Beiträge von Campino

    Jenny's Wohnung - 2:00 Uhr

    Sie hatte sich zusammengerissen, bis sie endlich in ihrer Wohnung war, doch hier ließ Jenny alles raus. Mit dem Kopf über der Toilettenschüssel erbrach sie das Abendessen, das sie auf der Polizeiveranstaltung gegessen hatte, das eine Sektglas, das sie getrunken hatte. Schnell atmend stolperte sie zitternd zurück und setzte sich an die gegenüberliegende Wand des Badezimmers, ihr Körper zitterte. Sie fühlte sich elend, sie spürte die stechenden Schmerzen im Unterleib und an den Handgelenken. Sie hatte diesen netten Mann auf der Party kennengelernt, sich ungezwungen und nett mit ihm unterhalten. Die Ablenkung von Kevins dunklen Gedanken tat ihr sichtlich gut, auch wenn das Ende ihres Gespräches unglaublich schön gewesen war, und sie eigentlich mit einem guten Gefühl von ihm wegging. Sie hatte angeboten, Mark Schneider nach Hause zu fahren, weil er zuviel getrunken hatte, obwohl er ihr nicht betrunken vorkam. Er hatte ihr vor dem Haus noch einen Kaffee angeboten, und Jenny fand den jungen Mann so sympathisch, dass sie spontan zugestimmt hatte. Sie war ja vollkommen nüchtern, und absolut Herr ihrer Sinne, falls er eine bestimmte Absicht gehabt hätte, doch es war trotzdem ein Fehler.

    Jenny hatte keine Ahnung, wie lange sie im dunklen Badezimmer an der Wand saß. Plötzlich spürte sie einen Drang, diese Klamotten los zu werden. Sie riss sie beinahe panisch vom Leib, sie fühlte sich dreckig und schmutzig. Ihr Atem wurde wieder schneller, als sie Hose, Bluse und Unterwäsche in den Wäschekorb steckte und dann zur Dusche stürzte. Das Wasser war zuerst eiskalt, wurde dann wärmer bis es schließlich heiß wurde, doch die junge Frau spürte keinen Unterschied auf ihrer Haut. Alles fühlte sich taub und berührungslos an, als das Wasser an ihren Armen, ihren Hüften und ihren Beinen herunterlief, ihr Körper zitterte unaufhörlich obwohl das Wasser nun wirklich extrem heiß war. Sie konnte nicht stehen, ihr Körper zwang sie, sich wieder hinzusetzen, ihr war übel und alles was sie fühlte war Schmerzen und Abscheu. Die Beine an den Leib gezogen, die Arme um die Knie geschlungen machte sich Jenny so klein, wie sie konnte, als würde sie sich vor etwas verstecken, was sie im Badezimmer entdecken konnte. Zwischen dem Rauschen des Wassers erklang das Geräusch ihres zittrigen Atems und vereinzelten Schluchzern, ihre Tränen vermischten sich mit dem heißen Duschwasser, dass über ihren Körper rieselte. Trotzdem hatte sie den Eindruck, als hafte Schmutz an ihr, denn sie mit einfachem Wasser nicht wegbekam. Die junge Polizistin machte sich noch kleiner, in dem sie den Kopf auf die verschränkten Arme lag, und die Welt um sie herum versank in einem Wasserrauschen, in Dunkelheit. Nur der Mond schaute zum Badezimmerfenster hinein und sah eine verängstigte junge Frau, die in sich gekauert in der Dusche saß.


    Dienststelle - 8:30 Uhr

    Heute sollte es eigentlich ein geregelter Arbeitstag für die beiden Autobahnpolizisten werden. Wie immer brachte einer der beiden Schokocrossaints vom Bäcker mit, während der andere bereits den Kaffee fertig hatte. Heute war Ben an der Reihe, das Frühstück zu besorgen und wie immer hatte er Riesenportionen dabei. "Du willst mich irgendwann auch mästen, oder?", fragte ihn Semir regelmäßig und schlug sich mit der flachen Hand auf den Bauch. "Das ist nur ein Ansporn, damit du regelmäßig Sport treibst.", behauptete sein Freund und teilte auch an seine Kollegen Hotte, Bonrath, Andrea und Jenny, die allerdings noch nicht da war, Crossaints aus. "Mach dir nichts draus, Semir. Auch mit etwas runder Figur kann man bei der Autobahnpolizei Karriere machen.", frozelte der lange Dieter Bonrath und machte eine eindeutige Handbewegegung auf seinen langjährigen Partner und besten Freund, Hotte Herzberger der figurlich nun wirklich nicht dem Prototypen eines Beamten entsprach, der öfters mal "aktiv" werden muss. "Was heißt denn hier rund?", brüstete sich der nun, übertrieben gekünselt und selbstironisch, während er seinen mächtigen Bauch mit beiden Händen umfasste. Herzberger hatte genug Humor und Selbsteinschätzung, dass er wusste, dass kein Polizeiarzt ihn zum Dienst weiter zu lassen würde, wenn er nicht nur noch zwei Jahre zu absolvieren hätte. Er war ein verdienstvoller Beamter, er trat allerdings schon etwas kürzer und arbeitete Jenny Dorn als seine Nachfolgerin ein. Trotzdem war er immer noch auf Zack, und vor allem der nächtliche Einsatz hat ihm im Prinzip großen Spaß gemacht, wenn es nicht gerade Kevin gewesen wäre, den sie festgenommen hatten.

    Erst eine Vierstelstunde später kam Jenny in das Großraumbüro. Allen im Raum fiel sofort ihre Blässe im Gesicht auf, die Augenringe und ihr ernster bis trauriger Gesichtsausdruck. Nur ein zaghaftes "Morgen!", kam ihr über die Lippen, bevor sie sich auf ihren Stuhl niederließ. Die anderen grüßten ebenfalls, jedoch ebenfalls mit sorgenvollen Mienen. Andrea war die erste, die ihr über die Schulter strich und Semir sprach aus, was alle dachten: "Knabberst du noch an gestern Morgen?" Scheu, beinahe schreckhaft blickte Jenny auf zu ihrem älteren Kollegen und nickte ein wenig. Sie war fast dankbar, dass sie eine Ausrede für ihren äusserlichen Zustand hatte ohne erzählen zu müssen, was ihr letzte Nacht geschehen ist. Semir lächelte vertrauensvoll und nickte: "Mach dir keine Sorgen. Das wird sich bestimmt alles aufklären." Er wollte Jenny ein wenig die Sorgenfalten aus dem Gesicht nehmen, auch wenn er wusste, dass sie in der Sache erst mal nicht mehr aktiv werden. Kevin hatte alle Hilfe, durch sein Schweigen und sein arrogantes Verhalten verweigert. Selbst Ben, der sich nur schwer damit abfinden konnte, hatte Semir zugestimmt, dass sie nichts tun würden, um Licht ins Dunkel zu bringen. Sie waren sich aber sicher, dass der junge Kollege bald wieder von sich reden lassen würde, wenn er wirklich zurück in die Drogenszene gerutscht war. Sie wollten die Meldungen vom Drogendezernat genauer beobachten.

    Ausserdem hatte vor allem Ben vor Wochen schon gemerkt, dass es zwischen Jenny und Kevin gefunkt haben könnte, hatte seine Beobachtungen auch Semir mitgeteilt. Der konnte dies nach letztem Morgen bestätigen, als er Jenny gestern Morgen beobachtete, wie sie auf Kevins Aktion reagiert hatte. Jetzt saß sie da, blass und verschreckt und nickte nur stumm, als Semir seine beruhigenden Worte sprach. Ihr Gesicht hellte aber nicht auf, auch ihr Ausdruck in den Augen änderte sich nicht. Andrea vermutete dagegen, dass ihre Stimmung nicht alleine durch Kevins Verhaftung so düster war...

    Kevin's Wohnung - 20:00 Uhr

    Kevin kam gerade aus der Dusche, er hatte sich eine Jeans angezogen, die mehr als nur abgenutzt war und er öfters zu Hause trug, oder wenn er abends mal alleine wegging. Er hatte die feuchten Haare in alle Richtungen stehen und das Shirt, mit den Bändern am V-Ausschnitt gerade über gezogen. Kalle war bereits in ihrem Club, den sie letzte Woche von Kevins Vater übernommen hatte. Es kam in der Wohnung von Kalle zu einer Auseinandersetzung zwischen Erik Peters und seinem Sohn. Der hatte es seinem Vater nie verziehen, dass er niemals erfahren hatte, wer seine Mutter ist. Sie war, einige Monate nach Kevins Geburt, einfach nicht mehr da. Der junge Mann hatte keinerlei Erinnerungen an sie, Kalle wusste nichts (was Kevin ihr auch glaubte) und sein Vater schwieg darüber beharrlich. Überhaupt hatte der sich nie um seinen Sohn gekümmert, auch nicht um seine Schwester, die eigentlich nur eine Halbschwester war, da sie eine andere Mutter hatte. Aber das interessierte Kevin nie, für ihn war Janine immer die kleine Schwester, auf die er aufpasste. Erik Peters hatte es auch nicht interessiert, als sein Sohn in die Jugendgang und somit in die Drogenhölle abgerutscht ist. Als er hörte, dass Kevin zur Polizei gegangen war, war es für ihn beinahe ein Schock, den zu dieser Zeit war der jetzige Bordell-Besitzer selbst noch Zuhälter.
    Mit einer unbedachten Äusserung hatte der Mann den Wut seines Sohnes auf ihn gelenkt, als dieser sich abfällig mit "Muss ja toll sein, mit meinem Vater Geschäfte zu machen." darüber äusserte, dass Kalle eine Bar in Köln übernommen hatte. Kalle verstand ihren Ziehsohn, sie verstand das schwierige Verhältnis. Sie war jedoch auch pragmatisch und forderte den jungen Mann immer wieder auf, auch mal endlich Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, vor allem da Erik in letzter Zeit häufiger versuchte Kontakt zu Kevin herzustellen, der dies jedoch als Anbiederung verstand. "Ich mache doch keine Geschäfte mit Kalle. Die gehört doch quasi zur Familie." Ein kleines Wort, das in Kevins Seele Eiseskälte auslöste, kam es doch aus dem Munde seines Vaters. "Du redest über Familie??", herrschte er sein Gegenüber an, und kam seinem Vater bedrohlich nahe. Der hatte jedoch, eben wie sein Sohn, die Eigenart verbale Angriffe durch Arroganz und Coolness abzublocken. "Sie hat sich doch auch immer so gut um dich gekümmert.", sagte er unverfroren und traf bei Kevin wunde Punkte. Es fehlte nicht viel, und Kevin hätte seinen eigenen Vater niedergeschlagen, nur aus Rücksicht vor Kalle schaffte er es, sich zu beherrschen. Er verließ die Wohnung und ertränkte seinen Frust...

    An diese Auseinandersetzung musste er kurz denken, als er aus dem Fenster blickte, und in den bereits sehr weit verdunkelten Abendhimmel blickte. Er würde heute abend in eine Kneipe gehen, die früher ein Treffpunkt seiner Gang gewesen war. Er hoffte, vielleicht den ein oder anderen zu treffen, der jetzt in diesem Geflecht von Drogendealern mit drin hing. Doch scheinbar kam vorher noch eine andere Herausforderung auf ihn zu, die er unter den Straßenlaternen erkannte. Sie war ungefähr 1m75 groß, hatte dunkelbraune Haare die sie ausnahmsweise offen statt als Pferdeschwanz trug und schritt schnurstraks mit selbstbewussten Schritten auf Kevins Haustür zu. Noch bevor es klingelte versuchte der sich zu entscheiden, ob er die Türklingel ignorieren sollte, oder sich der Konfrontation zu stellen. Er wusste, er würde verlieren... vor Jenny würde er es einfach nicht übers Herz bringen, sich als schweigsamer Arroganzbolzen darzustellen, und sie so lange mit Ignoranz zu strafen, bis sie die Geduld verlor. Trotzdem entschied er sich, die Tür zu öffnen, als es läutete.
    Jenny blickte den Mann aus ihren grünen Augen an, als dieser die Tür öffnete. Ihr Gesicht strahlte Selbstbewusstsein aus, dass sie sich auf dem Weg zu dieser Adresse mühevoll eingeredet hatte. Die Gedanken um den jungen Mann ließen sie den kompletten Dienst nicht mehr los, und bevor sie heute abend auf eine, von der Polizei ausgerichtete Veranstaltung ging, wollte sie zu ihm. Sie würde sich nicht mit Schweigen abspeisen lassen, sie würde nicht vor ihm zusammenbrechen oder aufgeben. Sie wollte eine Antwort... auf sein Verhalten, auf diesen Deal. "Hey.", sagte Kevin und trat noch vor der Begrüßung bei Seite, um Jenny herein zu lassen. Auch von ihr kam nur ein kurzes "Hallo", bevor sie sich den Weg an dem Mann vorbei ins Wohnzimmer bahnte.

    "Setz dich. Möchtest du was trinken?" Kevin sprach, als sei es das normalste auf der Welt, dass Jenny ihn besuchen kam, und nicht als ob er heute Nacht von ihr festgenommen wurde. Jenny ging darauf auch gar nicht ein, und blieb mitten im Zimmer stehen. Sie blickte den Mann, den sie heute Nacht beinahe über den Haufen gefahren hatte, fest an. "Was war das heute Morgen?", war ihre mahnende Frage. Kevin blieb vor dem Küchenschrank mit den Gläsern stehen, und drehte sich wieder um zu seiner Kollegin, bevor er den Schrank geöffnet hatte. Ihre Blicke trafen sich, Kevin erinnerte sich an Bienerts Worte. "Das hast du doch gesehen." Völlige Ruhe in seinen Worten, die Jenny allerdings erstmal kalt ließen. "Du hast Drogen gekauft. Warum? Bist du abhängig?", bohrte die Polizistin mit selbstsicherer Stimme weiter, die Kevin überraschte. Er schüttelte sofort den Kopf, und er meinte zu sehen, wie Jenny erleichtert auf atmete. "Ich habe sie für einen Freund gekauft. Er kann sich bei den Typen nicht mehr blicken lassen." "Aber du bist Polizist? Wie kannst du sowas tun?" Jennys selbstsicherer Ausdruck im Gesicht wich ein wenig Fassungslosigkeit. "Weil ich die Typen kenne. Und weil ich...", er redete nicht weiter. Verdammt, er wollte doch nicht über seine Vergangenheit reden, auch wenn die Chefin eh alles wusste... und vermutlich auch die gesamte Dienststelle, weshalb er Jenny ein wenig ärgerlich ansah: "Wieso fragst du mich das? Du weißt es doch sowieso." Die junge Frau prallte ein wenig überrascht zurück. "Was soll ich wissen?" Die Ratlosigkeit in ihrer Stimme war echt. Anna Engelhardt hatte von Kevins Geständnis kein Wort nach draussen dringen lassen, Ben hatte im Krankenhaus nichts erzählt. "Weshalb ich suspendiert bin. Was ich mit Drogen zu tun hab." Ein Kribbeln in Jennys Bauch entwickelte sich zu Übelkeit, der Ausdruck in Kevins Blick war abweisend und kalt, auch wenn er die junge Frau wenigstens nicht anschwieg. Trotzdem empfand sie die Atmosphäre zu dem Mann als feindseelig, der ihr vor Wochen am Krankenbett noch so gut tat. Sie schüttelte den Kopf. "Nein... ich weiß nichts. Ich weiß nur, dass du wegen deiner Vergangenheit suspendiert wurdest. Und ich weiß, dass du eine Vergangenheit hast, über die du mit mir reden wolltest, wenn es mir besser geht." Kevin erinnerte sich, dass er das zu ihr im Krankenhaus gesagt hatte, und sein ablehnender Ausdruck in den Augen verschwand, seine Fassade um sein Innerstes bröckelte schnell. Jenny ging einige Schritte zurück, um sich auf das Sofa im Wohnraum zu setzen. "Jetzt geht es mir besser." Es war eine Aufforderung.

