass du eine Schande für die gesamte Kölner Polizei bist. Aber wenn du mir nicht ganz schnell meine Fragen beantwortest, dann werden dich die netten Kollegen mit aufs Revier nehmen... und dann machen wir das mal wie große Jungs... nach der ersten Untersuchungshaft." Die Blicke der beiden hätten töten können, als sie sich gegenseitig anstarrten, und Kevin erinnerte sich daran, dass er Bienert nicht enttäuschen durfte, und die Chance auf seinen Job wäre er bei Knast definitiv los gewesen. "Ich wollte ihn zur Rede stellen." "Wieso? Bist du neuerdings bei der Sitte? Und stand dir die Kollegin etwa ein wenig...", Plotz grinste dreckig. "näher?" Der suspendierte Polizist musste sich anstrengen, ruhig zu bleiben. Geräuschvoll zog er Luft durch die Nase, schwieg und merkte dass es Plotz Freude bereitete, den reizbaren Ex-Kollegen zu provozieren. "Also... hast du ihn zur Rede gestellt?" "Nein... er war nicht da.", sagte Kevin und der Mordermittler zog gespielt die Brauen nach oben. "Ach, er war nicht da...", wiederholte er schmunzelnd.
    Einer der uniformierten Kollegen kam aus dem Nebenraum... Kevin hatte gar nicht bemerkt, dass er sich während des Verhörs ein wenig umgesehen hatte. Jetzt hatte er ein Buch in der Hand und hielt es seinem Chef hin, der zugriff. "Das haben wir gefunden." "Sag mal, habt ihr den Arsch offen? Habt ihr überhaupt nen Durchsuchungsbeschluß.", rief Kevin gereizt in Richtung des uniformierten Kollegen, und stand aus dem Sessel auf. "Fürs Umsehen brauchen wir keinen Beschluß.", wiegelte Plotz ab, während er den Titel des Buches las. "Kampfkunst Dianxue", stand darauf, und der Polizist grinste zufrieden. Dann blickte er wieder zu Kevin, der immer noch vor dem Sessel stand. "Er war also nicht zu Hause?", wiederholte er, und stand ebenfalls auf, um mit Kevin auf einer Höhe zu sein... was nicht ganz gelang, denn Kevin war ein wenig größer als Plotz. Der wiederrum griff blitzschnell zu Kevins Hand, und betrachtete einen verkratzten und bläulich gefärbten Handrücken und Fingerknöchel. "Und da bist du draufgefallen, oder was?", meinte er mit etwas lauterer Stimme. Mit einem Reflex zog Kevin die Hand zurück... "Was wollt ihr Vögel eigentlich hier?", rief er, denn immer noch nicht hatten die Mordermittler gesagt, warum sie eigentlich bei Kevin auftauchten. Jetzt aber ließ Plotz die Katze aus dem Sack: "Keivn Peters, du bist wegen des dringenden Tatverdachts des Mordes an Mark Schneider vorläufig festgenommen." Man konnte dem älteren Mann die Genugtuung förmlich ansehen, als die uniformierten Beamten Kevin die Handschellen anlegten.

    Raststätte - 19:30 Uhr

    Trotz dass die Stimmung in der Dienststelle sehr düster war, verspürten die beiden Kommissare ein unbändiges Hungergefühl. Beide hatten keine große Lust, einfach alleine nach Hause zu fahren, und so fuhren sie gemeinsam zu ihrer Stamm-Raststätte an der Autobahn. Diese war nicht nur bekannt für eine besonders gute Currywurst, sondern Inge, die rundliche Besitzerin, zauberte auch knackige Salate und knusprige Schnitzel. Ben und Semir gingen hier gerne ein und aus, und Inge begrüßte sie mit freundlichem Lächeln. Während der ältere Polizist in letzter Zeit sehr auf seine Figur achtete und heute nur einen großen Salat bestellte, orderte Ben für sich eine doppelte Portion Currywurst mit Pommes. "Ich würde echt gerne wissen, wo du dir das alles hinsteckst...", meinte Semir und betrachtete seinen Freund von der Seite. Ben war schlank und hatte, trotz seines üppigen Appetits und seiner nicht gerade gesunden Ernährung nicht ein einziges Fettpölsterchen zu viel, obwohl er keine Sportskanone war. Sie setzten sich an ihren Stammtisch und begannen, zunächst schweigend, zu essen.
    Irgendwann meinte Ben: "Was denkst du... was hatte das alles zu bedeuten. Die Mordkommission, Jennys Zustand und die Tatsache, dass die Chefin uns nichts erzählen möchte." Semir kaute auf einigen Salatblättern, er nutzte die Zeit um über eine Antwort nach zu denken. Aber ausser einem Schulterzucken kam erst einmal keinerlei Antwort heraus. "Ich dachte ja, die ganze Zeit, es ist wegen Kevin. Während du auf Gran Canaria warst, kam es mir vor als wären die beiden sich näher gekommen.", vermutete der junge Polizist, und vertilgte ein weiteres Stück seiner Currywurst. "Und du hattest ihren Blick ja gesehen, als Kevin abgeführt wurde."

    Semir schüttelte den Kopf. "Es muss etwas Größeres sein... etwas schlimmeres. Sie war noch einmal verändert zwischen dem Einsatz und gestern.", sagte er bestimmt. Dabei stocherte er in den Salatblättern herum, bis Ben versuchte, die Stimmung ein wenig zu lockern. "Was ist... suchst du denn Geschmack?" Semir grinste zuerst und schüttelte dann den Kopf. "Ne... Kidneybohnen. Sind keine drin." "Na, das ist doch mal ein dicker Hund.", spielte sein Freund übertrieben empört. Semir war froh, Ben als Partner zu haben. Sie kannten sich mittlerweile so lange, dass jeder genau wusste, wann der andere ein wenig Aufheiterung gebrauchen konnte. "Naja, was machen wir jetzt?", fragte der erfahrene Polizist dennoch wieder ein kleines bisschen ernster. "Was? Mit dem Salat oder Jenny's Fall?" "Mit Jenny's Fall natürlich." Semir legte den Kopf schief. "Das Gleiche, wie mit dem Salat. Drin rumstochern." Auch Ben lächelte und nahm einen Schluck aus seiner Cola-Flasche.
    Semir legte die Gabel neben seinen Teller, und dachte nach über das, was die Chefin gesagt hatte. "Wenn sie es wüssten, würden sie es auch nicht erzählen.", sprach er ihren Satz laut nach, und sah Ben dabei an. Sein Gesicht war wieder ernst, denn eine kleine Vorahnung, ein ungeheuerlicher Verdacht regte sich in ihm. "Was würdest du unter keinen Umständen anderen erzählen wollen, was dich so sehr aus der Bahn wirft als Frau." Dieser Hinweis, verbunden mit dem ernsten Gesicht gab Ben sofort einen Hinweis auf die Gedanken seines Partners. "Du meinst... vielleicht... nein..." Der junge Polizist wollte das selbst nicht glauben, aber Semir nickte düster. "Ich kann mir schon vorstellen, dass man so etwas nicht einfach mal erzählt... selbst wenn man will, dass jemand hilft." Ben sah auf seinen Teller, ließ die Gabel in die Soße fallen und schon das Besteck von sich weg. "Ich bin satt.", murmelte er ein wenig geschockt.