    Kevin und Jenny standen sich vor wenigen Sekunden gegenüber, wie bei einem Tanz. Jeder Satz war wie ein Schritt, ein Spielzug auf den der andere antworten musste. Doch jetzt verließ Jenny die Tanzfläche einfach und ließ Kevin damit stürzen. Sie überließ ihm Feld und Wort, und Kevin glaubte ihr sofort, dass sie nichts wusste, sonst hätte sie ihn darauf angesprochen. Aber er wollte nicht alleine auf der Tanzfläche stehen, und so setzte er sich zu Jenny aufs Sofa, die ihren Blick und ihre Aufmerksamkeit voll auf ihn richtete. "Ich bin suspendiert, wegen meiner Jugendzeit. Ich war in einer Jugendgang, ich habe gedealt und eingebrochen. Und weil Ben einen ungünstigen Satz während eines Streites gesagt hat, ist die Chefin darauf aufmerksam geworden. Ihr habe ich dann alles erzählt, weil ich das Versteckspiel satt hatte, und sie..." für einen Moment stockte der suspendierte Polizist kurz. "Sie hat dann nur ihre Arbeit getan." "Ben hat mir das mit dem unbedachten Satz über deine Vergangenheit erzählt... aber nichts über die Vergangenheit selbst. Er hat gemeint, das solltest du mir selbst sagen." Kevin nickte dankbar und rechnete es seinem ehemaligen Kollegen Ben hoch an, nichts erzählt zu haben... auch wenn der sein Vertrauen vorher schon gebrochen hatte. "Bist du deswegen abgehauen?" Wieder nickte der Polizist, der Widerstand vollkommen gebrochen und auch wenn er Jenny an seinem Seelenleben noch nicht teilhaben lassen wollte... die Tür hatte die junge Frau bereits geöffnet.
    Doch noch etwas brannte Jenny auf dem Herzen, auf der Seele. Etwas, was sie schon lange mit sich herumschleppte, worauf Hotte sie schon einmal angesprochen hatte, und was sich tief in ihre Seele gebrannt hatte, als Kevin über ihr kniete, als sie angeschossen wurde. "Und was hast du mir damals gesagt, als ich angeschossen wurde. Wie hast du das gemeint?" Sie fand, es war jetzt der richtige Zeitpunkt, endlich mehr über Kevin zu erfahren. Sie spürte, wie zaghaft er sich öffnete, wie wenig Widerstand der junge Mann ihr entgegenbrachte. Sie fühlte sich zu Kevin hingezogen, von diesem geheimnisvollen verschlossenen Kerl, bei dem es ein Abenteuer war ihn vorsichtig zu erkunden. Als er erstmal schwieg, überwand sie die letzte emotionale Mauer zwischen ihnen, als sie ein hochsensibles Thema ansprach. "Hat... hat es was mit... mit deiner Schwester zu tun?", fragte sie zaghaft und erschrak kurz, als sich Kevins Blick sofort auf sie richtete. "Wer hat dir das erzählt?", fragte er sofort mit Misstrauen in der Stimme. Eine Berührung von Jennys Hand auf seinem Knie und einem leisen: "Ist das jetzt noch wichtig?" ließ ihn den Vorwurf und den Ärger vergessen.

    Wie ein Film, der vor seinem inneren Auge ablief, immer und immer wieder, kam es ihm vor, als er langsam mit leiser Stimme erzählte. Seine sonst so selbstsichere Art war wie weggeblasen, und Jenny hing an seinen Lippen. "Ich war gerade 18 geworden, wir hatten in einem Club gefeiert, und ich war betrunken." Jenny konnte sofort heraushören, dass er sich Vorwürfe machte, bevor er überhaupt erzählte was passierte. Grob wusste sie es ja bereits von Hotte Herzberger. "Janine, meine Schwester, war dabei. Ich wollte sie um 12 nach Hause bringen, und wir wurden überfallen." Unbewusst begann Kevin an seinem Unterarm zu kratzen, was er immer tat, wenn er sich an diese Nacht erinnerte. In schlimmen Zeiten sah er aus, als hätte er eine Allergie. "Drei Typen. Sie haben mich hinterrücks niedergestochen, dann sind sie über Janine hergefallen. Ich konnte mich nicht bewegen, so wie du, als du angeschossen wurdest." Die junge Frau bemerkte jetzt erst, was sie, ungewollt, durch ihre Worte im Krankenhaus ausgelöst hatte. "Sie haben sie vor meinen Augen umgebracht, und ich konnte nichts dagegen tun." Atemlos hörte die junge Kollegin Kevin zu, ihre Hand ruhte immer noch auf seinem Knie, und ihre Augen waren traurig... nicht mitleidend sondern einfach nur traurig. Sie wollte auch gar nichts darüber wissen, wie er den Mörder dann geschnappt hatte, oder welches Gefühl es war... sie konnte sich das einfach nicht vorstellen, aber sie wusste nun, was Kevin durchgemacht hatte. "Ich habe damals den Menschen verloren, der mir sehr nahe stand. Und daran hatte ich mich vor der Dienststelle erinnert. Und deswegen hatte ich gesagt 'Bitte nicht schon wieder'" Die Worte trafen Jenny mitten ins Herz, jedoch nicht negativ. Kevin hatte sich an den Menschen erinnert, der ihr sehr nahe stand und das mit Jenny assoziert. Empfand er, dass er Jenny nahe stand? Gefiel ihr das, oder nicht? Verdammt, natürlich gefiel ihr das, aber seine Worte kamen so ehrlich und überraschend, dass sie erst einmal schlucken musste. Sie stand noch sehr unter dem Eindruck dessen, was Kevin erlebt hatte, was ihn vielleicht auch geprägt hatte.

    Für einen kurzen Moment herrschte Stille im Wohnraum, nur der Straßenverkehr rollte draussen brummend vorbei. "Warum hast du mir nicht gesagt, dass du verreist?", fragte Jenny, um die unangenehme Stille ein wenig zu durchbrechen. Sie wagte es irgendwie nicht, Kevin in den Arm zu nehmen, auch wenn das Verlangen wuchs und die emotionale Hemmschwelle weiter zusammenschmolz. "Ich weiß es nicht.", sagte der Polizist mit beinahe tonloser Stimme. Jenny wusste es... Vertrauen. "Warum fällt es dir so schwer, anderen zu vertrauen? Mir... Semir, Ben." Der Mann sah Jenny nicht an, er suche einen fiktiven Punkt, den er anvisieren konnte, als würde er eine Antwort danach suchen. "Ein Mitglied aus der Gang... der... bei dem ich gedacht hatte, er sei ein Freund. Ein Freund, dem ich auch ausserhalb der Gang vertrauen kann, und ihn deshalb eingeladen hatte." Jenny war das Gefühl, sie sei der Antwort ganz nahe. "Er hatte den Kerlen den Tipp gegeben, dass ich ziemlich hacke war an dem Abend... und die Gelegenheit günstig sei, wenn sie mich fertig machen wollen."
    Sein Blick ging zurück zu Jennys Gesicht, die ein wenig näher an Kevin heranrückte. Ihre Hemmschwelle schmolz weiter, sie hatte ein unendliches Verlangen Kevin irgendeine Geste des Trostes zu geben, vermischt mit einem Gefühl von Faszination und Anziehung zu diesem Kerl. Und auch der spürte eine Verbindung zu Jenny, die auf einer ganz anderen Ebene statt fand, als die Verbindung zu Semir und Ben, oder auch zu Jessy. Die fühlte sich freundschaftlich, brüderlich, geschwisterlich an... doch zu Jenny war das Gefühl ein anderes. Ein Gefühl, dass er sich selbst schon lange nicht mehr zutraute. Leise sagte er: "Ich schaffe es einfach nicht, jemandem zu vertrauen. Jemandem etwas anzuvertrauen, sicher zu sein, dass er es für sich behält. Ben hatte es sicher nicht absichtlich gemacht, aber es war ein Vertrauensbruch. Manchmal" Er seufzte kurz auf: "Manchmal ist das verdammt hinderlich in einer Beziehung zu anderen Menschen. Wenn man sich selbst nicht vertraut."

    Er rückte ein wenig von Jenny ab, als er ihren traurigen Blick sah, ihre Hand rutschte von Kevins Knie und als wolle er sie vor ihm schützen meinte er leise: "Meine Seele ist kalt, geh weg von ihr." Er war nicht der stützende Pfeiler, der er immer sein wollte... er brauchte jetzt einen. Jenny schüttelte sofort den Kopf, holte die Distanz auf dem Sofa zu Kevin sofort wieder auf und beugte sich zu ihm. Ihre letzte Hemmschwelle fiel, sie legte dem Mann neben ihr eine Hand auf die pochende Brust und sagte leise: "Nein... " Beide schauten sich tief in die Augen, und Jenny bildete sich ein, sie könne bei Kevins Blau in den Ozean blicken und darin versinken, als sie fortfuhr: "Ich bin jetzt hier bei dir. Und ich geb dir etwas von meiner Wärme ab." Dann beugte sie sich nach vorne zu dem Mann, der ihr seit Wochen keine Ruhe ließ, und ihre Lippen drückten sich aufeinander.

    Dienststelle - 8:00 Uhr

    Semir und Ben hatten den Bericht fertig, als die Chefin das Großraumbüro betrat, und allen einen guten Morgen wünschte. Sie hatte ein gutes Gespür für die Stimmung innerhalb der Dienststelle und merkte sofort, dass etwas anders war als sonst. Ihre beiden besten Männer schauten, als hätten sie heute morgen schlechten Kaffee getrunken, Jenny war blass wie eine Wand und nicht mal Hotte konnte sich zu einem freundlichen Lächeln durchringen.
    Den Bericht des nächtlichen Einsatzes fand Anna Engelhardt auf ihrem Schreibtisch. Sie bereitete sich erst einmal eine Tasse Kaffee zu, bevor sie sich an den Schreibtisch setzte und aufmerksam begann zu lesen. Als es interessant wurde, und der Name "Kevin Peters" in dem Bericht auftauchte, blickte die schwarzhaarige Frau mehrmals auf und beobachtete durch die Glasscheibe ihre Mannschaft. "Daher weht der Wind.", murmelte sie und war mehr als erstaunt. Sie las den Bericht zu Ende und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Was war hier wieder los gewesen heute Nacht? Ausgerechnet ein ehemaliger Kollege, der gerade innerdienstliche Probleme wegen Drogen in seiner Jugendzeit hatte wurde beim Pillen kaufen geschnappt? Die Hand der Chefin fuhr zum Telefon und wählte Semirs Durchwahl. "Würden sie bitte mit ihrem Kollegen in meinem Büro erscheinen?", sagte sie katzenfreundlich, und Semir gehorchte.

    Keine 2 Minuten später saßen die beiden Beamten vor dem Schreibtisch der Chefin. Auf lange Erklärungen verzichteten sie, denn der Hergang der Verhaftung stand in dem Bericht. Allerdings stand in dem Bericht nichts von Kevins Verhalten gegenüber den beiden Beamten, ausser dass er keine Aussage machte und schwieg. "Er war völlig verändert.", sagte Semir mit sachlicher Stimme, doch er konnte die Enttäuschung, die menschliche Enttäuschung die er heute morgen erlitten hatte nicht ganz verbergen. "Ein anderer Mensch. Als würde er uns nicht kennen... als wären wir seine Feinde." "Semir, es ist nicht unüblich, dass ein Drogenkäufer die Polizei nicht unbedingt als Freund und Helfer ansieht.", meinte Anna Engelhardt, und blickte ihren besten Mitarbeiter ein wenig treudoof von unten an. "Sie wissen was ich meine, Chefin." Semir wirkte etwas genervt und angespannt. "Warum hat er uns nicht anvertraut. Er hat doch vor 6 Wochen bei ihnen auch die Wahrheit gesagt. Wenn er jetzt wieder reingerutscht ist, warum schweigt er jetzt wieder?" "Es war wirklich unheimlich, Chefin.", schaltete sich jetzt auch Ben ein. "Er saß da, wie ferngesteuert. Er hat keinen Ton gesagt, ausser..." Ben verstummte sofort. Außer, dass er ihn loslassen soll, wollte er sagen, doch dann würde er zugeben gegen den Kollegen handgreiflich geworden zu sein, und das wollte er nicht. "Ausser?", hakte die Chefin sofort nach. "Ausser dass wir beide keine Ahnung hätten.", vollendete Semir und trat seinem Freund unterm Tisch ans Schienbein.
    "Was ist mit einem möglichen Undercover-Einsatz?" "Laut der inneren Abteilung ist Kevin nach wie vor suspendiert, und in der Kartei der verdeckten Ermittler ist er auch nicht.", antwortete Ben auf die Frage der Chefin. Diese nickte nun und bestätigte sich quasi selbst "Suspendierte Beamte dürfen weder in den normalen, noch in den Undercover-Einsatz." Sie blickte in die Gesichter ihrer Mitarbeiter, sie las Ratlosigkeit und Misstrauen. "Sie glauben beide nicht, dass er wieder rückfällig geworden ist?" Die Frage war eher eine Feststellung ihrer Gedanken. Ben antwortete sofort: "Nein. Ich bin mir sicher, dass er nicht rückfällig geworden ist. Sie haben doch gesehen, wie engagiert er dem Mordfall nachgegangen ist vor einigen Wochen." Semir dagegen zuckte mit den Schultern. Er kannte Kevin ebenfalls gut, aber er kannte ihn noch nicht als absolut sicheren Ermittler. Er kannte ihn einerseits als ein drogenabhängiger Polizist auf einem Rachetrip, und er kannte ihn als Entführungsopfer, das sich in eine seiner Geiselnehmerin verliebt hatte. Als wirklich seriösen Ermittler kannte Semir ihn nicht, und so war er sich nicht ganz sicher. "Ich weiß es nicht. Ein Selbstentzug... dann die Suspendierung." Er wollte nicht aussprechen, dass er sich durchaus vorstellen könnte, dass Kevin rückfällig geworden ist, und schaute seinen Freund beinahe entschuldigend an. "Das glaubst du doch nicht im Ernst.", fragte Ben ein wenig fassungslos. "Ben, sei mal ehrlich. Kevin ist äußerlich vielleicht unerschütterlich, aber das er das innerlich lange nicht ist, wissen wir doch beide. Und du hast selbst gesagt, dass er seine Arbeit dringend nötig hat... und die hat er jetzt seit Wochen nicht mehr." Ben schüttelte den Kopf... nein, das konnte einfach nicht sein.

    Die Chefin jedoch hatte einen Einblick in die Gedanken ihrer beiden Beamten. Doch tun konnte sie nichts... der Fall hatte nichts mehr mit ihnen zu tun, der Fall Kevin Peters sowieso nicht. Für sie war dieses Kapitel beendet. "Na gut... dann machen sie sich jetzt wieder an die Arbeit. Sie können wegen des Einsatzes um die Mittagszeit dann frei machen. Sagen sie das auch Herzberger und Frau Dorn." Die beiden Männer nickten, gaben die Info an die beiden Kollegen weiter und gingen in ihr Büro. Ben ließ sich auf den Stuhl fallen und sagte durchatmend: "Ich kann nicht glauben, was du eben gesagt hast." "Ben, ich habe versucht rational zu denken. Ich bin Polizist, ich muss mich an die Fakten halten. Und Fakt ist, dass Kevin noch vor einem Dreiviertel Jahr drogenabhängig war. Fakt ist, dass ihm ohne seine Arbeit die Decke auf den Kopf fällt. Fakt ist, dass er suspendiert ist, was ihm zu schaffen macht und Fakt ist dass er beim Drogenkauf erwischt wurde. Und ebenfalls Fakt ist, dass er in keinem Undercover-Einsatz ist, weil er immer noch suspendiert ist." Ben dachte nicht so rational wie Semir. Er stand Kevin näher, er hat mit ihm zusammengearbeitet und zum ersten Mal waren sie, bis zu dem Zwischenfall im Krankenhaus, ein richtiges Team, und der Polizist spürte wie gut es Kevin ging, wie mental stabil er während den Ermittlungen war, selbst nach Besuchen in der JVA bei Jessy. Trotzdem kam er nicht umhin, wenn er nur eine Sekunde rational nachdachte, so wie Semir, seinem älteren Partner recht zu geben. Es sprach wirklich alles gegen seinen Freund. Trotzdem behielt sein Herz die Oberhand. "Du warst die letzten Wochen, als er mit mir zusammen gearbeitet hat, nicht da.", beharrte er stur und blickte Semir an.
    "Sag mal...", sagte der vorsichtig, um Ben bloß nicht in irgendeiner Form zu verletzen. "Kann es sein, dass deine Sichtweise ein Selbstschutz ist?" Ben spürte, wie sein Schutz ein wenig bröckelte. Er fühlte sich ertappt. "Wie meinst du das?" "Damit meine ich, dass du dir die Schuld gibst... immer noch. Daran, dass Kevin suspendiert ist, und jetzt wieder abhängig." Ben fuhr sich mit den Fingern über die Lippen, als sei er nervös, als säße er in der Schule und der Lehrer hatte ihm gerade eine furchtbar schwere Frage gestellt, die er nicht lösen konnte... und 25 andere Schüler starrten ihn an. Er blickte Semir nicht in die Augen. "Du willst es nicht glauben, weil du dich verantwortlich dafür hälst." Was sollte er seinem Partner Lügen vorspielen. Verdammt ja, er fühlte sich immer noch verantwortlich.