    "Nehmen wir nur mal den schlimmsten Fall an... Jenny wurde tatsächlich... vergewaltigt.", wagte Semir es letztendlich die Worte auszusprechen. "Wir hatten den Einsatz, und am nächsten Tag war sie vollkommen aufgelöst." Ben folgte seinem Partner auf dessen Gedankengang, als er merkte dass Semirs Augen plötzlich größer wurden. "Wenn sie wirklich engeren Kontakt zu Kevin hatte... meinst du, sie wäre abends zu ihm gefahren nach der Nummer bei uns auf dem Revier?" Ben zuckte mit den Schultern. "Das kann möglich sein. Vielleicht... moment mal." Er stockte, als könne er Semirs Gedanken lesen. "Das glaubst du doch nicht im Ernst?" Als Semir seine Gedanken nicht sofort verneinte, und eher den Kopf unentschlossen hin und her wog, wurde Ben lauter und seine Stimme empört: "Hast du was am Schwimmer? Kevin hat schon viel Scheisse gebaut, aber der würde doch niemals..." "Schon gut, schon gut.", unterbrach Semir seinen aufgebrachten Partner und hob beschwichtigend beide Hände. "War ein blöder Gedanke... tut mir leid." Der Gesichtsausdruck des aufgebrachten Kommissars beruhigte sich nur langsam. Was für ein absurder Gedanke... Ben kannte Kevin, niemals würde der sich an einem Mädchen, das ihm wichtig war, vergreifen. Er mochte Drogen nehmen, und früher krumme Dinger gedreht haben, aber sowas... Nein!
    "Die Frage ist doch auch...", meinte Ben beinahe schon wieder versöhnlich, nach einer kurzen Stille, "was die Mordkommission bei uns zu suchen hatte? Bei Vergewaltigungen ermittelt doch normalerweise die Sitte, und nicht die MoKo." Auch diese Frage wussten die beiden Polizisten nicht zu beantworten.
    "Wir spekulieren hier nur... und wissen eigentlich gar nichts.", resignierte Semir ein wenig zerknirscht und leerte seinen Teller mit einem Stück Brot. "Ich frage heute abend mal Andrea... vielleicht weiß sie was, sie war auch heute morgen mit Jenny unterwegs." Ben nickte zustimmend und fügte hinzu: "Und Einstein soll mal in die Dateien der Mordkommission gucken, der hat doch überall Zugriff. Mal schauen, woran Kommissar Kotz und sein Dackel gerade arbeiten." Sie beschlossen, Jenny keinesfalls im Stich zu lassen, selbst wenn ihre junge Kollegin verständlicherweise nichts erzählen wollte.


    Jenny's Wohnung - 19:45 Uhr

    Die Fahrt von der Dienststelle zu Jennys Wohnung verlief ziemlich deprimierend. Die junge Frau saß zusammengesunken auf dem Beifahrersitz und nur kleinere leise Schniefgeräusche waren von ihr zu hören. Andrea saß neben ihr, und es brach ihr beinahe das Herz, die sonst lebensfrohe Jenny so leiden zu sehen. Bis zur Wohnung wechselten die beiden Frauen kein Wort. Angekommen nahm Andrea sofort wieder Jennys Hand, führte sie die Treppen hinauf und sperrte für sie die Wohnungstür auf. "Möchtest du vielleicht einen Tee?", fragte Semirs Ehefrau voller Fürsorge, und wartete die Antwort gar nicht erst ab. Sie setzte Wasser im Wasserkocher auf und fand in den Schränken Tasse und einen Tee, der eine beruhigende Wirkung hatte. Jenny ließ sich auf das Sofa fallen, nahm die Wolldecke zur Hand und umhüllte sich selbst darin. Sie konnte einfach nicht glauben, dass das wirklich passierte. Sollte Kevin wirklich ein Mörder sein? Wollte er nur deshalb die Adresse? Wo mag er jetzt sein?
    Andrea kam mit der Tasse Tee langsam zurück zum Sofa und reichte sie der, immer noch leise schiefenden jungen Frau, die ein leises "Danke" über die Lippen brachte. Sie spürte, wie Andrea sich dicht neben sie setzte, und sie leicht und sanft am Arm berührte. "Willst du... mir vielleicht erzählen, was die beiden Polizisten von dir wollten?", fragte sie zaghaft und vorsichtig, als würde sie versuchen einen Fuß nach dem anderen über eine wackelige baufällige Brücke zu setzen. Jenny hatte in die Sekretärin spätestens heute Morgen absolutes Vertrauen gefasst, und so begann sie langsam und stockend zu erzählen.

    "Ich... ich habe es gestern Nacht nicht mehr alleine hier ausgehalten.", begann Jenny langsam, ohne Andrea dabei anzublicken. "Also habe ich Kevin angerufen... er ist auch... direkt gekommen." Es war die erste Überraschung für die Sekretärin, denn Semir hatte ihr von dem Einsatz und vor allem Kevins verstörendem Verhalten erzählt. Insofern wunderte sie sich, dass er den Kontakt zu Jenny nicht auch verweigert hatte. Doch sie hörte zu, ohne Fragen zu stellen. "Ich hab ihm... alles erzählt. Und auch die Adresse von dem Typ genannt, der mich... der mich...", ihre Stimme stockte und sofort spürte sie die vertraute Hand an ihrem Arm. Ein Signal, dass Jenny den Satz nicht beenden müsse, und ein leises Lächeln von Andrea. "Die beiden Polizisten... sie haben gesagt, dass der Kerl ermordet wurde... heute vormittag. Sie... sie haben zuerst gedacht dass ich etwas damit zu tun hätte. Aber wir waren da gerade im Krankenhaus." In Andrea's Kopf begann sich ein Puzzle zusammen zu setzen. Sie kannte Kevin nicht so gut wie Semir, oder vor allem Ben. Aber ihr Mann hatte einiges über den Jungen erzählt. "Dann... dann haben sie mich gefragt, ob ich es jemandem erzählt hatte, und... und mir ist die Wahrheit rausgerutscht." Jenny spürte, wie sich erneut Tränen in ihre Augen bahnten und ein weiterer Weinkramp langsam ihre Kehle nach oben arbeitete. "Und dann soll auch noch jemand an dem Tatort eine Personenbeschreibung abgegeben haben, die auf Kevin passt.", schluchzte die junge Frau.
    Andrea begann zu verstehen. Die Vergewaltigung nahm Jenny extrem mit, es war das Schlimmste was einer Frau passieren konnte. Dass offenbar Kevin die Sache selbst in die Hand genommen hatte, belastete Jenny zusätzlich. "Aber er hat ihn nicht umgebracht... sowas... sowas würde er nicht tun. Er ist doch immer so ruhig... so ruhig als würde ihn nichts erschüttern. Auch, als ich ihm alles erzählt hatte."

    Die Sekretärin sah Jenny ein wenig mitleidig an. Sie würde so gerne sagen, dass sie recht hatte, und dass sie Kevin so etwas nicht zutraute, doch Andrea wusste es besser. "Andrea... bitte sag mir, dass er so etwas niemals tun würde." Sie seufzte auf, als aus Jenny ein weiterer Weinkrampf herausbrach, und sie nahm die junge Frau zärtlich in die Arme. Es dauerte ein wenig, bis ihr Schluchzen wieder leiser wurde, und Andrea leise sprach: "Ich kenne Kevin nicht so gut wie Semir... aber Semir hat mir erzählt, dass Kevin den Mörder seiner Schwester eiskalt erschossen hätte, wenn er nicht gerade Ben das Leben gerettet hätte. Ben hatte später zu Semir gesagt, dass er sicher sei, Kevin hätte abgedrückt." Andrea flüsterte beinah und konnte fast spüren, wie Jennys Hoffnung langsam bröckelte. Kevin war am Tatort, er hatte eine Motiv... er hatte eine Vorgeschichte. Nein, das konnte alles nicht wahr sein. "Ich weiß wirklich nicht, wie er reagieren würde, wenn er vor dem Kerl steht, der dir das angetan hat, Jenny." Die beiden Frauen lösten die Umarmung, und sogar Andrea wurde langsam ein wenig mulmig, als sie in die völlig geröteten Augen von Jenny sah, die jetzt ein wenig an der Ehefrau von Semir vorbeisahen. War Kevin wirklich ein Mörder? Jennys Bild bröckelte... sie versuchte sich zu erinnern, sein Gesichtsausdruck, als sie es erzählte. Dieser kalte Blick für einen Moment, dieses Zittern... je mehr sie nachdachte, desto mehr glaubte sie, sich einzubilden, wie mühsam es für den Mann war, seine Wut nicht zu zeigen. Er hatte es tatsächlich getan, dachte Jenny. Die vorherige Überzeugung schwand, und Andrea fielen in diesem Moment keinerlei Worte ein, die Jenny in irgendeiner Form Trost gegeben hätten, ausser ein "Es tut mir so leid...."

    Dienststelle - 18:15 Uhr

    Jennys Atem wurde schneller, als würde sie rennen, und nun begriff sie auch, weshalb sie nach dem Alibi befragt wurde. Und ihre steigende Nervosität ließ sie natürlich noch weiter verdächtig erscheinen lassen. "Und... was... was hab ich... ich damit zu tun?" Plotz war ein schlechter Schauspieler und konnte die erste Enttäuschung nicht verbergen. Er hoffte, das naheliegendste wäre eingetroffen, und das Opfer hätte sich am Täter gerächt. Nun gab er den verständnisvollen Polizisten, was sogar die Chefin zu einem genervten Augenrollen veranlasste. "Frau Dorn, wir sind ganz am Anfang der Ermittlungen. Nach dem ersten Kenntnisstand haben wir erfahren, dass das Opfer von ihnen angezeigt wurde, und deshalb wollten wir zuerst mit ihnen sprechen." Jenny nickte nervös, sie war nicht in der Lage die Worte von Plotz richtig zu deuten, sie war einfach froh für eine Antwort.