    "Ja, Mann. Ja, du hast recht.", brach es aus Ben heraus, und Semir fühlte sich kein bisschen toll, weil er recht hatte... eher bedrückt. Er hätte ihm noch 100 Mal sagen können, dass Kevin für sein Handeln selbst verantwortlich war, und noch 1000 Mal hätte er ihm sagen können, dass jeder Mensch Fehler macht. Semir war kein Hitzkopf, niemand der jetzt Ben anschrie und sagen würde, wie bescheuert er sei, dass er sich immer noch Gedanken darum machte. Er setzte sich auf seinen Drehstuhl, und blickte den, etwas auf dem Stuhl zusammengesackten Ben an. "Ben... vor 18 Jahren hatte ich meinen ersten Einsatz auf der Autobahn. Ein Massenunfall, 12 Autos hatten sich ineinander verkeilt." Semirs Partner schaute den kleinen Polizisten an, er hing an Semirs Lippen und horchte jedes Wort. "Ein alter Mann wurde aus seinem Wagen geschleudert. Der RTW war noch nicht da, also habe ich erste Hilfe geleistet. Druckverband angelegt, Hand gehalten, geredet. Dem Mann ging es, als der RTW kam wieder richtig gut, er hatte mit mir geflachst, wer von uns beiden wohl mehr Schiss hätte." Semir musste anhand dieser Erinnerung kurz aufschmunzeln, und auch Ben konnte ein kurzes Lächeln nicht verbergen. Das Lächeln erfror aber sofort wieder, als Semir weitererzählte: "Noch im Krankenwagen ist der Mann gestorben." Für kurze Zeit hielt der Polizist inne, und sah aus dem Fenster, sagte dann: "Der erste Mensch, dem ich als Polizist helfe, schaffts nicht." Ben schluckte, als er seinen Freun dabei beobachtete. "Ich hab damals viel darüber nachgedacht, was hab ich falsch gemacht, was hätte ich anders machen können." Die braunen Augen wanderten wieder zu seinem Partner, der versuchte Worte zu finden: "Semir... du hast damals bestimmt...", doch er wurde von seinem Freund unterbrochen. "Ich erzähl dir das nicht, um dir klar zu machen, dass du nix falsch gemacht hast. Da kommst du mit der Zeit ganz alleine drauf." Wieder herrschte für einige Sekunden Stille, als die beiden Freunde sich anblickten, und Ben beinahe gefesselt war von Semirs Geschichte, und der Message, die er rüberbringen wollte. "Aber du sollst einfach wissen, dass du mit solchen Gedanken nicht allein bist. Und dass du immer wieder Entscheidungen triffst, bei denen du später grübelst, ob sie richtig oder falsch waren."

    Ben spürte, wie aufgewühlt er war, als er die Worte seines Partners, seines Freundes hörte, und er war unendlich froh, Semir als Freund zu haben. In Momenten wie diesen wurde ihm das immer wieder klar. So sehr man mit dem kleinen Polizisten Spaß haben konnte, rumflachsen konnte oder sich im Extremfall im Einsatz auf ihn verlassen konnte... nichts war mehr wert als ein Freund, der ein offenes Ohr für seine Sorgen hatte und dann auch noch solchen Rat gab. Er wünschte sich, dass Kevin diesen Rat auch angenommen hätte, das Kevin ebenfalls das Vertrauen in die beiden Freunde gehabt hätte, statt ständig seinen eigenen Weg zu gehen. "Danke...", presste der junge Kommissar hervor und nickte dankbar. Semir lächelte mit seinem typischen "Keine Ursache" - Lächeln.
    "Die Chefin hat recht.", meinte er dann, nachdem wieder ein wenig Stille den Raum erfüllte, und Ben innerlich versuchte, endlich Abstand von den Schuldgefühlen zu bekommen. "Wir sollten das ganze jetzt abhaken. Wir können eh nichts tun." Sein Freund wollte zwar innerlich widersprechen, aber er nickte zustimmend. Sie mussten wirklich ein wenig Abstand bekommen, einige Tage abwarten. Sie wussten ja, dass Kevin wieder im Land ist, und vielleicht würden sie ihn in ein paar Tagen mal besuchen. Jetzt waren die Wunden noch zu frisch. "Du hast wohl recht. Kevin hat diesen Weg gewählt. Wenn er uns nicht vertraut... dann können wir ihm nicht helfen.", sagte Ben, auch wenn ihm diese Worte schrecklich weh taten.

    Dienststelle - 5:30 Uhr

    Ein neuer Sommertag kündigte sich langsam, aber sicher an. Es war Mitte August, der Sommer war heiß und es gab mitunter einige schwere Unwetter, doch seit der August angebrochen war, war das Wetter einfach herrlich... nicht zu heiß, nicht zu schwül, wenig Regen. Auch der heutige Tag versprach sonnig zu werden, war doch der Himmel sternenklar und dunkelblau, nach Osten hin wurde er heller, bis er in einen roten Streifen mündete. Die Vögel waren bereits wach und taten dies auch lautstark kund. Die Stimmung in der Dienststelle der Autobahnpolizei war das exakte Gegenteil von dem, was das Wetter versprach. Sie war düster und bedrückend.
    Jenny saß an ihrem Schreibtisch und bearbeitete Protokolle, sie war mit den Gedanken nicht bei der Sache und erwischte sich dabei, wie sie Hotte die einfachsten Dinge fragte, weil sie ihr nicht einfielen. Hotte dagegen bewies Nachsicht, wusste er doch in welchem aufgewühlten Zustand Jenny sich gerade befand. Es war offensichtlich dass die junge Kollegin zu Kevin mehr empfand als pure Kollegschaft, als einfach Freundschaft. Es war mehr, tiefergehend und die junge Frau fühlte sich verraten von dem Polizisten, der ihr nicht so vertraut hatte, wie sie es sich gedacht hatte. Er hatte ihr nichts gesagt, als er fortging, er hatte sie jetzt genauso ignoriert, wie er seine Freunde ignoriert hatte.
    Ben und Semir schrieben gemeinsam an dem Bericht des Einsatzes. Es war die beste Ablenkung von dieser Begegnung mit Kevin, die sie beide aufgewühlt hatte. Trotzdem kamen sie nicht umhin, darüber zu sprechen. "Vielleicht haben wir uns auch beide in ihm getäuscht.", sagte Semir irgendwann betreten, und ließ Ben auf der anderen Seite aufschauen. Ihm war der Gedanke auch schon in den Sinn gekommen, Kevin war immer verschlossen und rückte mit Details immer erst raus, wenn er keinen anderen Ausweg mehr sah. "Wir sind nicht unfehlbar, Ben. Ich würde behaupten dass wir beide eine gute Menschenkenntnis haben. Aber jemand, der sich so sehr verschließt seinen Mitmenschen gegenüber. Vielleicht hatte die Chefin recht, dass sie ihm nicht vertraut hat." Ben seufzte auf bei diesen Gedanken, und fuhr sich durch die wuscheligen Haare. "Du hättest hier sein sollen, als wir ermittelt haben. Er war so locker drauf, so vertraut, ganz anders als im Winter." Die beiden schauten sich für einen Moment an. "Ich will das einfach nicht glauben, dass er auf der anderen Seite steht."


    Drogendezernat - 6:00 Uhr

    Trechsel und Kevin wurden von den Drogenfahndern auf direktem Wege ins Drogendezernat gebracht. Während Bienerts Männer Trechsel in den Verhörraum brachten, schob Bienert selbst Kevin in dessen Büro. Die Büros lagen, anders als auf der PAST, in einer Reihe an einem langen Flur. In Bienerts Büro konnte man nicht hineinsehen, so reichte es, dass er die Tür abschloss, um ungestört zu sein, was er jetzt auch tat. Danach nahm er Kevin die Handschellen ab, der sich abermals die Handgelenke rieb, und sich auf den Stuhl vor Bienerts Schreibtisch niederließ. "Das ist ja wirklich super gelaufen...", brummte der erfahrene Drogenfahnder, als er um den Schreibtisch herumging und sich auf den Chefsessel fallen ließ. "Damit hatte ich nicht gerechnet, dass die ausgerechnet an die Autobahnpolizei einen anonymen Hinweis geben.", meinte Kevin und fühlte sich unwohl. Die Wörter von Ben und Semir, die Blicke von Jenny... all das belastete ihn auf der Rückfahrt hierher. Er hätte ihnen gerne die Wahrheit gesagt. "Das bringt den ganzen Plan durcheinander. Dass Trechsler erwischt wurde, wirft kein gutes Licht auf dich. Es kann sein, dass du nochmal ganz unten anfangen musst, weil sie dir jetzt misstrauen." Der junge Mann auf dem Stuhl schüttelte den Kopf. "Abwarten. Ich kenne Trechsel von früher... ich kann über ihn erzählen, vielleicht macht das den Eindruck, dass ich keinen Freund verraten würde. Ausserdem...", Kevin beugte sich nach vorne zu Bienert... "Wenn noch mehr aus der alten Gang in der Orga drinhängen, komm ich da noch schneller rein, als gedacht."
    Bienert lächelte spitzbübisch. Genau aus diesem Grund hatte er sich über sämtliche Vorschriften hinweggesetzt, den suspendierten Beamten kontaktiert, und ihm dieses Angebot gemacht.

    Doch nach wie vor spürte Kevin Gewissensbisse gegenüber seinen Freunden. Er konnte seine Rolle des ignoranten, arroganten Menschen perfekt spielen, doch abschalten konnte er seine Gefühle nicht. "Wir lassen dich gehen, weil wir sicher sind, dass du nur ein kleiner Fisch bist und ermitteln oberflächlich weiter. Es passiert alles so, wie wir es abgesprochen haben, für den Fall, dass du mal hier sitzt.", sagte Bienert und blätterte in Akten. "Hätten wir Ben und Semir nicht die Wahrheit sagen können?", fragte sein Gegenüber vorsichtig, doch der Drogenfahnder fiel ihm sofort ins Wort. "Nein! Auf gar keinen Fall." "Aber Thomas, die beiden sind Freunde von mir." Er war sich nicht sicher, ob das auch noch nach diesem Morgen der Fall war. "Und sie würden garantiert nicht..." "Ich sagte NEIN!" Kevin verstummte, als die bestimmende Stimme von Bienert lauter wurde. Er war jemand, der sich nicht gerne von Leuten etwas sagen ließ, schon gar nicht wenn jemand wie Bienert nicht mal sein Vorgesetzter war, sondern in diesem Fall eher eine Art Geschäftspartner.
    Der großgewachsene Kommissar strich sich durch die gräulichen Haare, und sah in seiner glattgebügelten Jeans und seinem Jacket modisch modern, aber schick aus, er strahlte eine unheimliche Souveränität und Autorität aus, als er jetzt aufstand und um Kevin herumging. "Ich muss es dir wohl nochmal deutlich machen."

    Er blieb hinter dem jungen Polizisten stehen, der die Stimme genau vernahm. "Von dieser Sache wissen genau zwei Leute Bescheid... Du und ich. Nicht mal der Polizeipräsident weiß etwas.", sagte Bienert mit bestimmender, aber ruhiger Stimme. "Das ist kein Arbeitsverhältnis, das ist ein Deal. Du weißt, dass es um deine Lage bei der Inneren nicht gut aussieht, auch wenn der Leiter jedem was anderes erzählen will." Er sah den jungen Mann von der Seite an, der keinerlei Reaktion zeigte... ob er nun zuhörte oder die Ohren auf Durchzug stelle. "Warum glaubst du, habe ich dir dieses Angebot gemacht, Kevin? Weil ich deine Frisur so ausgeflippt finde?" Kevin drehte den Kopf, mit dieser Frisur, in Richtung seines Gesprächspartners. "Nein.", sagte er mit seiner monoton klingenden Stimme. "Weil kein anderer Undercover-Bulle es auch nur schaffen würde, ein Milligramm Koks bei diesen Händlern zu kaufen, weil sie keine Beziehungen haben, und das Milieu nur aus dem Polizei-Unterricht auskennen." Bienert spitzte die Lippen ein wenig, eine Art schnippisches Lächeln. "Ja, das auch.", gab er zu. "Aber vor allem weil ich nachts nicht schlafen kann, wenn ich weiß dass fähige Polizisten wie du wegen ihrer jugendlichen Vergangenheit stempeln gehen sollen." Kevin fühlte sich geschmeichelt, und das war ihm meist unangenehm. "Die Ausbildung, die du für solche Jobs brauchst, kriegst du nur durch Erfahrung... und am besten Erfahrung auf der anderen Seite. Ex-Kriminelle sind manchmal die besten Polizisten, weil sie alles aus zwei Blickwinkel sehen. Aus dem eines Kriminellen, und aus dem eines Polizisten."

    Der junge Mann spürte, dass Bienert versuchte zu appellieren, warum er Semir und Ben nichts erzählen durfte. "Ich mache das aber vor allem deswegen, weil dieser Drogenring der größte ist, der in Köln operiert und wir schon Jahre ermitteln, aber ausser kleinen Boten niemanden festnehmen können. Und du hast es geschafft in 3 Wochen bis zu Trechsler vorzukommen, und Beweise zu sammeln. Wenn wir diesen Ring sprengen und an den Boss kommen, dann kann ich die ganze Aktion auch vor dem Polizeipräsidenten verantworten, und du...", er zeigte mit dem Finger auf Kevin. "Du kriegst garantiert nochmal eine Chance im Polizeidienst." Nur aus diesem Grund hatte Kevin auch bei dieser Aktion mitgemacht... ein Undercover-Einsatz, der keiner war. Im Prinzip tat er strafrechtliches, er stand nicht unter dem Schutz der Polizei. Bienert war die einzige Bezugsperson, die ihn hier und da mal raushauen konnte. Für alle anderen Beamten war er Freiwild, Bienert hatte ihm dieses Angebot gemacht nachdem er von der Suspendierung mitbekommen hatte und recherchierte, dass einige aus dieser Jugendgang jetzt auch vermutlich in dem Drogenring aktiv waren. Trechsel war der erste Beweis. Das Problem war... würde Kevin in Schwierigkeiten geraten, würde ihm keiner helfen. Bienert hatte nicht alle Macht über die Polizei.

    Kevin wagte noch einen Versuch. "Trotzdem wäre es besser gewesen, Semir und Ben einzuweihen. Die beiden vertrauen mir und ich..." Er stockte kurz... vertraute er ihnen wirklich? "Ob sie dir nach der Aktion heute morgen noch vertrauen...", meinte Bienert misstrauisch. "Und du vertraust ihnen... ich nicht. Ich kenne zwar Semir von früher, aber ich würde nicht meine Hand ins Feuer legen. Haben sie denn wirklich alles für sich behalten, was du erzählt hast?" Kevin schaute Bienert mit festem Blick an. "Dann frag ich mich, wie es zu deiner Suspendierung gekommen ist, hmm?", meinte er ironisch ahnungslos, und ging wieder hinter seinen Schreibtisch, während der jungen Mann stumm zu Boden blickte. "Jetzt wo sie wissen, dass ich wieder da bin, werden sie Kontakt zu mir aufnehmen.", sagte er mit leiser Stimme. "Dann denk dir eine Geschichte aus. Und wenn sie dir nicht glauben, dann nur weil sie denken, du wärst abhängig. Das kannst du widerlegen, weil du keinerlei Drogen besitzt." Wieder schauten die beiden Männer sich an, und der Drogenfahnder verstand an Kevins Blick, dass der nicht begeistert war. "Die Sache darf niemand... ich betone: NIEMAND erfahren. Wenn das rauskommt, bist du deinen Job auf jeden Fall los." "Und du auch...", meinte Kevin frech, und wurde von Bienert mit tadelndem Blick bedacht: "Ich bekomme höchstens ein Disziplinarverfahren, das wars aber auch. Gute Taten in der Vergangenheit werden bei diesem Verein nicht vergessen, Kevin.", sagte der Mann mit einem Hauch Überheblichkeit: "Aber dich kann ich ohne weiteres über die Klinge springen lassen. Also würde ich mir gut überlegen, was ich meinen Freunden sage, wenn ich du wäre." Bienert wurde nun deutlicher, weil er merkte dass Kevin, in seinen Augen, nicht vernünftig wurde. "Und sei vorsichtig. Diesen Ben kenne ich nicht, aber Semir ist mit allen Wassern gewaschen. Eigentlich löblich, wenn du ein gutes Verhältnis zu solch guten Polizisten hast.", sagte er etwas versöhnlicher, als Kevin letztlich nickte.