    "Haben sie jemandem, der ihnen nahe steht von der Vergewaltigung erzählt?", fragte Kühne plötzlich und war ein wenig von Plotz' Blick erschrocken. Scheinbar war der es nicht gewohnt, dass sein junger Kollege selbst Fragen stellte. Er hob entschuldigend die Schultern. "Vielleicht eine Stellvertretertat, Chef." Plotz nickte versöhnlich und blickte dann zu Jenny, die stocksteif, kreidebleich auf ihrem Stuhl verharrte. Sie keuchte, als sei sie auf einem Laufband, sie spürte wie ihr der Schweiß den Nacken herunterlief. Auch die Chefin schaute sie an, und sie verstand im Gegensatz zu ihrer jungen Mitarbeiterin, worauf die Kommissare hinaus wollten. Jenny selbst kämpfte gerade mit ihren
    Gedanken, einer Mischung aus Schock und Befürchtung... Konnte Kevin wirklich so etwas getan haben? Er hatte ihr alles über sich erzählt... sein Trauma mit seiner vergewaltigten Schwester, der unbändige Wille den Killer zu töten, was letzendlich nur Bens Lebensgefahr damals verhindert hatte. Ihre Gedanken flogen durcheinander, nicht ein einziger davon war klar und greifbar. Und sie erschrak selbst dabei, als sie vor sich die kalt blickenden blauen Augen von Kevin sah, die ihr gestern abend in ihrem Leid gar nicht aufgefallen waren, dass sie es ihm tatsächlich zutraute. Dass er Mark Schneider niederschlug, auf ihn eintrat für das, was er Jenny angetan hatte, bis er sich nicht
    mehr rührte. "Frau Dorn, haben sie die Frage meines Kollegen verstanden?", wiederholte Plotz, strenger und ungeduldiger. "Ich... ich...", stotterte Jenny hilflos und schaute die Chefin verzweifelt an. Auch begann sie wieder zu zittern und klammerte die Hände so fest um die Lehne, dass ihre Knöchel weiß wurden.

    Die Chefin griff ein, als sie sah, wie sehr die junge Frau eingeschüchtert war. "Ich glaube, wir sollten die Sache jetzt abbrechen, meine Herren.", sagte sie laut und stand auf. "Frau Engelhardt...", begann Plotz genervt, denn er war nicht gut auf die Chefin zu sprechen, die ihm vor 9 Monaten einen Fall weggenommen hatte. "Dies sind unsere Ermittlungen. Und unsere Befragungen sind dann zu Ende, wenn wir es für richtig halten." Anna Engelhardt kniff die Augen zusammen, wie sie es immer tat, wenn es jemand wagen sollte, sich mit ihr anzulegen. Wenn Blicke töten könnten, wäre ein Doppelmord an Kühne und Plotz der nächste Fall für die Mordkommission. "Es ist jetzt geklärt, dass Frau Dorn ein Alibi hat. Und somit sitzt sie hier nicht als Angeklagte, sondern nach wie vor als ein Opfer einer Vergewaltigung. Und dementsprechend verlange ich, dass sie ausschließlich von GESCHULTEN Kommissaren der Sitte befragt wird, die wissen wie man mit einem Opfer einer Vergewaltigung umgeht, Herr Klotz." Plotz' Gesichtsfarbe wechselte ins Rötliche, als die Chefin seinen Namen absichtlich falsch sagte, er hasste es von dieser Frau vorgeführt zu werden. "Es geht hier um einen Mordfall, Frau Engelhardt. Ich kann verstehen, wenn sie als Chefin von ein paar Asphaltcowboys das nicht verstehen.", blaffte er abfällig, während sein jüngerer Kollege eifrig nickte. "Oder Kriminelle bei sich arbeiten lassen.", spielte er auf Kevins Suspendierung an, wobei ihm sein Denkfehler sofort auffiel. Die Chefin lächelte süffisant, und sagte souverän, ohne die Stimmlage zu heben: "Bevor ihrem Kollegen der Kopf vom Nicken abfällt, sollten sie ihn vielleicht mal über seinen Vorgänger aufklären."

    Jenny rührte es, dass die Chefin sich für sie einsetzte, doch ihr war der Streit unangenehm. Nur mühsam versuchte sie einen Gedanken zu fassen, doch sie konnte sich nicht kontrollieren. Wäre sie vollkommen bei Sinnen gewesen, hätte sie Kevin vermutlich geschützt, doch als sie das Wort Kriminellen hörte, und die Intention deutete, denn Kevin hatte vorgestern auch von Plotz erzählt, sagte sie: "Er ist nicht kriminell... er hat das nicht getan." Wie auf Kommando wurde sie von sechs Augenpaaren angesehen. "Wer hat das nicht getan, Frau Dorn?", fragte Plotz heimtückisch fürsorglich, obwohl er die Antwort fast schon kannte. Anna Engelhardt schaute Jenny mit großen Augen an, auch sie vermutete bereits, befürchtete bereits noch bevor ihre junge Mitarbeiterin redete. "Ich... ich habe es gestern Kevin erzählt. Aber... aber er war es nicht. Ganz sicher." Doch so sicher, wie sie es beteuerte klang weder Jennys Stimme, noch war sie im Innersten überzeugt. Die Angst vor der Wahrheit verhinderte sogar einen weiteren Weinkrampf, der Klammergriff um die Stuhllehne ließ sie nicht los. "War er denn heute morgen bei Ihnen?" Verzweifelt, innerlich zerissen schüttelte Jenny den Kopf, die Chefin strich sich mit der Hand durch das Haar. Sie dachte rational, nüchtern aus der Sicht einer Polizistin. Wenn sich Kevin und Jenny wirklich nah standen, hatte der suspendierte Polizist ein perfektes Motiv. Dazu kam seine Vorgeschichte um seine Schwester, die Frau Engelhardt bestens kannte.
    Die kurze Stille wurde von einem Klingeln durchbrochen, Plotz griff in seine Jackentasche und nahm ein altmodisches Handy heraus. "Ja? Habt ihr die Nachbarn befragt? Hmm... ja... wirklich? Das ist interessant. Warte kurz..." Er lächelte überheblich, beinahe siegessicher als er an dem Handy den Lautsprecher anschaltete, damit alle im Raum etwas davon hatten.

    Aus dem Handy erklang die Stimme eines Ermittlers. "Die Frau unter dem Toten hat einen Mann nach oben gehen sehen, und danach gehört, wie er laut gegen die Tür von Schneider gehämmert hat. Sie konnte ihn beschreiben, und würde ihn wieder erkennen." "Geb nochmal die Beschreibung durch." Die Chefin sah Plotz aufgrund dieser Show verständnislos an, begriff dann aber was folgte, was der Grund war, als er nach der Beschreibung fragte. "Zwischen 1m80 und 1m90 groß, kein Bart oder Schnurrbart, abstehende Haare, auffällige hellblaue Augen und er trug recht abgetragene Jeans. Sie hätte ihn von unten kurz beobachtet, und dann genau angesehen, als er die Treppen runterging." Plotz lächelte arroganz in die Runde, drückte die Freisprecheinrichtung schnell wieder weg, als Jenny laut und verzweifelt rief: "Nein! Das kann nicht sein! Er wars nicht!!" Ihre Stimme war sogar draussen zu hören, so dass Semir, Ben, Andrea und sogar Hotte und Bonrath überrascht in Richtung der gläsernen Trennwand blickten, und sich danach überrascht einander ansahen. Jenny konnte die Tränen jetzt nicht mehr zurückhalten, und begann zu weinen, doch der Mordermittler hatte kein Erbarmen. "Wo hält sich Peters jetzt auf?", fragte er mit harter Stimme, nachdem er sich von seinem Kollegen am Tatort verabschiedet hatte. Zur Antwort bekam er nur Kopfschütteln und herzzereissendes Schluchzen von dem hinter den zittrigen Händen verschwundenem Gesicht. "Frau Dorn! Wo hält sich Peters momentan auf?", wiederholte er strenger und lauter. Jetzt platzte der Chefin aber der Kragen, und erneut stand sie ruckartig auf: "ES REICHT! ENDGÜLTIG!", rief sie laut. "Die Befragung ist beendet. Sie verlassen jetzt, AUF DER STELLE diese Dienststelle, und seien sie sich sicher, dass ich mich über sie beide beschweren werde." Kühne schien sich augenblicklich in die Hosen zu machen und sah bereits seine tadellose Karriere gefährdet, doch Plotz war nicht beeindruckt von der Drohung. Mit einem Blick nach draussen, wo Semir und Ben bereits eindeutige Rausschmeisser-Blicke, mit vor der Brust verschränkten Armen, in Richtung der beiden Ermittler aussendeten, denn sie hatten den ärgerlichen Ausruf der Chefin ebenfalls gehört, stand Kevins ehemaliger Partner dann doch auf. "Wir kriegen schon raus, wo er sich verkriecht.", sagte er leise, beinahe gehässig zu dem weinenden Bündel, dass auf dem Stuhl zusammengekauert saß.

    Kaum waren Plotz und sein junger Kollege aus dem Büro der Chefin heraus, stand diese auf und legte sofort tröstend einen Arm um ihre junge Mitarbeiterin. Ben und Semir, die die beiden "Kollegen" der Mordkommission mit ihren Blicken beinahe umgebracht hätten, kamen ebenfalls sofort herein, wichen aber betreten etwas zurück, als sie die hemmungslos schluchzende Frau sahen und Anna Engelhardt, die neben ihr in die Knie ging, und sanft fürsorglich über ihren Kopf strich. So hart und unbarmherzig die Chefin sein konnte, wenn sie ihre Mitarbeiter vor anderen verteidigte, so einfühlsam konnte sie sein. "Ähm... können wir... helfen?", fragte Semir unsicher während sein Freund neben dran stand und ein sehr ungutes Gefühl in der Magengegend verspürte. Jennys Zustand war ihm natürlich auch gestern aufgefallen, jetzt war die Mordkommission da und sie bekam danach einen Weinkrampf... was ging hier vor? "Er wars nicht!", hatte Jenny laut geschrien. Hatte es mit Kevin zu tun? Bens Gedanken überschlugen sich, während die Chefin zu den beiden Männern aufsah, und kurz stumm nickte. Dann wandte sie sich wieder zu Jenny. "Frau Dorn... sollen Ben und Semir sie nach Hause fahren?" Jenny schüttelte den Kopf und schluchzte laut. Sie misstraute den beiden keineswegs, aber sie wollte einfach nicht noch jemandem von der Vergewaltigung erzählen, sie wollte nicht dass die ganze Dienststelle davon wusste.
    Anna Engelhardt blickte ein wenig hilflos, ihre Rettung kam mit Semirs Frau ins Büro geeilt. "Komm Jenny...", sagte Andrea, ebenfalls fürsorglich und fasste Jenny an der Hand, die langsam und zitternd aufstand. "Ich fahr dich nach Hause, okay?" Ohne Widerworte folgte Jenny ihr, sie konnt endgültig keinen klaren Gedanken mehr fassen, sie wollte einfach hier weg, alleine sein, sich am liebsten irgendwo verkriechen. Anna Engelhardt nickte ihrer Sekräterin dankbar zu, dass sie sich um Jenny kümmerte und sah ihr nach, als sie die junge Frau erst zu den Umkleidekabinen begleitete, und wenig später nach draussen führte.

    Tief durchatmend setzte sich Anna Engelhardt wieder an ihren Schreibtisch, als sie bemerkte dass Semir und Ben noch bei ihr im Büro standen. "Was kann ich für sie tun, meine Herren?", fragte sie in normaler Tonlage, als wäre nichts geschehen. Die beiden Polizisten sahen sich kurz verständnislos an, bevor Semir das Wort ergriff: "Naja Chefin... wir haben draussen schon mitbekommen, dass es bei diesem Gespräch nicht um die Bewirtung des nächsten Polizeiballs ging. Was war denn los?" Die Chefin lehnte sich in ihren Stuhl zurück, sah kurz zur Decke und atmete erneut tief durch. "Semir, ich weiß dass wir jetzt schon 17 Jahre zusammenarbeiten, und innerhalb der Dienststelle würde ich ihnen wohl alles anvertrauen, was vorfällt.", sagte sie ein wenig ausschweifend, bevor sie auf Ben blickte und hinzufügte: "Ihnen natürlich auch. Aber in diesem Falle..." sie verharrte kurz. Nein, sie würde es nicht erzählen. Zum ersten würde sie ihre Männer dazu verleiten, in einem Fall zu ermitteln, der sie auf Abteilungsebene nichts anging und zweitens würde sie kein so intimes Unglück wie eine Vergewaltigung weiter erzählen... auch nicht ihren engsten und vertrautesten Mitarbeitern. "kann ich ihnen dazu nichts dazu sagen. Das Gespräch war vertraulich." "Chefin, es wird nicht jeden Tag eine Kollegin von uns von der Mordkommission vernommen und zum Weinen gebracht.", bohrte Ben nach und erntete von seinem Partner ein eifriges Nicken. Ihre Vorgesetzte spitzte in ihrer typischen Art die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. "Tut mir leid, ich kann ihnen nichts sagen, bitte verstehen sie das. Der Fall geht uns sowieso nichts an. Fragen sie Jenny selbst, aber bitte: Nicht in den nächsten 1-2 Wochen. Haben sie mich verstanden?" Sie traute ihren Männern soviel Feingefühl zu, dass die nicht morgen schon Jenny mit Fragen löchern würden, aber trotzdem stellte sie die junge Mitarbeiterin unter persönlichen Schutz.
    Semir und Ben verstanden erst mal die Welt nicht mehr und fühlten sich wie ausgeschlossen. Semir lehnte sich auf den Drehstuhl, der vor Anna Engelhardts Schreibtisch stand. "Wenn es jemandem aus unserer Familie schlecht geht, wollen wir ihr ebenso beistehen, wie sie und Andrea auch. Und ihr helfen!" Seine Stimme war eindringlicher als zuvor, doch auch die Stimme seiner Chefin wurde schärfer, allerdings nicht strenger. "Glauben sie mir, Semir. Wenn sie es wüssten, würden sie es auch nicht erzählen." Für einen Moment blickten sich die beiden scharf an und Ben legte Semir die Hand auf die Schulter, um ihn ein wenig zu beruhigen. Dieser zog sich mit dem Oberkörper nun zurück, ein Zeichen der Aufgabe, als die Chefin dann, wieder mit ruhigerer und versöhnlicherer Stimme hinzufügte: "Fragen sie Jenny in ein paar Wochen. Wenn es ihr besser geht. Wir können momentan sowieso nichts tun." Kevin erwähnte sie absichtlich mit keiner Silbe. Sie traute dem jungen Mann nicht, und angesichts der Beweislage, die sie bisher kannte, sah es nicht gut für ihn aus, das wusste sie. Ausserdem würde sie für den suspendierten Polizisten keine Hand ins Feuer legen, dass er tatsächlich keinen Mord begehen würde...

    Sehr turbulenter Beginn, gut beschriebene Verfolgungsjagd, die aber teilweise etwas unübersichtlich wirkte. Wie weit sind die eigentlich durch die Siedlung gerannt, dass die Kollegen sie direkt fanden.

    Natürlich ein dramatisches Ende. Mal sehen wie schwer Alex verletzt ist.