    Doch bevor der junge Mann von Bienert quasi wieder in die Freiheit entlassen wurde, wurde seine Stimme noch einmal schärfer: "Ich verlasse mich auf dich, mein Junge. Denk dran... es ist deine letzte Chance."

    Verhörzimmer - 4:30 Uhr

    "Ben, es reicht!" Die laute und sehr bestimmte Stimme von Bens Partner Semir erfüllte in diesem Moment den Raum, kaum hatte der Polizist seinen damaligen Kollegen Kevin am Kragen gepackt und vom Stuhl gezogen. Semir war im Nebenzimmer allzeit bereit sofort einzugreifen, und als sein Partner sich von der Schweigsamkeit von Kevin soweit provozieren ließ, dass er handgreiflich wurde, sah der erfahrene Polizist den Moment gekommen. Ben blickte Kevin nochmal an und wieder nur dieser kalte feindseelige Blick. Für einen Moment schien er zu überlegen, Semirs Forderung Folge zu leisten oder zu zu schlagen, doch sein Kopf gewann wieder Oberhand über seine Gefühle, und der Griff um Kevins Jackenkragen löste sich so dass der junge Mann sich wieder hinsetzen konnte.
    Semir schloß die Tür des Verhörzimmers und setzte sich nun seinerseits Kevin gegenüber, während Ben sich ein wenig in den Hintergrund gesellte. Er musste seinen Puls runterbekommen, musste versuchen mit dieser unwirklichen Situation, mit der er niemals gerechnet hatte, klar zu kommen. "Also Kevin...", begann Semir mit ruhiger Stimme, so wie er immer mit dem Mann gesprochen hatte, wenn er sich eine unsichtbare Mauer aus Schweigen und Arroganz um sich herum aufgebaut hatte. "Wir können das Spielchen jetzt weiterspielen und sofort die Kollegen von der Drogenfahndung anrufen, oder du sagst uns jetzt warum du bei diesem Kerl die Pillen gekauft hast." Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, Ben traute sich kaum zu atmen, so dicht war die Spannung in diesem Raum. Kevin schien dieses Spielchen überhaupt nichts auszumachen, er saß da, als wäre er taubstumm oder würde Semirs Sprache nicht verstehen, unter einer Käseglocke und abgeschieden von der Welt. "Bist du auf einem Undercover-Einsatz, von dem du nichts erzählen darfst? Glaubst du, wir plappern das weiter, oder was?", versuchte der erfahrene Polizist diese Möglichkeit auszuloten und hoffte so sehr, dass Kevin betreten nicken würde... doch nichts tat sich. Der Blick wanderte einige Male zu Boden, mal setzte er sich etwas anders hin, aber immer hielt er die Arme vor der Brust verschränkt - eine typische Ablehnungsgeste, eine Abwehrhaltung.

    Semir seufzte auf... es war schon früher sehr schwierig zu diesem Menschen vor zu dringen, selbst wenn er dir freundlich gesinnt war. In diesem Moment war es unmöglich. Sollte Jenny es mal versuchen? Wollte Semir ihr das wirklich zumuten? Er entschied sich dagegen, und stattdessen für einen anderen Weg, als er von dem Stuhl aufstieg. "Gut, alles klar. Dann rufen wir die Jungs von der Drogenfahndung, die können euch abholen kommen. Ob die allerdings so freundlich fragen wie wir, das bezweifel ich." Nochmal blickte er den schweigenden jungen Mann an, von dem er dachte, er wäre auf dem richtigen Weg zurück zu einem halbwegs geregelten Leben in dem letzten Dreiviertel Jahr. Weg von den Drogen, raus aus dem Sumpf, wo er gewohnt hatte, zurück zu einem geregelten Polizeidienst, bei dem er sein Ziel, dass er sich damals gesetzt hatte, weiter verfolgen kann. Und nun schien er tiefer drin zu stecken als zu vor, die Innere ermittelte gegen ihn, er war suspendiert, und jetzt auch noch bei einem Drogenkauf erwischt worden. Die Möglichkeit, dass es sich um einen Undercover-Einsatz handeln würde, schätzte Semir fifty-fifty ein. Es war möglich, natürlich... aber genauso war es möglich dass Kevin jetzt einfach mal Pech hatte. Er musste ja vorher auch irgendwie an seine Mittelchen gekommen sein, und dass jemand einen anonymen Tipp geben würde, konnte er ja nicht wissen.
    Als auf diese Drohung immer noch keine Reaktion kam, blieb Semir an der Tür kurz stehen, und blickte den jungen Mann nochmal an... ein kurzes Nachdenken und einen Trumpf wollte er noch spielen, um auch Kevins Reaktion zu beobachten. "Weißt du eigentlich, wie weh du Jenny getan hast." Einen normalen Menschen wäre keine Reaktion aufgefallen, doch Polizisten wie Ben und Semir entging nichts. Sie mussten diese Auffassungsaufgabe besitzen um kleinste Gesichtsbewegungen bei Verhören regestrieren zu können, und so sahen sie jetzt auch das kurze Zucken in Kevins Mundwinkel, als der arrogante Gesichtsausdruck für einen Bruchteil wich, der Blick sich zur Seite richtete und die Arme sich noch enger überkreuzten. Eine Reaktion, der sich Kevin nicht entziehen konnte, als er den Namen "Jenny" hörte und an das geschockte Gesicht dachte, dass er sah als sie ihm ins Gesicht leuchtete. Semir schmunzelte beinahe spöttisch, bevor er den Raum verließ... "Na immerhin...", meinte er und nun war er es, der Kevin zumindest ansatzweise reizte, was dieser sich jedoch nicht anmerken ließ.

    Draußen vor der Tür musste Semir erstmal durchatmen, während Ben sich mit beiden Händen durch die langen Haare fuhr. "Ich weiß gar nicht was ich sagen soll...", sagte er mit betretener Stimme und sein Partner nickte zustimmend. "Ja, das ist ganz schön heftig, wie er sich verhält. Wenn er einen Einsatz hat, warum sagt er es uns nicht?" "Und selbst wenn er wirklich erwischt wurde... warum sagt er es uns nicht? Er weiß doch, dass wir auf seiner Seite stehen." Ratlosigkeit befiel die beiden Beamten, die unter dem Eindruck von Kevins feindseeligem Verhalten standen. Beide fühlten sich keinesfalls wohl zu wissen, dass da drin ihr Freund saß, der die beiden allerdings als solche gerade überhaupt nicht sah. Es tat ihnen weh, nichts tun zu können, und die Gründe für dieses seltsame Verhalten nicht zu wissen.
    Beide gingen langsam den Flur zurück in Richtung Großraumbüro. Jenny stand an der großen Gläserfront mit dem Rücken zu den beiden Kommissaren und betrachtet das schmale helle Band am Horizont, das den Morgen langsam ankündigte. Hotte war ebenfalls bereits zurückgekehrte und kochte Kaffee für die kleine Mannschaft. Sofort, als Jenny durch die Spiegelung sah, dass ihre beiden Kollegen zurückkehrten, drehte sie sich um und sagte aufgeregt: "Hat er was gesagt?" Ben schüttelte resigniert den Kopf und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen. "Er schweigt wie ein Grab. Wir wissen nicht, ob er undercover unterwegs ist, oder..." Semirs Stimme stockte kurz, als er sich auf die Lehne des Stuhles stützte, auf den Ben sich fallen gelassen hat. "Oder ob er tatsächlich Drogen kaufen wollte." Jenny blickte unsicher zwischen den Männern hin und her. "Aber... warum... warum sollte er sowas tun?", fragte sie mit zittriger Stimme, obwohl sie eine Vorahnung hatte, die sie aber nicht aussprechen wollte. Ben blickte unsicher in Semirs Richtung, ob ihres Wissensvorsprung über den Mann, der im Verhörzimmer saß, und der Jenny offenbar wichtiger war, als angenommen. "Weil Kevin bis vor einem Dreivierteljahr diese Pillen noch genommen hatte.", sagte der erfahrene Polizist mit leiser, aber bestimmter Stimme zu Jenny. Sie fühlte sich, als würde man ihr den Boden unter den Füßen wegziehen, als würde sich eine Falltür unter ihr auftun, und sie in die Tiefe hinabstürzen lassen. Beinah unwirklich schüttelte sie den Kopf, und über ihre Lippen kam nur ein kurzes "Nein.". Sie wäre so gern selbst ins Verhörzimmer marschiert, um Kevin auszufragen, aber ihre Beine gehorchten ihr gerade nicht, und sie hatte Angst vor dem, was Kevin sagte... Angst vor seiner Art. "Jetzt warte erstmal ab.... es wird sich alles aufklären.", meinte Ben und stand auf, um Jenny tröstend den Arm um die Schulter zu legen.

    "Okay...", meinte Semir und nahm das Heft des Handelns wieder in die Hand. "Hotte, du rufst bei der Bereitschaft der Drogenfahndung an und meldest die Festnahme bei einem Drogendeal, und sie sollen sich die beiden hier abholen. Ben, du schaust mal in der Polizeidatei für Undercover-Einsätze nach, ob Kevin da irgendwo drin steht. Und ich klingel den Leiter der Inneren Abteilung aus dem Bett, um mal nachzuhören, ob Kevin immer noch suspendiert ist." Semir hatte in dieser Nacht die Leitung über die Dienststelle, da Anna Engelhardt für Nachteinsätze nicht mehr alarmiert werden wollte, ausser bei besonderen Vorkommnissen.
    Semir drehte sich auf dem Stuhl zum Telefon, als Hotte ebenfalls sich zu seinem Telefon bewegte und Ben sich an den Computer von Andrea setzte. Jenny folgte ihm sofort.
    Mit schnellen Klicken hatte Semir die Handynummer des Leiters der inneren Abteilung gefunden. Der würde nicht froh sein, wenn man ihn um 5 Uhr aus dem Bett klingeln wollte, aber es war nunmal nötig. Es dauerte auch bis zum 5ten Klingeln, als die verschlafene Stimme erklang. "Guten Morgen. Gerkhan, Autobahnpolizei, entschuldigen sie die frühe Störung.", meldete sich Semir höflich. "Ich hoffe für sie, dass ihr Anliegen wichtig ist.", knurrte die Stimme auf der Gegenseite. "Ich befürchte es zumindest.", meinte der erfahrene Polizist. "Ich müsste wissen, ob der Beamte Kevin Peters nach wie vor suspendiert ist von ihrer Seite, und ob sie immer noch in den Ermittlungen stecken, diesbezüglich." Semir konnte das Geraschel der Bettdecke und das Tapsen von nackten Füßen auf Fliesen vernehmen, scheinbar hielt der Leiter das Handy nicht am Ohr, sondern ließ es in der Hand baumeln, bis er zu seinem Schreibtisch fand und anscheinend seinen Dienstlaptop hochfuhr. "Und das hätte keine Zeit gehabt bis heute morgen um 8 Uhr... in drei Stunden?", fragte die ungehaltene Stimme aus dem Telefon. "Leider nein. Wir bräuchten die Information sofort." "Und warum, wenn ich fragen darf?" Semir fuhr sich mit dem Finger über die Stirn... für eine Ausrede bräuchte er zuviel Bedenkzeit, also sagte er die Wahrheit... auch ein wenig aus Wut über Kevins Verhalten. "Wir haben Herr Peters während einer Strafhandlung aufgegriffen und wollen wissen ob wir ihn wie einen Undercover-Polizisten oder einen Straftäter behandeln sollen." Schnelle Klickgeräusche ließen den Polizisten vermuten, dass der Leiter der inneren Abteilung bereits auf der Suche war. "Laut meinem Sachstand.", sagte er dann irgendwann... "Wird gegen Herrn Peters weiter ermittelt, allerdings stehen die Ermittlungen vor dem Abschluß. Trotzdem ist die Suspendierung nach wie vor. Und ein suspendierter Kollege darf NICHT zu Undercover-Einsätzen herangezogen werden.", zerstörte der Mann Semirs Hoffnung. Der Niederschlag stand dem Beamten ins Gesicht geschrieben. "Es sieht also so aus, als hätten wir demnächst im Falle Peters doch noch mehr zu ermitteln. Seinen damaligen Taten hätten wir nämlich wenig bis nichts nachweisen können. Das können sie ihm ausrichten, um ihm den Abend zu versüßen." Semir zog schnippisch die Mundwinkel hoch. "Vielen Dank.", meinte er halb ehrlich, halb ironisch und wünschte noch eine gute Restnacht.

    Als der Hörer auf der Gabel landete, sagte Hotte sofort, dass die Drogenfahnder in einer halben Stunde hier sein würden, und sie die Verdächtigen nicht vernehmen sollten. "Warum denn das nicht?", fragte der kurzfristige Dienststellenleiter. "Ach, du kennst doch die Drogis. Die lassen sich nicht gern reinreden.", winkte Hotte nur ab. Semir schaute zu Ben und Jenny... Jenny gefiel ihm gar nicht. Sie war blass um die Nase, er konnte erkennen wie ihre Hände ein wenig zitterten. Ihr ging die Sache sehr nahe, und umso wütender wurde Semir auf seinen Freund Kevin, der dieses Spiel mit ihnen spielte, statt klaren Tisch zu machen. Und dass er tatsächlich eine Straftat begangen hatte wurde immer deutlicher als Ben niedergeschlagen sagte: "Momentan gibt es keinen Undercover-Einsatz bei den Drogenfahnder. Und Kevins Akte ist nach wie vor verschlossen, weil er suspendiert ist." Semir nickte und bestätigte dies, in dem er das Telefonat mit dem Leiter der inneren Abteilung wiedergab. "Dann steckt Kevin ziemlich in der Scheisse."

    Eine halbe Stunde später kamen vier Kollegen von der Drogenfahndung. Es wurden Hände geschüttelt und Semir erkannte Thomas Bienert, der ungefähr in seinem Alter war, und einen ähnlich erfolgreichen Werdegang vorzuweisen hatte, wie Semir. Er war Leiter der Dienststelle "Organisierte Kriminalität u. Drogenfahndung", war oftmals in der Zeitung aufgrund von Fahndungserfolgen, war Hauptverantwortlicher für das Ausheben eines ganzen Drogenschmuggelrings, in denen auch Frankreich, Luxembourg und Belgien drinhingen. Bienert war bei der gesamten Polizei hochgeschätzt, war auch äusserlich eine respektvolle Erscheinung, recht groß und für sein Alter durchtrainiert, hatte silber-melierte Haare und einen, eigentlich gar nicht mehr so modernen Schnauzbart. Er und Semir hatten öfters mal zusammengearbeitet, sie kannten und mochten sich, und Semir hatte ihn als wirklich angenehmen Kerl in Erinnerung. "Was habt ihr denn für uns?", fragte er zuerst und ließ sich einen Kaffee einschenken. "Wir hatten einen anonymen Hinweis bekommen. Zu knapp, um euch zu alarmieren.", nahm Semir gleich die nächste Frage vorweg. "Auf dem Rastplatz kam es zu einem Drogengeschäft. Die Menge ist nicht besonders, aber die Festgenommenen dafür eher." Bienert war völlig aufmerksam, als Semir fortfuhr: "Einmal haben wir da Christian Trechsel, nach unseren Erfahrungen nicht unbekannt im Drogenmilieu...", was Bienert sofort nickend bestätigte... "und dann Kevin Peters... ein Polizist." Ben war ein wenig erstaunt um die Offenheit von Semir gegenüber dem Beamten, aber er konnte es auch verstehen. Kevin zeigte keinerlei Vertrauen, warum sollten die beiden Polizisten ihren Kollegen noch mehr in Schutz nehmen. "Ein Polizist?", fragte Bienert erstaunt, und sein Gegenüber nickte. "Er hat mit uns gearbeitet, wurde aber suspenidert... aufgrund von... von Drogengeschichten aus seiner Jugend, die jetzt erst rausgekommen sind." Der erfahrene Drogenfahnder schaute kurz in die Runde. "Schuster, bleib bei deinen Leisten.", murmelte er und Jenny, die stumm und beinahe verschüchtert bei Hotte saß, sprang auf. "Was sagen sie da?", fuhr sie Bienert an, der überrascht aufblickte, doch Hotte hatte bereits den Arm um Jenny gelegt, und sie wieder auf den Stuhl gedrückt.