    Dienststelle - 17:30 Uhr

    Sie hatte es überstanden. Das war der Gedanke, den Jenny den ganzen Arbeitstag mit sich herumtrug. Gegen späteren Vormittag waren sie beide aus dem Krankenhaus zurückgekehrt. Es hatte alles eine ganze Weile gedauert, die Vernehmung bei der Sitte, die anschließende Untersuchung bei einem Gynäkologen im Krankenhaus. Trotz, dass sich die Untersuchung nicht viel von der normalen Untersuchung bei Jennys Frauenarzt unterschied, war es ihr doch sehr unangenehm und peinlich, doch die Ärztin war freundlich und die junge Polizistin fasste schnell ein wenig Zutrauen. Die Frau in Weiß hatte sehr viel Erfahrung, hatte sie doch ständig junge Frauen bei sich in der Praxis, die Opfer einer Vergewaltigung wurden.
    Andrea reagierte auf Jennys Erzählungen im Auto erst geschockt, aber gefasst. Auch sie stellte nicht soviele Fragen, Jenny konnte frei erzählen und schaffte es diesmal erfolgreich, nicht wieder zu weinen. Doch um eines bat sie Andrea inständig. "Bitte bitte erzähl niemandem auf der Dienststelle davon. Auch nicht Semir. Ich will es so schnell wie möglich vergessen." Dabei drückte sie auf dem Beifahrersitz von Andrea's Auto fest die Hand der Sekretärin, die beruhigend nickte. "Kein Sterbenswörtchen.", versprach sie. Sie hatte zwar keine Geheimnisse vor ihrem Mann, aber dies war eine absolute Ausnahmesituation. Und ausserdem drehte sich das Geheimnis nicht um Andrea selbst, sondern um Jenny, die danach Andrea dankbar umarmte, und sich wieder etwas wohler fühlte. Es tat gut Menschen um sich herum zu haben, die ihr vertrauten und im Gegensatz zu Kevin fiel es der jungen Beamtin nicht schwer, sofort auch Vertrauen zu schenken und Vertrauen zu fassen.
    Bei der Untersuchung wartete Andrea auf dem Flur, und nahm Jenny sofort in die Arme, als sie sah dass die junge Kollegin gerötete Augen hatte. Sie konnte es einfach vor Scham nicht verhindern, doch sie war erleichtert, es hinter sich zu haben. Die Sitte versprach sich sofort um den Verdächtigen Mark Schneider, ein Polizei-Anwärter, zu kümmern und ihn zu Hause aufzusuchen.

    Semir und Ben hatten registriert, dass Jenny mit Andrea später auf die Dienststelle kam. Natürlich sprach der Polizist seine Ehefrau darauf an, doch die blockte sofort ab. "Das ist ein Frauending, davon verstehst du sowieso nichts.", witzelte sie. Normalerweise war ihr Mann dann soweit abgeschreckt, dass er weitere Fragen unterließ. Er lachte, küsste seine Frau auf die Wange und verschwand mit einigen Akten in seinem Büro, wo Ben mit zusammengeknüllten Papierbällen versuchte einen Korb zu treffen, der an der Wand hing. Mehrere Bällchen lagen schon auf dem Boden verstreut, den statt sie aufzuheben knüllte der Kommissar einfach neue zusammen. "Du weißt schon, dass das Innenministerium uns mittlerweile das Druckerpapier rationalisiert.", meinte Semir, als er die Tür hinter sich schloß. "Jap!", antwortete sein Freund und knüllte provokant das nächste Blatt Papier zusammen. Semir verdrehte spaßhaft die Augen, nahm aus seinem Schrank einen Flummi, den er von seiner jüngsten Tochter geschenkt bekam, und warf ihn Ben zu. Der fing den bunten Gummiball, versuchte zu treffen, verfehlte aber das Ziel. Immerhin sprang der Ball nun zu dem sitzenden Polizisten zurück. "Hey, cool.", meinte er, freudig wie ein kleines Kind und Semir lachte. "Spielkind."
    Der erfahrene Polizist war froh, dass Ben wieder etwas lockerer war. Seit der neuesten Begegnung mit Kevin war er schweigsamer, nachdenklicher. Er konnte sich einfach nicht von dem Gedanken befreien, dass er mitschuldig war an der Situation seines jungen Freundes, auch wenn er natürlich auf Semirs Worte diesbezüglich hörte. Doch Gedanken konnte man nicht einfach abschalten. Doch nun wurden diese erstmal von dem Ballspiel abgelenkt, als der Kommissar mit dem Wuschelhaaren einen Mann im Großraumbüro beobachtete, der ihm bekannt vorkam. Die dickliche Gestalt, das schüttere Haar, der watschelnde Gang. "Hey, das ist doch der Cheeseburger-Fan.", sagte er, und veranlasste Semir dazu, sich umzudrehen. "Tatsächlich." Auch er erkannte Erwin Plotz, ein älterer, wenig motivierter Ermittler der Mordkommission. Beide waren mit dem Mann zusammengeraten, als es um den Mordfall ging, in dem André scheinbar verwickelt war und damals war Plotz Kevins Partner... und hatte gegenüber seinem jungen Kollegen von der Straße so manche Vorurteile. Aber was wollte Plotz nach über einem Dreivierteljahr bei der Chefin?

    Wie auf Knopfdruck gingen beide Polizisten nach draussen und reihten sich hinter Andrea auf. "Du, hat der Typ da gesagt, was er will?", murmelte Semir leise in das Ohr seiner Ehefrau, die den Kopf schüttelte. "Nö... der war aber doch schon mal hier." "Das ist Erwin Plotz, noch dick im Geschäft bei der Mordkommission.", witzelte Ben wichtigtuend, wobei er das Wort "dick" besonders betonte. "Hmm... was will der hier?", wunderte sich der erfahrene Ermittler, und seine Frau lachte auf: "Vermutlich soll einer von euch mit ihm ermitteln." Das brachte nun die beiden Freunde zum Lachen. "Na herzlichen Dank auch.", meinte Semir. "Der hat doch schon nen Lakaien." Tatsächlich war ein weiterer Mann mit Plotz gekommen, ein recht junger Beamter mit Hornbrille, strengem Seitenscheitel und beinahe feinem Anzug. Er sah aus, wie ein motivierter Jungpolizist, der in seiner Karriere keinen Höhepunkt auslassen wollte. Scheinbar durfte er Plotz' Arbeit verrichten. "Der müsste nur mal den Stock aus dem Arsch nehmen.", grinste Semirs Partner und erhielt einen freundschaftlich gemeinten Rippenstoß.
    Nach einigen Minuten des Gespräches stand die Chefin auf und kam mit ernster Miene zur Glastür. Die beiden Polizisten stießen sich schon vom Schreibtisch ab, weil sie befürchteten, nun reingerufen zu werden. Doch zu ihrer Überraschung hatte Anna Engelhardt jemand anderes im Blick. "Frau Dorn. Kommen sie bitte mal in mein Büro." Jenny sah besser aus als noch am Vortag, ihre Blässe behielt sie aber noch. Sie sah etwas verwirrt zu Andrea, bevor sie sich erhob und ins Büro der Chefin ging. "Jenny? Hat das was mit heute Morgen zu tun? Habt ihr beide jemanden umgebracht?", grinste Semir frech und erhielt einen liebevollen Klaps auf den Hinterkopf von seiner Frau, die darüber gerade nicht lachen konnte.

    Im Büro der Chefin saßen Plotz und sein Partner Kühne auf der Ledercouch bei dem kleinen Tisch in der Ecke, die Chefin selbst auf ihrem Bürostuhl. Sie deutete auf den Stuhl, der sonst am Schreibtisch stand, nun aber etwas zurückversetzt. "Setzen sie sich bitte.", sagte die Chefin und Jenny gehorchte, jedoch mit einem äusserst mulmigen Gefühl im Bauch. Was hatte das zu bedeuten? Plötz räusperte sich etwas. "Frau Dorn, mein Name ist Erwin Plotz, das ist mein Kollege Mike Kühne. Wir sind beide von der Mordkommission und hätten einige Fragen an sie." Kühne nahm wie auf Knopfdruck einen kleinen Notizblock und Kugelschreiber aus seinem akkurat sitzenden Anzug und war schreibbereit. "J...ja...", meinte Jenny unsicher. "Worum... gehts denn?" Ohne auf die Frage wirklich einzugehen, begann Plotz sofort mit einer Frage: "Frau Dorn, kennen sie einen Mark Schneider?" Jennys Herz begann schneller zu schlagen, in ihr stieg sofort Übelkeit auf, die sie versuchte durch tiefes durchatmen zu bekämpfen. Sie blickte kurz zu ihrer Chefin, die vertrauensvoll und beruhigend nickte... scheinbar wusste sie bereits mehr. "J...ja. Ich kenne... ich kenne ihn.", sagte sie mit leiser Stimme. "Stimmt es, dass sie Herrn Schneider heute morgen bei der Sitte aufgrund einer Vergewaltigung angezeigt haben?" Jenny klammerte sich mit beiden Händen um die Stuhllehne, als müsste sie sich festhalten. Eine Mischung aus Nervosität, Angst vor dem Erlebten und Scham, dass die beiden Männer und die Chefin davon wussten ließen ihr die Farbe aus dem Gesicht weichen, sie spürte wie ihr immer wärmer wurde, als hätte sie Fieber. Ihre Stimme wurde noch leiser und zaghafter. "J...ja, das stimmt." Die Chefin presste die Lippen ein wenig aufeinander, sie hatte Mitleid mit Jenny, wusste aber auch, was das für sie bedeuten würde. "Frau Dorn, wo waren sie heute, zwischen 10 und 12 Uhr?", fragte der Kommissar, mit etwas gelangweilter Stimme die wohl am häufigsten in seiner Karriere gestellte Frage. Sogar die Chefin rieb ein wenig nervös die Hände aufeinander, doch Jennys Antwort kam ohne Zögern. "Bei... der Untersuchung. Im Krankenhaus." Anna Engelhardt schien auf zu atmen. Sie hatte von Jenny nur etwas von einem wichtigen Arzttermin gesagt bekommen, dabei wirkte die Polizistin bereits nervös. Jetzt war sich die Chefin nicht sicher, wo sie wirklich war, doch dieses Alibi ließ sich leicht überprüfen.