    "Haben die Verdächtigen etwas gesagt?", fragte Bienert dann in Semirs Richtung. "Ihr habt doch gesagt, wir sollen sie nicht vernehmen." Der Drogenfahnder schmunzelte. "Ach Semir... ich kenne dich doch.", was auch Semir zum Schmunzeln brachte. "Okay, also Kevin hat nichts gesagt. Wir hatten erst gedacht, er wäre im Undercover-Einsatz... aber naja." "Soweit ich weiß dürfen suspendierte Kollegen in keinen Undercover-Einsatz", bestätigte nun auch der Mann neben Semir, der wiederrum nickte. "Den anderen haben wir nicht verhört." "Okay... dann packen wir die beiden mal ein und unterhalten uns mit ihnen auf dem Zentralrevier.", sagte er und deutete seinen drei Kollegen an, die beiden holen zu gehen.
    Es war wie das Durchschreiten eines Spaliers zum Galgen, so kam es den Männern von Cobra 11 vor. Semir, Ben, Hotte, Jenny und die restlichen Kollegen, die bei dem Einsatz dabei waren, saßen im Großraumbüro und blickten raus auf den Flur, als zuerst Trechsel in Handschellen von zwei Männern abgeführt wurde, und dahinter folgte sofort Kevin... ebenfalls die Hände auf dem Rücken, Bienert und ein Kollege dicht hinter ihm. Der Drogenfahnder nickte Semir dankbar zu, doch die Gedanken des Autobahnpolizisten waren einzig bei diesem Mann, mit dem kalten Blick, der einfach geradeaus sah. Nur ein mal, einen kurzen Moment drehte sich der Kopf und ein Blick streifte Jenny, die dicht bei Hotte stand und aus deren Augen eine unendliche Traurigkeit ausging. Diese Traurigkeit traf Kevin wie ein Stich, denn der Wirkung dieses Blickes konnte er sich in diesem Moment, anders als denen von Ben und Semir, nicht entziehen.

    Dienstelle – 04:00 Uhr

    Es dauerte ein wenig, bis die erste Aufregung sich legte. Alle Beamten der Autobahnpolizei, die im Einsatz waren, waren einigermaßen geschockt über die Erkenntnis, dass Kevin der Käufer dieser Pillen war. Ben und Semir bekamen davon erst mal nichts mit, den Hotte hielt es für besser, das jetzt nicht auf dem Rastplatz aus zu diskutieren. So gab er über Funk nur ein „Wir haben den Kerl“ an Semir weiter, der seinerseits bestätigte, den Verkäufer der Drogen festgenommen zu haben. Gemeinsam rollte man aufs Revier, Hotte war zu perplex über Kevins Schweigen auf dessen Frage, was das hier alles sollte, als dass er Kevin anders behandelte als jeden anderen. So setzte er sich nach hinten zu dem, auf den Rücken mit Handschellen gefesselten jungen Mann, während Jenny mit zitternden Händen den Wagen zur Dienststelle fuhr.

    Mit einigem Rückstand kam der grün-silberne Streifenwagen bei der PAST an. Semir und Ben waren bereits drin mit ihrem Verdächtigen, sie hatten ihn in den Verhörraum gebracht, wo ein weiterer Beamter auf ihn aufpasste. Sie staunten aus dem Großraumbüro nicht schlecht, als Hotte ihren ehemaligen Kollegen vor sich her trieb. „Ich glaub, ich spinne… Hotte?“ Semirs Stimme klang beinahe vorwurfsvoll, als er realisierte, wenn Hotte da festgenommen hatte. Auch Ben war einerseits vor Überraschung völlig perplex, andererseits ebenfalls empört, dass ausgerechnet Herzberger Kevin wie einen Verbrecher behandelte. Nur Sekunden später dämmerte aber beiden Polizisten die Frage… warum war ihr Freund bei diesem Deal dabei?
    Sowohl Hotte als auch Kevin blieben stumm, der dicke Polizist erfüllte seine Pflicht und brachte Kevin in den zweiten Verhörraum, die beiden Beamten folgten ihm, während Jenny sich erst mal an ihren Schreibtisch setzte… sie fühlte sich schlecht und ihr war schwindelig, zu sehr war sie beeindruckt von diesem ungewollten Wiedersehen. Wie traurig und niedergeschlagen sie war, als sie von Ben vor einigen Wochen hörte, dass Kevin sich nach der Suspendierung wortlos abgesetzt hatte, es nicht mal für nötig hielt, ihr Bescheid zu sagen. Und nun dieses plötzliche Wiedersehen, als Verdächtiger bei einem Rauschgiftdeal, bei dem sie den Mann beinahe überfahren hatte. Nein, das war erst mal zu viel für ihre Nerven.

    Kevin ließ sich auf den Stuhl im Verhörraum sinken, und Semir beugte sich hinter ihn, um ihm die Handschellen zu öffnen. Das beengende Gefühl um die Handgelenke des jungen Mannes löste sich sofort, während er Semirs und Hottes Blick auf sich spürte. Fast mechanisch rieb er sich die Handgelenke ob der roten Striemen, die die Handschellen an seinen Gelenken an Spuren hinterlassen haben, und Hotte murmelte ein kurzes „Sorry“, deutete dabei auf den kleinen Cut unterhalb von Kevins Auge, von dem eine kurze Blutspur ausging. Es war eine gespenstische Stille in dem Verhörraum, den die Polizisten jetzt erst mal wieder verließen, bis auf einen uniformierten Beamten. Als Semir die Tür geschlossen hatte, atmete er, wie seine beiden Kollegen, tief durch. Dann wandte er sich an Hotte: „Habt ihr ihn denn nicht erkannt?“ „Nein, das ging viel zu schnell. Es kam der Zugriff, er ist weggelaufen, ich hab ihn mit der Tür erwischt. Erst als Jenny ihn angeleuchtet hatte, hatte ich ihn erkannt.“, rechtfertigte sich der Polizist mit ruhigem Ton. Er war selbst ein wenig geschockt, aber dennoch gefasst, denn er hatte auf der Autobahn wirklich schon alles gesehen und erlebt. Aber er hatte auch eine recht vertrauensvolle Bindung zu dem jungen Mann, und würde nur zu gerne wissen, was ihn dazu bewogen hatte.
    „Die Frage ist doch… was hat Kevin da gemacht?“, sagte nun Ben, der sich einfach nicht vorstellen konnte oder wollte, dass Kevin wieder zu Dealen angefangen hatte. Semir zuckte kurz mit den Schultern. „Dann fragen wir ihn doch am besten selbst.“ „Lass mich zuerst, bitte.“, meinte Ben und ging sofort wieder ins Verhörzimmer, während Semir und Hotte in das Spiegelzimmer nebenan gingen.

    Ben hatte eine engere Beziehung zu Kevin. Beim letzten Fall vertrat Kevin Semir, und die beiden Polizisten verstanden sich, sie mochten sich und bauten eine vertrauensvolle Partnerschaft auf. Bis es zu einem Streit kam, und Ben unbedachte Äusserungen von sich gab, ob Kevins jugendlicher Vergangenheit als Drogendealer. Die Chefin bekam davon Wind, und das Kartenhaus von Kevin bekam Risse. Er gestand seine Vergangenheit, und Anna Engelhardt konnte nichts anderes tun, als die Sache der Abteilung für innere Angelegenheiten zu melden. Seitdem war Kevin suspendiert, und hatte sich wortlos quasi aus dem Staub gemacht. Das war über 6 Wochen her, und weder Semir noch Ben hatten etwas von ihrem Partner gehört… und nun tauchte er bei einem Drogendeal als Käufer auf, der von einem anonymen Anrufer verraten wurde.
    Ben schloss die Tür hinter sich, schritt auf den Tisch zu, und setzte sich seinem Freund gegenüber. Dabei stützte er den Kopf auf seine Hände, die Ellbogen auf den Tisch, während Kevin eine Abwehrhaltung eingenommen hatte… den Oberkörper zurückgelehnt, die Hände vor der Brust verschränkt, der Blick kalt und abweisend. „Also du kennst das Spielchen ja.“, sagte der Polizist mit bestimmter Stimme, auch wenn er sich gerade überhaupt nicht gut oder überlegen fühlte. „Was hattest du mit diesem Typen zu tun?“ Kevin nahm den Blick nicht von Ben weg. „Das habt ihr doch gesehen.“ „Ich möchte es aber von dir hören.“ Kevin schwieg, schaute für einen Moment auf die Spiegelwand, und wusste genau dass Semir dahinter ihn beobachten würde. Hier in diesem Raum hatte Kevin mal vom "großen Bruder" in Bezug auf den eher kleinen Polizisten gesprochen, doch dieses Gefühl war für Semir in diesem Moment, wo ihn der kalte Blick des jungen Mannes traf, unendlich weit weg.

    "Okay...", meinte Ben, als er realisiert hatte, dass er auf die Frage keinerlei Antwort erhielt. Er griff das Kartonpäkchen, was vor den beiden auf dem Tisch lag, und öffnete es. Er betet stumm, dass er Smarties oder Überraschungseier drin fand, oder zumindest nicht genau die gleichen Pillen, die Kevin damals genommen hatte... doch er wurde enttäuscht. Der Karton enthielt sechs Glasampullen, die randvoll gefüllt waren mit pinken kleinen Pillen. "Das sind doch die gleichen, die du damals genommen hast, oder?", fragte er in Richtung seines Gegenübers und wedelte mit einer Ampulle vor seiner Nase. Es war beängstigend, wie abweisend und teilnahmslos sein Freund erschien, jedoch teilnahmslos nicht, weil er irgendetwas genommen hatte, sondern absolut bewusst desinteressiert und gelangweilt. Ohne die Pupillen zu bewegen um der Ampulle zu folgen blickte er Ben an, der langsam zusehends die Geduld verlor. Wenn Kevin etwas perfekt beherrschte, dann sein Gegenüber durch seine gespielte Arroganz und Gleichgültigkeit zur Weißglut zu bringen.
    Mit einem Knall stellte Ben die Ampulle wieder auf den Tisch. Semir wurde es neben an langsam unbehaglich und auch Hotte wischte sich über die feuchte Stirn. "Du warst weg von dem Zeug, hast du gesagt. Du und ich wissen, dass du den Scheiss nicht mehr nimmst. Also, warum kaufst du den Dreck bei einem gesuchten Dealer der Stadt?", fragte der Polizist, mittlerweile mit etwas erregterer Stimme. Ein kaltes, beinahe zynisches Lächeln entstand auf Kevins Gesicht. "Du weißt gar nichts...", sagte seine monoton klingende Stimme, und sie klang so abweisend, dass es Ben eine Gänsehaut verschaffte. Was war nur mit diesem Kerl geschehen innerhalb der letzten 6 Wochen.

    Ben biss sich auf die Lippen, sein Mund bewegte sich, als würde er Kaugummi kauen als er sich langsam von seinem Stuhl erhob und durch den Raum schritt. "Ja... wahrscheinlich weiß ich wirklich nichts.", sagte er, als er auf der gegenüberliegenden Wand ankam, und nun schräg hinter Kevin stand, der keinerlei Anzeichen machte, seinen Kopf zu dem Kommissaren zu drehen. Ben fühlte wieder die Schuldgefühle in sich aufkommen, die er bereits verdrängt hatte, Schuldgefühle an Kevins jetziger Situation. Doch dann rief er sich wieder Semirs Worte ins Gedächtnis: Keiner hatte Kevin gezwungen, das zu tun, was er tut. "Was ist passiert, Kevin? Warum verhälst du dich so?", fragte er geradeaus, was ihm gerade auf der Seele brannte. Warum redete der junge Mann nicht mit Ben, so wie er es vor einigen Wochen noch tat, als er Vertrauen hatte. Ist es wirklich nur wegen der damaligen Sache? Oder war noch etwas passiert? Ben's Stimme wurde wieder lauter: "Warum hast du am Rastplatz die Drogen gekauft. Du nimmst den Dreck nicht mehr." Der letzte Satz war mehr ein Wunsch, als pure Überzeugung, den langsam begann Bens Überzeugung in seinen Freund zu bröckeln. Selbst wenn er einen Undercover-Einsatz bestritt, könnte er das doch jetzt zugeben, und alles wäre in Ordnung. Aber dann hätten sie über die Innere doch erfahren, dass seine Suspendierung aufgehoben sei... dann hätte er es ihnen noch erzählt.
    Das Schweigen, diese kalte Ablehnung, machte Ben innerlich rasend und sein Herz übernahm für kurze Zeit die Kontrolle, als er zu Kevin schnellte, den Mann am Kragen packte und vom Stuhl hochzog. "Mann, jetzt mach endlich das Maul auf!!", schrie der Polizist zornig, und wieder trafen sich die Blicke, Bens beinahe verzweifelten Augen auf den abweisenden Blick seines Freundes, der mit ruhiger Stimme, ohne sich körperlich zu wehren, beinahe bedrohlich sagte: "Lass mich los..." Ben hatte das Gefühl, als würde man ihm den Boden unter den Füßen wegziehen... wie konnte er sich in einem Menschen nur so getäuscht haben.

    Es ist wirklich Wahnsinn... da wollte ich heute morgen noch eine Schreibpause einlegen, und schreibe kurz vor Feierabend das erste Kapitel der neuen Story, weil ich den Beginn schon lange im Kopf hatte. Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause entstehen wie von selbst die weitere Handlung, die ebenfalls für die nächsten zwei oder gar drei Kapitel reicht, so wie weitere Szenen in der späteren Geschichte, die ich einfach brauche, um eine neue Story zu schreiben.

    Also kann ich sie jetzt auch schon reinstellen und "live" weiterschreiben, ohne Angst zu haben, dass ich irgendwo hängen bleibe.