    Plotz gab seinem jungen Kollegen per Blick ein Zeichen, und auf Kommando zückte der ein Handy und wählte die Nummer des Krankenhauses, dessen Namen Jenny sagte. Er erfragte bei einer Schwester, die sich meldete, ob eine gewisse Jenny Dorn heute bei einer gynäkologischen Untersuchung war, bezüglich einer möglichen Vergewaltigung. Offenbar war er mit der Antwort zufrieden, er bedankte sich und legte auf. "Passt, Chef. Sie kam in Begleitung von zwei Beamten der Sitte gegen halb 11, und ging um 12. Die Kollegen ruf ich auch gleich an", sagte er und lächelte, als erwarte er für dieses Telefonat ein Sonderlob. Das zweite Telefonat bestätigte dann, dass Jenny seit halb 9 auf der Dienststelle anwesend war.
    Jenny ringte sich nun durch, selbst ihre Frage nochmal zu wiederholen: "Aber warum? Worum... worum geht es? Sie sagen, sie sind von der...", doch weiter kam sie nicht. Plotz lehnte sich ein wenig nach vorne, stützte sich mühsam mit dem rechten Ellbogen auf sein Knie. "Richtig, wir sind von der Mordkommission. Mark Schneider wurde vor zwei Stunden tot in seiner Wohnung gefunden... mit weitreichenden Kopfverletzungen, wie nach einer Schlägerei... äusserst brutal." Die junge Frau auf dem Stuhl hatte das Gefühl, als würde um sie herum alles schwarz werden, als würde sie in ein bodenloses Loch fallen. Sie klammerte sich immer fester um die Stuhllehne, als sie sich daran erinnerte, dass Kevin heute Nacht nach der Adresse des Vergewaltigers gefragt hatte...

    Jenny's Wohnung - 3:00 Uhr

    Es dauerte ein wenig, bis Jenny sich beruhigt hatte. Sie wurde, als sie Kevin die Vergewaltigung gestand, nachdem dieser sofort zu ihr geeilt war, von einem Weinkrampf geschüttelt, der es ihr unmöglich machte, auch nur einen zusammenhängenden Satz hervor zu bringen. Immer wenn sie etwas sagen wollte, kamen nur Schluchzer, und weitere Tränenbäche. Kevin hatte sich von seiner beinahe unbändigen Wut erst mal nichts anmerken lassen, hatte einen Arm um Jenny gelegt, sanft um sie nicht bedrängen. Hatte sie einfach nur festgehalten, während sie weinte um sie dann langsam zu ihrer Couch mit der Wolldecke zu geleiten. Jenny legte sich auf die Couch, sie fühlte sich unendlich müde, aufgewühlt aber auch unter Schutz und nicht mehr ängstlich. Sie war froh, nachdem sie ihre Gefühle den ganzen Tag mehr schlecht als recht verborgen hatte, endlich alle Barrieren fallen lassen zu können, nachdem sie Kevin vor sich stehen gesehen hatte. Als sie sich langsam auf das Sofa legte, den Kopf dicht an Kevins Brust gedrängt der weiter sanft einen Arm um sie gelegt hielt... es fühlte sich beschützend an, nicht bedrängend. Der Polizist hatte Angst, dass Jenny Angst bekommen könnte, wenn er sie schützte und umarmte, aber die junge Frau konnte unterscheiden, und Kevins Arm fühlte sich nicht bedrohlich, sondern angenehm an. Ihr Schluchzen wurde leiser, und irgendwann blickten die wässrigen, glasigen Augen über Kevins Brust durch das dunkle Zimmer, das nur von einer kleinen Stehlampe erleuchtet wurde. Kevins Finger strichen ihr durch die Haare, er hatte keine Fragen gestellt, sondern einfach nur wenige Worte gesagt, er hatte sie erst einmal weinen lassen, denn er wusste aus eigener Erfahrung, dass Weinen manchmal das beste Ventil war.

    Erst jetzt wagte er, etwas zu sagen, er sagte es mit vorsichtiger, beinahe untypisch scheuer Stimme. Man merkte ihm an, dass ihm die Situation nahe ging, und es ihm schwer fiel, seine Wut und seine Ohnmacht nicht zu zeigen. "Du... du musst dich morgen untersuchen lassen.", sagte er mit leiser Stimme und konnte nur ein kaum merkliches Nicken an seiner Brust vernehmen. Jenny hatte daran auch schon gedacht, sie hatte die Pille für danach genommen, war sich aber nicht sicher dass sie gewirkt hatte, nachdem sie mehrmals erbrochen hatte. Allerdings hatte der Typ ein Kondom benutzt, es war mehr eine Vorsichtsmaßnahme. Die junge Frau konnte das Heben und Senken von Kevins Brust spüren, war jedoch mit sich selbst so sehr beschäftigt dass sie nicht merkte, wie schnell Kevins Herz in seiner Brust schlug.
    Ohne dass er fragen musste, find Jenny an langsam und zaghaft zu erzählen. Manchmal stockte sie, manchmal musste sie nochmal aufschluchzen. Sie hatte sich am Abend mit dem Kerl unterhalten, er hatte getrunken, und wollte nicht mehr fahren, obwohl er nüchtern wirkte. Jenny bot an, ihn mitzunehmen und ging fatalerweise mit ihm hinauf. Wenn Kevin nach dem "Warum" gefragt hätte... Jenny hätte ihm keine Antwort geben können. Warum sie nicht daran gedacht hatte, was sie gelernt hatte? Warum sie mitten in der Nacht zu einem Kaffee hinaufging, obwohl sie keinerlei Absichten verfolgte, schon gar nicht nach der kurzen Begegnung mit Kevin. Aber der fragte nicht... er hörte einfach nur zu, strich Jenny immer wieder beruhigend und gleichzeitig ermutigend über den Kopf und durchs Haar. Plötzlich sei er zudringlich geworden... er entwickelte eine unbändige Kraft, gegen die sie sich nicht wehren konnte, zu unerwartet fiel er über die junge Frau her. Mehr konnte sie nicht erzählen, die Tränen stiegen ihr wieder in die Augen, und ihr Körper begann erneut zu zittern. "Ist schon gut... jetzt passiert dir nichts mehr.", redete Kevin ihr ruhig zu, und fühlte sich jetzt wieder als der Fels in der Brandung, der er immer sein wollte, und der er für seine Schwester immer war. Allerdings wünschte er sich, dass er dieses Gefühl nicht unter solchen schlimmen Umständen nochmal spürte, und eine Frage blieb noch unbeantwortet.