    Viel Spaß mit "Lebenslänglich." ^^

    "Lebenslänglich"


    Rastplatz – 03:00 Uhr

    Ben schenkte sich den zweiten Kaffee aus der Thermoskanne in den Deckel, der als Tasse herhalten musste, während sein Partner und Freund Semir einen kräftigen Bissen von dem belegten Brötchen nahm, dass er gerade noch gegriffen hatte, bevor sie von der Dienststelle abgehauen sind. Ein anonymer Anruf, ein bevorstehender Drogendeal auf einem ihrer Rastplätze… keine Zeit mehr, die Kollegen der Drogenfahndung zu informieren, fast die komplette Dienststelle war raus. „Die werden sicherlich besonders froh sein, wenn wir ihnen einen Fisch vor der Nase wegschnappen.“, meinte Ben ungerührt. „Kann uns doch egal sein. Die Chefin hat gesagt, wir machen das alleine, also machen wir das auch.“, antwortete sein erfahrener Kollege. Er hatte seine Augen auf eine Gestalt gerichtet, der in einigen Metern Entfernung im Schatten einiger abgestellter LKW-Anhänger stand. Rauchschwaden stiegen in den Himmel, offenbar von einer Zigarette. Die Luft war angenehm, es war eine herrlich laue Augustnacht, die sich die Gangster für ihren Deal ausgesucht hatten. „Der scheint noch auf jemanden zu warten.“, murmelte der Polizist mit dem Wuschelkopf, bevor er leicht in seinen Kaffee pustete, und damit die leichten Dampfwolken zerteilte. Semir griff zum Funkgerät: „Jenny, Hotte? Seid ihr bereit?“ Über Funk erreichte sie die warmherzige Stimme ihres ältesten Kollegen, Hotte Herzberger: „Na klar, Semir. Wir haben den Kerl gut ihm Blick und warten auf dein Signal.“

    Christian Trechsel trippelte von einem Bein aufs andere. Nicht weil ihm kalt war, oder er aufs Klo musste… er hasste es zu warten und längere Zeit an einer Stelle zu stehen. Wann kam sein Kunde endlich. Die kleinen bunten Pillen in seiner Jackentasche schienen neben ihm zu brennen. Er mochte diese Deals auf der Straße nicht sonderlich, dazu hatte er eigentlich seine Laufburschen. Aber dieser Privatkunde, den er erwartete, bestand diesmal darauf, das Geschäft, mit ihm abzuschließen. Und da er anständige Mengen, und das sehr regelmäßig bestellte, konnte Christian es sich nicht leisten, den Kunden zu verprellen, also ließ er sich auf das Spielchen ein.Ein wenig unruhig schaute er sich um. Der Parkplatz war nur von wenigen LKW-Fahrern besucht, die in ihrer Fahrerkabine schliefen, während er an einem schwach beleuchteten Plätzchen wartete. Als er das Geräusch eines Wagens hörte, horchte er auf und zog sich ein wenig nach hinten in den Schatten der Auflieger zurück. Der Wagen verstummte, eine Tür öffnete sich, schloss sich mit einem Knall. Trechsel lugte hervor, und sah wie sich unter einer Laterne die Silhouette eines Mannes abbildete, der ungefähr seine Größe hatte, schlank und drahtig war und mit sicheren Schritten auf die Auflieger hinsteuerte.

    „Das gibt’s ja nicht…“, platzte es aus dem dunkel gekleideten Mann heraus, als er den Mann näher kommen sah, und rief erstaunt dessen Namen. „Was machst du denn hier? Dich habe ich ja ewig nicht mehr gesehen.“ Auch der ankommende Mann schien kurz genau hinzusehen, bevor er Trechsel wirklich erkannte, doch der half ihm auf die Sprünge. „Jetzt guck doch nicht so wie ein Auto. Ich bin’s, Christian.“ Ein Lächeln kam langsam auf das recht kühl dreinblickende Gesicht mit den kalten hellblauen Augen des Mannes, der die ausgestreckte Hand ergriff. „Christian… das ist ja wirklich ewig her.“ Die Stimme klang markant, ein wenig farb- und melodielos monoton.„Wo warst du denn all die Jahre gewesen… das müssen über… wart mal…. 14 Jahre sein, seit du dich abgeseilt hast.“ Der junge Mann nickte stumm, doch man merkte ein wenig, dass er auf den Smalltalk keine große Lust hatte, während Trechsel richtig aufblühte, und seine Nervosität verflog. „Ja… Dinge ändern sich nun mal.“ Der Mann, der in seiner Jackentasche mit der Hand die Päckchen mit den bunten Pillen fühlte, lachte auf. „Die Gang gibt’s sowieso nicht mehr. Drei Jahre nachdem du weg warst gab es eine große Razzia. Irgendein Penner hat uns damals verpfiffen. Ich bin noch recht glimpflich weggekommen, aber Andi, Christoph und viele andere sitzen noch. Aber du magst die Dinger immer noch, hmm?“ „Manchmal helfen sie beim Einschlafen.“ Der fremde Mann zwinkerte bei dem Satz und lächelte, was aber sofort wieder verschwand. „Aber was machst du hier? Ich wollte mich doch mit eurem Boss, diesem Schawasky treffen.“ Immer wieder blickten die beiden Männer sich um, immer vorsichtig dass sie nicht von irgendwelchen Nachtschwärmern erwischt wurden. „Du weißt doch wie das ist, mein Freund.“, sagte Christian, und gab seinem Gegenüber einen freundschaftlichen Klaps gegen den Oberarm. „Nach dem Laufburschen kommt erst einmal der Bezirksleiter, dann der kleine Boss und dann der große Boss. Da musst du noch einige Smarties bei uns kaufen, bevor du den zu Gesicht bekommst… oder als Händler bei uns einsteigen.“ Diesmal lachte das Gegenüber auf. „Lass mal… den Scheiss mache ich nicht mehr… ich beitreibe nur noch Eigenbedarf.“

    Stumm, ohne große Worte zog der Mann, der in Shirt und Kapuzenweste vor Trechsel stand einen dicken abgegegriffenen Umschlag aus seiner Jackentasche, während Trechsel selbst das kleine Kartonpäckchen zog, in dem sechs Ampullen mit „Muntermacher“, wie er sie nannte, drin war. Sie tauschten die Sachen aus, Trechsel schaute in den Umschlag. „Misstraust du etwa einem alten Gang-Mitglied?“, fragte sein Gegenüber beinahe gekränkt und strich sich eine der abstehenden Strähnen von der Stirn. „Quatsch…“, meinte der grinsend. „Du weißt doch eh, was passiert, wenn es zu wenig ist. Und Trinkgeld nehm ich gern. Aber sag mir…“, meinte er, bevor sich sein Handelspartner zum Gehen umdrehen wollte. „Was hast du in der ganzen Zeit gemacht. Ich hab nie mehr was von dir gehört. „Vieles… so viel, dass es die Zeit sprengen würde. Aber wir können ja mal was trinken gehen, bisschen über die alten Zeiten quatschen.“ „Na klar.“, stimmte der Mann zu und im Dunkeln tauschten sie die Handynummern aus.

    Semir hatte mit einem Nachtsicht-Fernglas die Übergabe genau beobachtet. Als die Drogen beim Käufer, und das Geld beim Verkäufer war, stand dem Zugriff nichts mehr im Wege. „Ab geht’s, Hotte.“, gab er per Funk durch, beinahe gleichzeitig schalteten sich seine Blaulichtzeichen und Sirene an zusammen mit den drei Streifenwagen, die rund um den Rastplatz verstreut waren. Beide Männer schreckten auf, Christian rannte sofort los. Doch die Polizei hatte den Eingriff gut geplant, und den Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Trechsel rannte genau in Richtung des silbernen BMWs, der den Mann mit Schwung auf die Motorhaube lud und hart auf den Boden aufschlagen ließ. Kaum, dass Semir den Wagen zum Stoppen gebracht hatte, setzte er einen Fuß heraus und zielte über die offene Tür auf den am Boden liegenden, stöhnenden Trechsel. „Versuch gar nicht erst, nochmal aufzustehen.“ Ben flankte blitzschnell um den Wagen, griff den Kerl bei den Schultern und wuchtete ihn mit dem Oberkörper ein zweites Mal über die Haube. Mit schnellen Griffen nahm er ihm eine Waffe aus dem Hosenbund, und legte ihm Handschellen an.

    Der zweite Mann des Deals verschwand in die andere Richtung, doch auch er hatte auf diesem übersichtlichen Rastplatz keine Chance. Jenny Dorn am Steuer eines der Streifenwagen hatte den Mann im Visier, der versuchte zu flüchten, und auf den Wagen zulief. „Links vorbei!“, rief Hotte laut, und seine junge Kollegin riss das Lenkrad herum, während der erfahrene Autobahnpolizist seine Autotür zur Waffe machte. Mit einem wuchtigen Knall prallte der sprintende Körper des jungen Mannes gegen das Blech und rollte über den Boden ab. Jenny war natürlich schneller aus dem Auto als ihr dicker Kollege, und rief laut, mit der Waffe im Anschlag: „Nicht bewegen!“ Doch das konnte der Mann erst mal nicht, er lag bäuchlings, mit dem Gesicht nach unten, und hielt sich stöhnend eine Gesichtshälfte. Hotte schälte sich aus dem Streifenwagen, bückte sich zu dem Kerl und zog ihn an seiner Jacke hoch… der erfahrene Polizist verlernte nichts. „So Jungchen… wenn ich jemandem nachlaufen muss, endet das immer mit Schmerzen.“, sagte er mit seiner warmherzigen und trotzdem autoritären Stimme, als er auch diesem Mann eine Waffe aus der Hose nahm, und ihn gegen das Autodach drückte. Als Jenny dem Kerl dann jedoch mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, entglitten sowohl ihr, als auch ihrem Kollegen Hotte die Gesichtszüge. Die junge Frau war erst mal nicht im Stande etwas zu sagen, als sie das Gesicht erkannte, das jetzt einen beachtlichen Cut unterhalb des Auges trug. Nur Hotte fand seine Stimme: „Das gibt’s doch gar nicht.“ Dann stockte seine Stimme kurz. „Kevin.“

    Momentan erwäge ich ein wenig eine Schreibpause. Ich hatte bei dieser Story vor allem im ersten Drittel Phasen, wo ich sehr lange an den Kapiteln saß, weil mir nicht recht etwas einfallen wollte, wobei jetzt zum Schluß die Kapitel sich quasi von selbst geschrieben haben. Ausserdem ist die "Trilogie" um André quasi beendet, dass jetzt quasi alles ein wenig auf Null gestellt ist, Semir und Ben sind wieder das Team von Cobra 11. Was aus Kevin wird, weiß ich noch nicht recht.

    Evtl setze ich die ein oder andere Idee, die in meinem Kopf rumschwirrt schreiberisch um, aber erstmal für mich, um zu sehen, was dabei rauskommt... vielleicht fange ich auch morgen schon was Neues an... ich weiß es wirklich noch nicht.

    Ich will mich aber mal, jetzt am Ende, für die treuen Leser und Feedbacks sehr bedanken. Es macht mir sehr viel Spaß zu beobachten, wie ihr euch in meine Gedanken hineindenkt, wie er die Umsetzung der realen Charaktere verfolgt und wie ihr den fiktivien Charakter Kevin betrachtet, mit dem ich mich austoben kann, der mir viele kreative Freiheiten bietet, und in den ich auch eigene Empfindungen und Verhaltensweisen einbauen kann. Dafür ein ganz großes "Dankeschön."

    Eine Woche später

    Semir und Andrea hatten letztendes noch einen herrlichen Urlaub auf Gran Canaria. Nach der Rückkehr der beiden Freunde von Mallorca hing Semir zwar teilweise noch seinen Gedanken hinterher über alles, was passiert war, und ob er denn alles richtig entschieden und getan hatte, aber er verschob diese Grübelei meist auf die Nacht, oder wenn er morgens hin und wieder ein paar Runden im Pool drehte, zum Frühsport, bevor er Andrea und die Kinder weckte, und mit ihnen gemeinsam frühstückte. Sie gingen an den Strand, sie bummelten durch Playa del Inglés, spielten zusammen MiniGolf und hatten einfach eine Menge Spaß. André gesellte sich hin und wieder zu ihnen, verhalf Ayda zu einem Erfolgserlebnis bei einer abendlichen Animation "Der heiße Draht", und passte sogar einen Nachmittag auf die beiden Kinder auf, als Semir und Andrea den Buggy-Ausflug zu zweit wiederholten, und sich die Insel ansahen. Sie vertrauten ihrem ehemaligen Kollegen, für den diese Rolle neu war, andererseits er zusammen mit Felicita, die dazu extra ins Hotel kam, viel Spaß hatte.
    Nein, sie verlebten ohne Zweifel einen herrlichen Urlaub, in dem Semir den Klingelton seines Handys überhaupt nicht vermisste. Nach dem letzten Frühstück packte André die Koffer der Familie in den Kleinbus des Hotels, und die Gerkhans kamen erneut in den Genuß des exklusiven Shuttleservices. Vor dem Flughafen fielen die beiden Mädchen dem großen Mann nochmal um den Hals, Andrea umarmte ihren ehemaligen Kollegen ebenfalls herzlich und wünschte ihm alles Gute für die gemeinsame Zukunft mit Felicita. Als sie dann mit ihren beiden Töchtern einen Kofferwagen besorgte, blieben die beiden Männer kurz noch alleine. "Es freut mich, dass ihr noch einen schönen Urlaub hattet.", meinte André und blickte durch die Glasfront des Flughafens. "Du hast eine fantastische Familie." Semir lächelte, stolz und glücklich, über beide Ohren und schlug seinem Gegenüber freundschaftlich auf die Schulter. "Die wirst du auch haben.", sagte er dann, und sein Freund nickte. "Ich weiß gar nicht, wie ich mich bei dir für alles bedanken soll." "Ach André... wir haben uns doch nie gegenseitig gedankt, wenn wir uns früher aus der Scheisse gezogen hatten. Warum sollten wir jetzt damit anfangen?" Die beiden Männer mussten lachen, und sie fielen sich für einen Moment nochmal in die Arme, wobei André sich bücken musste, und Semir sich nach oben strecken. "Viel Spaß bei deinem Job. Und besuch uns mal mit Felicita in Deutschland." "Das mache ich... kommt gut nach Hause und pass auf der Autobahn auf dich auf." Beide Männer wussten, dass ihre Freundschaft vielleicht enger war, als früher. Bewusster, was sie aneinander hatten, und auf ewig verbunden, ob ihres Geheimnisses über André...

    Der Flug war ruhig, die Maschine hatte keine Verspätung und die Landung angenehm. Die Kinder hatten den ganzen Flug über zusammen Karten gespielt, und so waren alle vier bester Laune, auch wenn ihr Urlaub jetzt erstmal vorbei war. Bepackt mit ihren Koffern auf dem Kofferwagen verließen sie den Flughafen und erspähten sofort den silbernen BMW, an dem Ben wartete. Auf Semir wirkte er im ersten Moment ein wenig blasser als sonst, und auch sein Lächeln war nicht so euphorisch. "Hey, Companero", rief Semir und breitete für Ben die Arme aus. Die beiden umarmten sich kurz, und der kleine Polizist wunderte sich, wie unterschiedlich Freundschaften sein konnten. Auch Andrea umarmte Ben, drückte ihm ein Küsschen links und rechts auf die Wange, und Lilly gab keine Ruhe bis Ben sie nicht einmal auf den Arm nahm, während Semir die Koffer ins Auto hob. "Na, ihr Mäuse. Seid ihr so braun geworden, oder ist das noch Sand vom Strand?", scherzte er und bemühte sich erstmal, gute Laune zu verbreiten. In Wirklichkeit sehnte er sich sehr nach seinem Partner, gerade nach dieser schweren Woche, in der er nichts von Kevin gehört hatte, und auch nichts von den Ermittlungen der Inneren Abteilung. Nur eine kleine Info drang gestern über die Chefin zu ihm durch, und zwar dass die Innere Abteilung die Befragung von Kevin anstehen lassen musste, da er nirgends erreichbar war.
    Die kleine Gruppe stieg in den BMW, Semir zu Ben nach vorne, Lilly ging hinten in die Mitte zu Andrea und Ayda. "Wo ist denn dein Benz?", fragte Semir, und Ben lächelte ein wenig schnippisch. "Werkstatt..." "Hätte ich mir ja denken können." Bevor Semir seinen Freund fragen konnte wie es ohne ihn gelaufen ist, kam der ihm zuvor: "Wie war der Urlaub?" "Herrlich Ben... das Wetter, das Hotel, der Strand.", schwärmte Andrea von hinten. "Ich bin ohne Schwimmflügel geschwommen.", meldete sich Lilly aus der Mitte, und Ben, den sie als eine Art Onkel ansah, nickte anerkennend. "Ja, es war toll. Und unser Problem konnten wir auch lösen.", sagte Semir augenzwinkernd. "Aber das erzähle ich dir morgen in Ruhe, wenn ich auf der Dienststelle bin." Nein, bis morgen konnte Ben nicht warten... zumindest nicht mit dem, was er Semir erzählen wollte. Und so fragte er, nachdem sie vor Semirs Haus anhielten und Andrea bereits aus dem Auto stieg schnell: "Könntest du vielleicht kurz mit zur Dienststelle fahren? Es ist wichtig." Semir schaute kurz irritiert, spürte aber sofort den Stimmungswechsel seines Partners, so dass er zustimmte. Er kam sofort zurück, nachdem er die Koffer ins Haus getragen hatte.