    "Ich... ich werde...", Jennys Stimme stockte. "Ich werde ihn morgen anzeigen." Ein wenig Gefasstheit und Jennys Selbstbewusstsein steckte in dem zaghaften Satz, dass Kevins Herz einen kleinen, kaum vernehmbaren Hüpfer machte. "Soll ich mitkommen?", fragte der suspendierte Kommissar, aber Jenny schüttelte den Kopf. "Nein... das... schaffe ich allein." Jenny wusste, was bei solch einer Anzeige folgte. Sofortige Untersuchung im Krankenhaus, Beweissicherung... da wollte sie lieber alleine sein, oder zumindest in Begleitung einer Frau. Letzter Gedanke kam auch dem jungen Mann, an dem sie sich festhielt und versuchte aufzubauen. "Es wäre besser, wenn auf dem Revier jemand Bescheid weiß. Ruf Andrea an.", schlug er ihr vor. "Sie wird es garantiert niemandem erzählen, und würde dich sicherlich auch begleiten." Jenny nickte und gähnte dabei. Die Müdigkeit wurde langsam stärker als die Angst, die Kevin ihr fast vollständig genommen hatte. Ihr Kopf rutschte auf Kevins Oberschenkel, sie drehte sich mit dem Gesicht zu ihm und schloß die Augen. "Kevin?", murmelte sie mit müder Stimme, immer noch ängstlich, aber weitaus gefasster als noch vor einer Stunde, die Decke sich bis an das Kinn gezogen. Sie wollte nicht in ihr Bett, sie wollte so nah wie möglich bei Kevin bleiben. "Ja?" "Versprichst du mir, dass du mich nie mehr alleine lässt?" Die Frage löste bei dem jungen Polizisten ein Gefühlschaos aus. Er hatte solch ein Versprechen schon einmal gegeben, zwar nicht wörtlich, aber innerlich an sich selbst. Er wollte seine Schwester auch niemals alleine lassen und war daran kläglich gescheitert. Doch sollte er jetzt "Nein" sagen, weil er Angst hatte... Angst erneut zu scheitern. Jenny war nicht Janine, kein hilfloses Mädchen dass sich in der großen Welt nicht auskannte und nicht überleben würde. Jenny würde ihn nicht brauchen, wenn sie jetzt ein bisschen Zeit bekam, ihr Chaos zu ordnen. Aber jetzt brauchte sie ihn, in diesem Chaos, wo sie nicht mehr wusste wo oben und unten war. Jemand, der ihr beistand, nachdem sie befragt wurde, vielleicht mit dem Täter konfrontiert wurde, Alpträume hatte. Er nickte im Dunkeln und sagte. "Ja. Ich lasse dich nicht allein." Dabei kam ihm seine leise, einfühlsame Stimme beinahe fremd vor, soviele Gefühle hatte er in den letzten Jahren aus zu sperren versucht, nichts an seine Seele heran zu lassen. Nun war Jenny nicht nur durch diese Tür gegangen, sie klammerte sich auch noch mit allem, was sie hatte daran fest.

    Die junge Frau schien zufrieden mit der Antwort, kuschelte sie sich doch noch ein wenig fester an den Polizisten heran. Bevor sie vom Schlaf übermannt wurde, brannte Kevin noch eine Frage auf der Seele. Seine Ruhe überraschte ihn, doch er wurde doch Jenny quasi dazu gezwungen. "Wo hast du denn Mann hingefahren? Und wie heißt er?" Im Halbschlaf war Jenny sich nicht mehr bewusst, warum Kevin danach fragte, und so nannte sie den Namen "Mark Schneider" und eine Adresse in einem Viertel, wo alte Stadtvillen zu Mehrfamilienhäuser umgebaut wurden. Er nickte ob der Information und streichelte über Jennys Schulter und durch ihre Haare, bis die junge Frau endlich eingeschlafen war.
    Kevin saß erst ein Zeitlang auf der Couch. Irgendwann hob er Jennys Kopf sachte an, und schob, statt seines Oberschenkels ein Kissen unter ihren Kopf. Die junge Polizistin wurde nicht wach, sie murmelte etwas im Schlaf vor sich hin, bevor sie wieder ruhig weiterschlief. Kurze Zeit wurde sie von Kevin voll Sorge betrachtet, bevor dieser aufstand und zum Fenster trat. Jetzt war es für ihn Zeit, seine Gefühle zu zeigen, auch wenn sich das bei Kevin nicht bemerkbar machte. Aber sein, die ganze Zeit fürsorglicher, vertraulicher Ausdruck in den Augen wurde hart, das Blau in seinen Augen kalt. Wie eine Statue stand er am Fenster und blickte in die dunkle Nacht, zusammengekniffener Mund, kalte Augen und keinerlei Regung. Nur seine Hände zitterten ein wenig, und erst später merkte der Polizist, dass er sie unbewusst zu Fäusten geballt hatte. Einige Erinnerungen an die Vergewaltigung seiner Schwester kamen in sein Bewusstsein, doch er versuchte sie, nicht in den Vordergrund zu lassen... versuchte, die Kontrolle nicht vollends abzugeben, sonst hätte er sich jetzt schon in seinen Wagen gesessen und wäre zu der Adresse gefahren. Nein, er blieb ruhig... vor allem die kleine zierliche Frau auf dem Sofa hinter ihm hinderte ihn daran, einfach die Wohnung zu verlassen. Nein, er würde bleiben... er würde sie nicht allein lassen.


    Jenny's Wohnung - 7:00 Uhr

    Jennys Handy klingelte, die Weckerfunktion war täglich aktiviert und die junge Frau schreckte hoch. Verwirrt blinzelte sie durch den Raum, stellte fest, dass sie nicht in ihrem Bett lag, sie hatte keinen Schlafanzug, sondern eine Art gemütlicher Jogginganzug an und an ihrem Fenster nach draussen stand Kevin, der sie anlächelte. "Na... hast du wenigstens ein wenig geschlafen?" Jenny nickte, gähnte dabei und wickelte sich in die warme Bettdecke. Am liebsten wäre sie liegen geblieben, sie fühlte sich müde und erschöpft und hatte doch einen ganz schweren Gang vor sich. Anzeige und die Untersuchung danach... aber sie musste es tun.
    Sie glitt von der Couch und tapste ins Badezimmer, das sie hinter sich abschloß. Kevin suchte ein wenig notdürftig ein Frühstück in Jennys Küche zusammen, dass letztlich aus zwei Honigbroten und einer Tasse Tee bestand. Als die Polizistin geduscht und angezogen aus dem Zimmer nebenan kam, lächelte sie überrascht und dankte. "Wenn du willst, kannst du auch noch duschen.", meinte sie und atmete tief durch. Sie wollte wirklich Andrea anrufen, und zog ihr Handy. 'Nicht weinen, Jenny...', sagte sie zu sich selbst, als das Freizeichen kam. "Gerkhan?", hörte sie die Stimme von Andrea und im Hintergrund lautes Kinderlachen. Es half ihr, nicht wieder weinen zu müssen. "Hallo Andrea, hier ist Jenny. Du... Andrea... darf ich dich um einen kleinen... ähm Gefallen bitten." Im Hintergrund hörte sie Semir rufen, dass er die Kinder nun mit in die Schule nehme und dann auf die Dienststelle fuhr, die beiden Eheleute verabschiedeten sich, ehe sich Andrea wieder zum Telefonat wendete. "Ähm klar... was gibts?" "Könntest du mich gleich bei mir zu Hause abholen kommen und mit mir zum Arzt fahren?" Andrea schien erstmal überrascht zu sein, und so fragte sie: "Bist du denn krank?" Jenny dachte kurz nach, sie spürte schon wieder ihr Unwohlsein, schaute hilflos zu Kevin, der stumm nickte. "Nicht... nicht direkt. Kann ich es dir im Auto erzählen?" Die Ehefrau von Semir nickte am Telefon, offenbar war es etwas ernstes, was man nicht gut am Telefon besprechen kann, soviel Weitsicht hatte Andrea. "Ich bin in 20 Minuten bei dir, okay?" "Vielen Dank..." Dann legte Jenny auf und musste sich erstmal hinsetzen, weil ihr schwindelig wurde.
    Kevin stellte sich hinter sie, und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. "Bei Andrea brauchst du dich nicht zu verstellen.", sagte er leise und vermittelt Jenny wieder Sicherheit. Er selbst hatte etwas anderes vor... er hatte eine Verabredung in der Adresse, die Jenny ihm gestern sagte... nur dass Mark Schneider von seinem "Glück" noch nichts wusste...