    Dienststelle - 17:00 Uhr

    Die Fahrt verlief seltsam stillschweigend. Nichts war mehr zu spüren von Bens guter Laune, und Semir spürte dass etwas nicht okay war. Doch er fragte erstmal nicht, denn er wollte die Geschichte ganz in einem Stück hören, am besten auf der Dienststelle. Nur kurz redeten sie darüber, dass Andrés Schuld gemindert war, er damals wirklich bedroht wurde, und Semir auch entsprechende Beweise gesehen hatte.
    Es war bereits ruhiger im Büro, der Schichtwechsel in die Spätschicht war bereits vollzogen, die Chefin war nicht mehr da, Bonrath war bereits zu Hause und Hotte wollte gerade gehen. Er begrüßte Semir herzlich, sie tauschten einige Minuten Smalltalk über den Urlaub aus, bis dann auch Hotte sich in den Feierabend verabschiedete. Semir setzte sich in seinen Stuhl und lehnte sich zurück, während Ben sich mit dem Finger über die Lippen strich. "Na dann erzähl mal, was dir auf dem Herzen liegt." Natürlich hatte Semir gemerkt, dass das was Ben ihm zu erzählen hatte nichts erfreuliches war. Zu lange kannten sich die beiden nun, so genau wussten sie allein anhand des Gesichtsausdrucks, was in ihnen vorging.
    Und Ben erzählte... von dem Fall, von seiner guten Zusammenarbeit mit Kevin, von dem Plan, den Attentäter zu provozieren. Semir wunderte sich über die Methode, fand sie aber auf Anhieb nicht verkehrt. Aber er unterbrach seinen Freund nicht, sondern hörte weiter zu, wie Ben von dem Streit erzählte, dem Anschlag auf Jenny, der Semir kurz schockte obwohl die junge Kollegin mittlerweile zu Hause war, und dem folgenschweren Dialog auf dem Krankenhausflur. Der erfahrene Polizist fragte beinahe entgeistert: "Was hast du zu ihm gesagt?" Ben senkte den Kopf, er atmete hörbar. "Ich wollte es nicht... Es kam... es kam einfach." Auch Semir musste tief durchatmen, das war starkter Tobak. Aber er gab Ben ein Zeichen, weiter zu erzählen. Die Ermittlungen, der Unfall und die schlimme Situation im Wagen. Hier wechselte das Gefühl des Urlaubers wieder ins Erschrockene, dass er nicht da war um seinem besten Freund beizustehen. Das abschließende Gespräch mit der Chefin und die Tatsache, dass Kevin alles erzählt hatte, hinterließ wieder einen erstaunten Gesichtsausdruck bei dem Kommissar. "Er hat wirklich alles erzählt?" "Ich war nicht dabei... aber er hat zumindest gesagt, dass er kein Bock mehr auf das Versteckspiel hat. Seitdem ist er weg... seine Ziehmutter sagt, er wäre mit seinem Rucksack in Urlaub gefahren."

    Für einen kurzen Moment kehrte Stille in das Büro. Ben sah seinen Freund hoffnungsvoll an, als sage Semir etwas darüber und ihm würde es schlagartig besser gehen. Natürlich war das Wunschdenken. Sein Kollege konnte seine Meinung darüber äussern, aber er würde Bens Schuldgefühle nicht einfach zerstreuen können, höchstens mildern. Er dachte allerdings kurz nach, fuhr sich mit den Fingern über die hohe Stirn und sah dann Ben an... und merkte sofort wie sein Freund unter dieser Situation litt. Die Blässe im Gesicht, die leichten Ränder unter den Augen. "Du machst dir Vorwürfe, hmm?" sagte er mitfühlend, und sein Freund nickte. Er war schon froh, dass Semir ihm nicht sofort Vorwürfe machte, wie konnte er nur und was hatte er sich dabei gedacht. Aber Semir war zu erfahren im Umgang mit Menschen, zu erfahren im Umgang mit Ben, als dass er ihn sofort niedermachen würde. Er stand auf und stellte sich an den Tisch neben Ben, der es nicht wagte in irgendeine Richtung zu lange zu schauen, weil er befürchtete, feuchte Augen zu bekommen. So gut hatte er sich mit Kevin verstanden, so stolz war er dem ehemals recht labilen jungen Mann ein guter Partner zu sein, dem er sogar vertraute. So weh tat es nun derjenige zu sein, der das gesamte Kartenhaus von Kevin zum Einsturz gebracht hatte. "Was du gesagt hast, ist gesagt, Ben. Das brauche ich dir ja nicht zu erklären, und brauche dir nicht zu sagen... dass das nicht gut war.", meinte Semir. Er sagte es nicht tadelnd oder vorwurfsvoll, aber er sagte was er dachte. "Aber wir sind Menschen. Wir machen Fehler. Natürlich ist es blöd, dass ausgerechnet die Chefin es mitbekommen hat, dass du dich aufgrund der Situation überhaupt zu diesen Worten hinreißen lassen hast..." Semir konnte Ben natürlich nicht komplett von einer Schuld freisprechen... aber er versuchte ihm klar zu machen, dass das Leben weiterging... "Aber Ben: Letztendlich ist auch Kevin dafür verantwortlich, was er damals getan hat." Es klang hart in Bens Ohren, aber natürlich hatte sein erfahrener Partner auch recht. "Aber er hat es uns anvertraut...", meinte er mit trauriger Stimme. "Natürlich hat er das. Und du hast es ja auch niemandem erzählt. Letztendes war es nur ein dummer Zufall."

    Ben reichte das nicht... klar war es ein Zufall, es hätte genauso gut auch niemand hören können, als er Kevin als Drogendealer bezeichnet hatte. Aber es hatte nun mal jemand gehört. "Sieh mal...", sagte Semir mit etwas leiserer Stimme, und berührte seinen Partner leicht am Oberarm. "Warum, glaubst du, hat Kevin der Chefin die Wahrheit erzählt?" Ben schaute seinen Freund überrascht an: "Na, weil er nicht mehr lügen wollte. Weil er nichts mehr verheimlichen wollte." "Denkst du, er hätte es von sich aus auch erzählt, wenn dein Fauxpas nicht passiert wäre?" Der junge Mann schüttelte den Kopf, und Semir nickte zustimmend: "Vielleicht hast du ihm sogar einen Gefallen getan. Vielleicht fühlt er sich erleichterter, freier." Erinnerungen an Kevins Gesicht tauchten in Bens Kopf auf, als er sagte, dass er der Chefin alles gebeichtet hatte. Diese Mischung aus Traurigkeit und Erleichterung in seinen Augen, als wäre eine große Last von ihm abgefallen. Auf diesen Gedanken war er nicht gekommen, und vielleicht würde es helfen, ein wenig die Schuldgefühle verdrängen zu können. "Du hast vielleicht Recht.", stimmte er ihm erst zu: "Aber wenn er jetzt seinen Job verliert. Die Arbeit hat ihm doch sehr geholfen, das weißt du doch." "Ach, warte doch erstmal ab. Du kennst doch Kevin mittlerweile... der steht immer wieder auf. Was der alles schon erlebt hat, und immer ist er wieder hochgekommen. Die Innere bekommt den nicht klein.", meinte Semir aufmunternd und erinnerte sich, was er mit dem jungen Mann schon erlebt hat, und welche Schicksalsschläge er schon hinnehmen musste. "Die Innere schießt niemanden ab, den sie noch gebrauchen können. Und Kevin, mit der Erfahrung aus seinem früheren Leben, kann man in der Polizeiarbeit immer gebrauchen. Ausserdem sind seine Taten schon lange her, vieles davon dürfte bereits verjährt sein." Semir schaffte es, Bens dunkle Wolken zumindest ein wenig zur Seite zu schieben. "Du hast dich bei ihm entschuldigt. Er hat den Weg der Wahrheit gewählt. Was willst du sonst tun? Wir machen Fehler... alle machen Fehler. Und glaub mir: Kevin weiß, wie mies es ist, Schuldgefühle zu haben... und ich bezweifel, dass er es möchte, dass du dich so quälst.", sagte Semir dann und seine Worte trafen mitten in die Seele seines Partners. "Sonst hätte er deine Entschuldigung nicht angenommen." Der Polizist mit dem Wuschelkopf nickte dankbar ob Semirs Worte, auf die er so lange hat warten müssen. Die beiden Männer umarmten sich, und Ben murmelte ein kurzes "Danke" in Semirs Ohr.

    "Na los... lass uns was trinken gehen. Und dann erzähl ich dir, was ich mit André so erlebt habe." Ben nickte lächelnd und meinte: "Geh doch schon mal raus... ich muss noch kurz telefonieren."
    Als Semir das Büro Richtung Ausgang verlassen hatte, suchte Ben einen kleinen Zettel. Prof. Sahl, ein Psychologe bei dem Ben häufiger vorstellig war nach seinem traumatischen Erlebnis in einem Sarg, und dessen Nummer standen auf dem Zettel. Prof. Sahl hatte Ben damals in Gesprächen sehr geholfen, die Platzangst auf ein Minimum zu reduzieren, jetzt wählte Ben die Nummer auf dem Zettel. "Professor Sahl, mit wem spreche ich?", meldete sich die kernige Stimme des alten Mannes, der als einer der besten Psychologen in NRW galt. "Hier ist Ben Jäger, Hallo Herr Sahl.", meldete sich der Polizist, und der Psychologe erkannte sofort die Stimme seines ehemaligen Patienten. "Herr Jäger, schön von ihnen zu hören. Wie gehts ihnen?" Ben räusperte sich kurz, und sah durch die Glasscheibe heraus zu seinem besten Freund, der gerade ins Auto einstieg: "Professor Sahl... ich würde gerne in den nächsten Tagen bei ihnen vorbeikommen..."


    ENDE

    Köln - 16:30 Uhr

    Ben kam der heutige Tag im Polizeidienst unendlich lang vor. Er zog sich wie Kaugummi, sein Kopf fühlte sich unendlich schwer an, und er war ungewohnt schweigsam, während er mit Bonrath Streife fuhr. Weil ausser zwei Unfällen heute nicht mal etwas Besonderes war, verkam der Tag zum stupiden Abfahren ihres Autobahnabschnittes, einigen Berichten zu schreiben... und nachdenken. Ben hatte genügend Zeit um über die letzten Stunden, den gestrigen Tag nachzudenken. Seine Worte gegenüber Kevin, die Folgen daraus. Er kam immer wieder zu dem Schluß, selbst alles kaputt gemacht zu haben. Und das Schlimme war: Er konnte nichts dagegen tun. Er konnte es nicht rückgängig machen, seine Entschuldigung hatte sein Partner angenommen und akzeptiert, was es eigentlich noch schlimmer machte. In Bens Innerem war ein Drang, ein Drang irgendetwas zu tun... Kevin anrufen, zu ihm nach Hause fahren, aber was sollte er sagen? Noch tausend Mal um Entschuldigung bitten, ihm erzählen, wie sehr es ihm leid tat? Er hatte die Entschuldigung angenommen, hatte nicht mal rumgeschrien, schien sogar erleichtert und trotzdem am Boden zerstört... und das machte Ben fertig. Die Gewissheit, verantwortlich zu sein, und nichts mehr dagegen tun zu können... es wa einfach ein ätzendes, bedrückendes Gefühl.

    Ben verspürte den Drang, mit irgendjemandem zu reden... doch mit wem? Bonrath, Hotte? Was konnten sie tun, ausser schlaue Ratschläge zu geben. Sollte er vielleicht Semir auf Gran Canaria anrufen, und ihm alles erzählen... und bewirken, dass Semir in seinem Urlaub sich Gedanken macht? Nein, das wäre auch nicht richtig.
    Um die Mittagszeit verließ der Polizist alleine die Dienstelle, und fuhr mit Semirs BMW zur Innenstadt. Er hielt vor einem Mehrfamilienhaus, drei Parteien wohnten hier in einer Nebenstraße. Kevins neue Adresse... es war weitaus gemütlicher und wohnlicher als der hässlische Plattenbau, in dem er vorher lebte und Ben wusste, dass er mit einem Transvestiten zusammenlebte, der ihn als Kind großgezogen hatte. Mit beklemmendem Gefühl trat er auf die kleine Treppe, bis er die Namen auf der Klingel lesen konnte. Er wollte reden, aber nicht über die Sache von gestern... sondern fragen, ob sie was zusammentrinken wollten, heute abend vielleicht ein bisschen Gitarre spielen. Ben wollte so normal sein wie möglich, auch wenn es ihm falsch erschien weiter der gute Freund zu sein, nachdem er gerade schuld daran war, dass Kevin seinen Job verloren hatte, zumindest vorrübergehend. Aber er musste etwas tun, die Gedanken brachten ihn um den Verstand und das Schweigen war quälend. Er hatte das Gefühl, dass auf der Dienststelle jeder sauer mit ihm war, ein regelrechter Verfolgungswahn. Jeden Blick von Bonrath nahm er negativ auf, und er beschränkte sein Gespräch während den Autofahrten auf das Notwendigste.

    Kurz nachdem er die Klingel gedrückt hatte, summte die Haustür und Ben trat ein. Direkt an der ersten Tür im Treppenhaus stand Kalle, eine staatliche Erscheinung, im Kleid. Man konnte die männlichen Züge in ihrem Gesicht erkennen, Ben schätzte sie auf Mitte 50, sie war größer als er und mindestens doppelt so breit. Kevin hatte erzählt, dass sie damals im Klub seines Vaters arbeitete, als Künstlerin, Sängerin und sich seiner angenommen hatte. Der junge Polizist war ihr dafür dankbar, war sie neben seiner Schwester doch lange die einzige Bezugsperson.
    "Was gibts?", fragte sie mit einer Mischung aus männlicher und weiblicher Stimme. "Ich... ähm... ich wollte zu Kevin.", stammelte Ben zuerst, bevor seine Stimme sicherer wurde. "Wer sind sie denn überhaupt?", fragte Kalle, und zog ein wenig misstrauisch die Augenbrauen nach oben. Sie machte keinerlei Anstalten Ben herein zu bitten oder näher zu begrüßen. "Mein Name ist Ben Jäger... ich bin ein Kollege von Kevin." Das Wort "Freund" brachte er in diesem Moment nicht über die Lippen. Kalle schien den Namen schon mal gehört zu haben, denn mit weiter hochgezogener Braue nickte sie. "Ahja..." Anscheinend hatte Kevin ihr erzählt, dass er seinen Job erstmal los war, und wer dafür verantwortlich war. "Kevin ist nicht da.", gab sie dann zur Information. "Und ich glaube dass es sinnlos ist, wenn sie weiter nach ihm suchen." Ben überlief eine Gänsehaut, als er daran dachte dass sie Kevin vor einigen Monaten schon mal verzweifelt gesucht hatten, und dabei das Schlimmste befürchteten. "Wie meinen sie das?" "Er hat mir alles erzählt.", sagte sie ein wenig missbilligend und der Polizist kam sich gleich ein paar Centimeter kleiner vor. "Und er hat gesagt, dass er erstmal Ruhe braucht... er hat seinen Rucksack gepackt, hat sich auf sein Motorrad gesetzt und mir nur gesagt, dass er für ein paar Wochen weg ist." Der Polizist seufzte auf und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Kevin reagierte, wie er immer reagierte. Als Einzelgänger, erstmal weg von allem, niemanden mehr an sich herankommen lassen. "Er hat nicht gesagt, wohin?", versicherte er sich. "Nein... der Junge ist erwachsen genug." Man merkte, dass Kalle nicht gewillt war, Ben irgendwelche Informationen zu stecken... vielleicht war es auch von Kevin so gewollt. Er bedankte sich bei dem Transvestit, dass nickend wieder in der Wohnung verschwand.