    Autobahn - 11:00 Uhr

    Das Wetter glich sich der Stimmung in der Dienststelle, seit Jenny gekommen war, sehr an. Der Himmel war wolkenverhangen, es war windig aber angenehm war. Semir und Ben waren auf dem Weg zurück von ihrer zweiten Tagestour. Keine Geschwindigkeitsübertretung, kein Drängler, kein verdächtiger LKW... scheinbar wollte sich heute niemand mit den beiden Autobahnpolizisten anlegen. Ben drückte an seinem Smartphone herum, während Semir den BMW steuerte. Der Polizist mit dem wuscheligen Haar versuchte in den letzten Stunden häufiger mal Kevin eine Nachricht zu schreiben, er sah auch dass Kevin sie las, aber eine Antwort kam nicht. Es frustrierte den Polizisten, der einfach nicht damit abschließen wollte, dass sein Freund zurück unter die Dealer gegangen ist... ausgerechnet nach seiner unbedachten Äusserung.
    "Jenny sah nicht gut aus eben...", sagte Semir leise, der sich mehr Sorgen um seine junge Kollegin machte, als um das männliche Gegenstück. Ben nickte. "Scheint sie wirklich mehr mitgenommen zu haben.", meinte er während er kurz aus dem Seitenfenster sah und es langsam zu nieseln anfing. "Ja. Hatten die beiden vielleicht doch mal was miteinander?" Der Hauptkommissar auf dem Beifahrersitz schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht. Auch wenn es vielleicht ein wenig gefunkt hat, aber...", er stockte kurz, als würde er nochmal kurz überlegen wollen. "Kevin ist doch gar nicht ihr Typ... oder? Ich hab den Eindruck, Jenny wünscht sich etwas sicheres." Ganz überzeugt klang Ben selbst nicht. "Hmm...", auch Semir schien zu überlegen. "Sicher ist bei Kevin, dass nichts sicher ist." Das ließ die beiden Männer kurz schmunzeln, auch wenn es eine bittere Wahrheit war.
    Der Tag verlief weiterhin ruhig, zumindest für Ben und Semir. Als sie zu Mittag in die Dienststelle zurückkehrten, hielten sie Ausschau nach Jenny, doch die war erstmal nicht zu sehen. Später kam sie von der Toilette, und ihr Gesicht war noch blasser als zuvor. Semir fragte, ob sie nicht lieber nach Hause gehen wolle, wenn es ihr nicht gut ging, doch die junge Kollegin verneinte.


    Jenny's Wohnung - 2:00 Uhr nachts

    Jenny hatte tapfer durchgehalten. Ihre Kollegen glaubten, ihr hinge die Begegnung mit Kevin nach, und wenn man nicht wusste, was wirklich mit ihr los war, war diese Annahme vielleicht sogar berechtigt. Aber es hatte andere Gründe. Sie konnte sich auf nichts konzentrieren, sie war müde, sie hatte Schmerzen. Sie hatte sich um die Mittagszeit noch zweimal auf der Toilette erbrochen, sich aber nichts anmerken lassen. Die Chefin, Anna Engelhardt, erkundigte sich zweimal, wie auch Semir nach ihr, ob sie nicht lieber nach Hause gehen wolle, aber die junge Frau wollte kein Mitleid. Zumindest besass ihre Chefin soviel Weitsicht, dass sie Jenny heute nicht zum Streifendienst einteilte, sondern reinen Bürodienst schob. Auf Streife fuhren Bonrath und Hotte gemeinsam, und Jenny konnte ihm sicheren Büro bleiben.
    Als sie nach Hause kam, hatte sie weder Hunger noch Durst. Sie duschte nochmal und wusch sich so gründlich, als könne sie damit Erinnerungen aus ihrem Kopf abwaschen, als sei ihr Körper immer noch schmutzig von der letzten Nacht. Dann schlief sie auf der Couch ein und wurde um 2 Uhr erneut wach. Es war mittlerweile dunkel, und Jennys Körper begann unweigerlich zu zittern.

    In ihr stieg plötzlich Angst auf. Angst vor der Dunkelheit, als sie sich langsam zum Lichtschalter vortastete. Das warme Licht der Deckenleuchte in ihrem Wohnzimmer verjagte die Angst nur wenig, denn die Fenster nach draussen gähnten sie schwarz an. Ihr Herz schlug schneller, und sie hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass sie jemand durch jedes Fenster ihrer Wohnung beobachtete.
    Sie schaltete den Fernseher an, und versuchte dadurch ihre Angst ein wenig zu verjagen, doch es half nichts. Sie saß nicht still, ihr Zittern ging durch den ganzen Körper und sie hockte irgendwann wieder zusammengekauert auf der Couch, als würde sich die Polizistin vor irgendjemandem verstecken. Jenny hielt es einfach nicht mehr aus, diese unsichtbare Angst hatte sie fest im Griff.

    Jenny griff zum Handy und wählte eine Nummer. Der Freizeichenton wich dem Klingeln, sie spürte, dass sie ihre Hand am Ohr nicht ruhig halten konnte, und dass ihr Herz fest und schnell gegen ihre Brust schlug. "Ja...", klang eine verschlafene, monoton klingende Stimme auf der anderen Seite, und Jenny stiegen sofort Tränen in die Augen, als sie diese so vertraute Stimme hörte. "Kevin.... bist... bist du wach?" Der Mann am anderen Ende hörte sofort aus diesen vier Wörtern, dass mit der Frau, die gestern abend bei ihm war, etwas nicht in Ordnung ist. "Jenny? Ist alles okay?" Ein lautes Schluchzen klang durch den Hörer und Kevin zog es den Magen zusammen. Was war passiert? Warum weinte sie. Ihre Stimme zitterte: "Kannst... kannst du vielleicht... vielleicht zu mir kommen. Ich... ich halte es hier nicht alleine aus."
    Kevin antwortete instinktiv. Natürlich hätte er gerne sofort gewusst, was mit Jenny los war, aber er spürte, dass sie jetzt vor allem eins brauchte... jemanden bei ihr in der Wohnung. Er spürte die Angst durch die Leitung kriechen, und er wusste, dass Jenny mit einem Gespräch jetzt erstmal nicht geholfen war. "Ich bin in 10 Minuten bei dir.", versprach er und war schon in Bewegung, um sich anzuziehen.

    Der ehemalige Polizist hielt Wort. Gerade mal 9 Minuten später war Kevin durch die leeren Straßen geheizt und klingelte an der Tür von Jennys Wohnung. Über die Sprechanlage kam ein ängstliches "Wer ist da?", und die Polizistin erkannte sofort Kevins Stimme und ließ ihn hinein. An der Wohnungstür wartete ein zitterndes, tränenüberströmtes Nervenbündel auf den jungen Polizisten. Jenny schien sich am Türrahmen fest zu klammern, als würde sie ohne ihn umfallen. Kevin blickte erschrocken, beinahe fassungslos auf die blasse Frau, die gestern abend bei ihm noch so viel Selbstsicherheit gezeigt hatte, als sie ohne Mühe seinen Schutzwall durchbrochen hatte und tief in seine Seele stieß.
    Jenny ließ ihren Kollegen in die Wohnung und schloß leise die Tür, in ihr regte sich Unbehagen. Sie würde doch nicht wieder einen Fehler begehen? Nein, sie vertraute Kevin. Sie vertraute ihm so sehr, und sie konnte nicht mal sagen, warum genau sie ihm vertraute. Es war eine Verbindung, die zwischen ihm und Jenny bestand, die sie vertrauen ließ. Sie blieb mit dem Rücken an der Tür stehen und die beiden sahen sich kurz an. "Was ist passiert?", fragte der suspendierte Polizist und konnte das Zittern an ihrem kompletten Körper sehen, wie Jenny gegen die Tränen anzukämpfen versuchte und dabei kläglich scheiterte. Nicht nur das, sie ließ ihren Gefühlen nach dem heutigen Tag endlich freien Lauf und begann hemmungslos zu schluchzen, als sie den jungen Mann erschöpft ansah und sich immer noch am Türrahmen festhielt. Sie versuchte etwas zu sagen, doch ihr Kopf funktionierte nicht richtig, sie wollte Kevin umarmen, doch stattdessen schien ihr Körper zurück zu weichen, als der junge Mann einen kleinen Schritt auf sie zuging. "Jenny...", sagte er leise und nahm sanft ihre Hand, was die bessere Variante war, ohne sie durch eine Umarmung einzuengen. "Du hast gesagt, dass du da bist und mir deine Wärme gibst.", erinnerte er sie an gestern. "Jetzt bin ich da... was ist passiert?" Er spürte, dass Jennys Hand eiskalt, und trotzdem feucht war, und wie sehr die Muskeln und Nerven in ihrem ganzen Körper vibrierten als Tränenbäche ihre Wangen herunterliefen, und sie endlich Worte aus sich herausbekam. "Er... er... hat mich... er hat mich vergewaltigt." Danach konnte sie sich endlich überwinden und fiel quasi mit dem Kopf gegen Kevins Brust. Der wiederrum hatte das Gefühl, als würde sein Herz einen Moment aussetzen, und er war unfähig, den Arm um seine schluchzende Kollegin zu legen.

    Ich finde, wenn solche Szenen nicht beschrieben werden, sondern erstmal nur die Folgen zu sehen sind, es spannender und auch schockierender. So bleibt es erstmal der Fantasie des Lesers überlassen, wie schlimm es war, was Jenny erlebt hat.

    Es wird zwar später noch gewisse Andeutungen geben, falls sie es irgendjemandem erzählt ;) aber mehr nicht. Der Rest ist Fantasie des Lesers.