    Der Duft eines Krankenhauses war überall der gleiche. Desinfektionsmittel, sobald man das Gebäude betrat. Ben ging schnellen Schrittes durch die Flure, bis er bei Jenny an der Tür stand und klopfte. "Ja?", hörte er sofort ihre freudige Stimme, und blickte ins Zimmer herein. "Oh Ben... du bist es.", sagte sie mit einem Lächeln, anscheinend hatte sie jemand anderes erwartet. Der Polizist wollte wissen, ob Kevin noch jemandem Bescheid gesagt hatte, was er vorhatte... aber aufgrund von Jennys natürlicher freudiger Reaktion auf seinen Besuch, schwand seine Hoffnung bezüglich Jenny. Denn er bildete sich ein, dass Jenny mit Sicherheit sauer auf Ben war, nachdem was vorgefallen ist. "Hallo Jenny... wie gehts dir?", fragte der Polizist, schloß die Tür hinter sich und kam in das geräumige Zimmer, dass Jenny allein belegte. Er zog sich einen der Stühle ran, auf denen Kevin genächtigt hatte, und setzte sich zu seiner Kollegin ans Bett. "Ganz okay... die Narbe tut noch ein wenig weh. Aber ich darf vielleicht Ende der Woche raus.", erzählte die junge Frau und blickte Ben lächelnd an. "Ich hab gehört, ihr habt den Killer gefasst. Gratuliere!" Ben blickte etwas überrascht auf: "Achja... wer hat dir das erzählt?" "Kevin war heute morgen hier. Er muss heute Nacht gekommen sein, und hat hier geschlafen.", sie kicherte ein wenig dabei. "Da hat er mir grad alles erzählt. Aber...", sie blickte auf die Uhr, die an der Wand hielt und bemerkte, dass Ben ja eigentlich im Dienst war. "Wo steckt er denn? Habt ihr frei?" Nein, sie wusste nichts davon. Und offenbar war Kevin abgereist, ohne ihr Bescheid zu sagen. "Nein Jenny... ich habe nicht frei.", sagte er mit trauriger Stimme, und wagte es kaum seine Kollegin anzusehen, die sofort merkte dass etwas nicht stimmte. "Was ist denn los?", fragte sie einfühlsam, natürlich auch aus Neugier, was denn mit Kevin sei.

    Ben atmete tief durch... sollte er alles erzählen? Dann würde er aber Kevins Vergangenheit ebenfalls verraten müssen... er wusste ja nicht, wieviel Jenny davon wusste oder nicht. Nein, das konnte er nicht tun. "Kevin... ist verreist." Jenny lachte auf: "Aber das hätte er mir doch gesagt." Ben wog den Kopf hin und her, und murmelte: "Es ist vielleicht besser, wenn er dir das selbst erzählt, wenn er wieder da ist. Ich weiß nicht, wo er hin ist... ich hatte gedacht, er wäre vorher nochmal hier gewesen." Jenny merkte so langsam, dass Ben keine Scherze machte, und ihr Lächeln gefror ein wenig: "Wie meinst du das, dass er einfach verreist ist?" Ein leiser Seufzer glitt über Bens Lippen, und er blickte Jenny hilflos an. "Es wäre wirklich besser, wenn Kevin dir das erzählen würde.", sagte er und fühlte sich furchtbar in die Ecke gedrängt. Einerseits wollte er nichts von Kevins Vergangenheit erzählen, andererseits hatte seine junge Kollegin ihn jetzt quasi am Kragen... und Kevin selbst wollte eh nicht mehr lügen. Bei nächster Gelegenheit würde er es vielleicht selbst erzählen. "Nein.", sagte sie bestimmt, und konnte auch überzeugend sein, wenn sie wollte... das brauchte man auch als Polizistin. "Was ist los?" "Er ist suspendiert worden. Die Chefin hat ein Gespräch zwischen mir und ihm mitbekommen, in dem ich ihm etwas aus seiner Vergangenheit an den Kopf geworfen habe... und das war fatal." In Jennys Gesicht bildete sich ein großes Fragezeichen. Sie wusste zwar von Kevins Schwester, aber nichts von Kevins früherem Leben. "Seine Vergangenheit?" Ben nickte, aber er verschloß seinen Mund. "Darüber kann ich dir wirklich nichts erzählen."
    Er war seiner Kollegin dankbar, dass sie nicht weiterbohrte... eher schien sie erschrocken davon zu sein, wie rigoros Kevin reagierte... einfach abzudampfen, ohne etwas zu sagen. Heute morgen war er doch noch vollkommen locker. "Und wo ist er hin?" Ben schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht... er hat sich seinen Rucksack gepackt, und ist weggefahren. Ich dachte, er hätte dir Bescheid gesagt." Jenny versetzte es einen Stich in die Brust. Ja, dass hatte sie auch von Kevin gedacht... aber scheinbar überschätzte sie die Zuneigung des jungen Mannes ihr gegenüber zu sehr. Hatte sie sich in etwas hineingesteigert? Der Abend bei ihr... ein Essen, DVD gucken... es war nichts passiert, ausser dass sie auf seinem Knie eingeschlafen war. Aber dass er hier übernachtete? Warum hatte er ihr nicht Bescheid gesagt, dass er wegfuhr... war sie ihm doch so unwichtig... doch nicht mehr als eine Kollegin. Ihre Augen wurden traurig, als sie Ben ansah, der kapierte dass Kevin seine Entscheidung allein traf. Oder auch er hatte die Beziehung zwischen den beiden überschätzt.

    "Es tut mir leid... ich wollte dich nicht traurig machen. Aber ich dachte, dass er mit dir vielleicht vorher darüber gesprochen hatte." Resiginierend und traurig schüttelte Jenny den Kopf. "Nein... er hat mir nichts gesagt." Dann atmete sie tief ein: "Warum sollte er auch. Wir sind nur Kollegen, so wie du und er auch." Ben blickte überrascht und wunderte sich über Jennys Tonfall. Offenbar war sie vor allem enttäuscht darüber, dass Kevin es nicht für nötig hielt, ihr irgendwas zu sagen. Er war ein typischer Einzelgänger und das müsste Jenny wohl auch noch lernen. Aber sie war unendlich traurig, denn sie hatte gedacht dass sie eine engere Verbindung zu dem jungen Mann hatte. "Ich... ich würd gern ein bisschen schlafen.", sagte sie leise zu Ben, aber vor allem wollte sie jetzt ganz allein sein. Der Polizist nickte verständnisvoll und stand von dem Stuhl auf. "Falls er sich meldet... ich sag dir sofort Bescheid." Jenny aber schüttelte den Kopf. "Wenn er das wollen würde, würde er sich bei mir selbst melden.", sagte sie und rutschte unter ihre Decke. Sie drehte Ben den Rücken zu, bis dieser aus dem Zimmer ging, nachdem er sich verabschiedete, denn sie wollte nicht, dass er ihre feuchten Augen sah. Ben ging es auf dem Flur nicht besser...

    Mein Feed ist nicht lang.Aber ich glaube Campino hat nichts gegen lange Feeds. :D

    Absolut nicht :D So wie ihr nix gegen meinen Schreibrausch habt, hab ich nix gegen lange Feeds. Heute (also gerade jetzt) ist wieder so ein Kapitel entstanden, dass ich ohne Pause getippt habe, weil es so schon vor Storybeginn in meinem Kopf spukt, und ich es kaum mehr erwarten konnte, es endlich nieder zu schreiben und euch zum Lesen zu präsentieren.

    Dienststelle - 9:30 Uhr

    Verdammt... Ben hatte verschlafen. Das war an sich nichts aussergewöhnliches, dass der Polizist hin und wieder zu spät zum Dienst kam, aber als sein Wecker 9 Uhr anzeigte, statt halb 7 war doch geschlagene zweieinhalb Stunden zu spät. Erst im Morgengrauen waren dem Mann die Augen zugefallen, nachdem er sich die ganze Nacht mit düsteren und engen Gedanken umher gequält hatte. Jetzt sprang er in Rekordtempo unter die Dusche, danach in seine Jeans, Shirt und Schuhe. Es war draussen wieder herrlicher Sonnenschein, ein neuer Sommertag der sich nichts mehr an das schwere Unwetter von gestern anmerken ließ. Nur war es nicht gerade so heiß, sondern angenehme warmen Temperaturen.
    Bens Klimaanlage lief schon auf Hochtouren in dem Dienstwagen, mit dem er gestern heimgefahren war, als er mit seinen halbfeuchten Haaren an der Dienststelle ankam. Er hatte in der Nacht lange Zeit gehabt zu überlegen, wie er mit Kevin reden wolle, wie er sich entschuldigen wolle, wie er seinen unkontrollierten Ausbruch und die harten Worte, die er dem jungen Mann über ihn und seine Vergangenheit an den Kopf geworfen hatte, erklären wollte. Es schien, als würde er einen Brief schreiben, den Brief nach mehreren Zeilen wieder ausradieren, von vorne anfangen und wenn er dann fertig war, zusammenknüllen und wegwerfen. Als er aus dem Wagen stieg hatte er immer noch keinen Plan, keine konkrete Idee, wie er das Gespräch gestalten sollte. Er wollte es einfach auf sich zukommen lassen, aber er sagte sich selbst immer wieder, dass er es heute unbedingt tun musste. Der Fall war geklärt, der eine Druck, die unwirkliche Gefahr eines potentiellen Anschlags, war vorbei. Sie würden vermutlich noch einige ruhigere Tage haben, mit Streifendienst verbringen, bis Semir wieder da war, und Kevin erneut die Abteilung wechseln würde.... vielleicht. Also musste es heute sein... je eher, desto besser.

    Ein wenig gehetzt ging Ben mit schnellen Schritten in das Großraumbüro, grüßte Hotte und Bonrath und wunderte sich, dass Zweiterer in zivil am Schreibtisch saß. Er sah durch die Fensterscheibe in sein Büro, konnte Kevin dort aber nirgends erkennen, obwohl er sein Motorrad auf dem Parkplatz stehen gesehen hatte und sein Helm auf Semirs Schreibtisch liegen sah. Als Ben den Blick umherschweifen ließ durch das Büro, das wie immer erfüllt war von Gesprächen, Telefonklingeln und Funkgeknatter, blieben seine Augen auf dem Büro der Chefin haften. Für einen Moment setzte Bens Herzschlag aus, ein ungutes Gefühl sammelte sich in seinem Magen, als hätte er eine böse Vorahnung...
    Es waren nur wenige Schritte, die ihn von der Glastür zum Büro der Chefin trennte, und er überwand sie in Sekunden. Noch bevor die Tür komplett offen war, entschuldigte sich Ben: "Tut mir leid, Chefin... also für die Verspätung. Sind sie... seid ihr schon in der Nachbesprechung des Falls?" Die Chefin sah ihren Mitarbeiter streng und tadelnd an: "Herr Jäger... ich hätte sie schon hereingebeten, wenn wir etwas zu dritt zu besprechen hätten." Bens Unwohlsein stieg weiter an. "Aber momentan möchte ich mich mit Herrn Peters alleine unterhalten. Also?" Der Polizist schnappte auch den Blick seines Partners auf und konnte ihn, wie bei Kevin so oft, nicht richtig deuten. Er schien in seltsamer Art und Weise resigniert und... müde. Ja, Kevins Augen wirkten richtiggehend müde. Hatte er schlecht geschlafen? Oder wirkten sie nicht körperlich müde, sondern eher... seelisch müde. Mit einem genuschelten "Sorry..." zog Ben seinen Körper wieder aus der Tür und schloß diese langsam hinter sich. Sein ungutes Gefühl hatte sich in einen Brechreiz verwandelt, als er von Hottes Tisch aus das Gespräch zwischen Kevin und der Chefin beobachtete. Eigentlich war es ein einseitiges Gespräch, denn es sprach fast ausschließlich der sonst so schweigsame Kevin. "Bitte, lass ihn nur von dem Fall berichten...", murmelte Ben leise. "Wisst ihr um was es geht?", fragte er dann, lauter und deutlich an die beiden Streifenbeamte Hotte und Bonrath gerichtet. Beide zuckten nur mit den Schultern und schüttelten mit den Köpfen, auch wenn der erfahrene Herzberger eine Vermutung hatte, die er unausgesprochen ließ. Ben beobachtete die Szenerie, das Kopfschütteln der Chefin, dann sagte sie mal was, es schien tadelnd aber irgendwie ebenfalls ein wenig hilflos, dann hörte sie wieder nur zu, wobei sich ihr Gesichtsausdruck immer mal veränderte... vom Interessierten ins Geschockte, und wieder zurück. Die Hoffnung des Polizisten, dass es nur um den Fall ging, den sie gemeinsam gelöst hatten, schwand von Minute zu Minute...

    Als Kevin aufstand wandte sich sein Partner scheinbar zufällig ab und verzog sich in sein Büro. Es dauerte nur wenige Augenblicke bis auch Kevin hereinkam... er schien seltsam erleichtert, er lächelte in Bens Richtung und wünschte ihm "Guten Morgen.", der dieses erwiederte. "Auch ne scheiss Nacht gehabt?", fragte der Mann mit den wuscheligen Haaren, und sein Partner nickte. "Kann man so sagen." Er war wenigstens halbwegs schön geweckt worden, dachte der schweigsame Mann, wenn er daran dachte dass heute morgen das Erste, was er gesehen hatte, Jennys lächelndes Gesicht war.
    "Habt ihr... habt ihr über den Fall gesprochen.", fragte Ben zögerlich, er hatte sich in den Drehstuhl zurückgelehnt und ein Bein quer über das andere gelegt, während Kevin stehenblieb und mit Blickkontakt zu Ben nickte. "Und?" "Die Chefin hat den Haftbefehl beantragt, und Trauscher sitzt erstmal in U-Haft. Die Akten gingen heute morgen schon an die Staatsanwaltschaft." Kevins Kollege lächelte siegessicher. "Dann waren wir ja nicht so schlecht, hmm?", meinte er, doch seine Stimme hatte immer noch etwas zögerliches, und er spürte, dass jetzt alles raus musste.
    Er stand von seinem Stuhl auf, sein Lächeln verschwand und er stellte sich Kevin direkt gegenüber. "Kevin, es tut mir leid. Es tut mir leid, was ich gesagt habe im Krankenhaus. Ich kanns mir eigentlich nicht erklären... nicht erklären wie mir so etwas rausrutschen konnte. Es war noch nicht gesagt, da wollte ich es schon zurückholen, und...", er merkte, dass er sich in Phrasen verhedderte und blickte direkt zu Kevin. "Es tut mir leid... wirklich." Sein Kollege spürte deutlich Bens Hilflosigkeit in dieser Situation, und er war nicht der Typ der so eine Situation ausnutzte. Er wusste selbst, dass er teilweise unmöglich darauf reagierte, doch Kevin war von Bens Worten schwer getroffen, es hatte sein Vertrauen beeinträchtigt, seine Offenheit gegenüber Ben getrübt, wenn er so unsensibel mit solchen Dingen umging. "Es ist schon okay.", sagte er mit seiner monotonen Stimme, als wären ihm Bens Entschuldigungen unangenehm. "Ich hab mich danach auch nicht fair verhalten.", setzte er noch hinzu, und Ben atmete erleichtert auf.

    Doch etwas lag dem Polizist noch auf dem Magen... dieses ungute Gefühl, das er hatte, seit er Kevin bei der Chefin erblickt hatte. "Wenn du willst...", sagte er schnell "...stell ich die Sache bei der Chefin klar. Ich denk mir was aus, wie ich diesen Ausspruch über dich erklären kann, okay?" Darüber hatte er sich auch die ganze Nacht Gedanken gemacht, wie er möglichst glaubwürdig irgendetwas behaupten kann, was die Chefin zu viel in die beiden Sätze interpretiert hat. Doch Kevin schüttelte den Kopf, und sagte Worte, die Ben wie Pfeile ins Herz trafen. "Das ist nicht mehr nötig." Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht von Semirs Langzeitpartner, es wich einem versteinerten Entsetzen, seiner Befürchtung und sein Magen wollte sich auf den Kopf stellen. "Was meinst du ... damit?", fragte er stotternd, obwohl er sich die Antwort längst denken konnte. Er war beeindruckt von Kevins Selbstsicherheit, sollte sich das bewahrheiten, was er vermutete. "Ich habe der Chefin die Wahrheit gesagt." Kevins Freund schluckte auf, seine Augen waren aufgerissen, sein Mund halboffen. "Was... was hast du ihr... erzählt?" "Alles", antwortete der schweigsame Mann. "Alles, was sie wissen wollte. Wie du darauf kamst, mich einen Drogendealer zu nennen... also habe ich ihr erzählt, dass ich mit Drogen gedealt hatte. Wie es dazu kam? Weil ich in einer Jugendgang war. Was ich sonst noch so angestellt hatte", dabei zuckte er am Ende mit den Schultern. "Den Rest kennst du." Seinem Gegenüber wurde schwindelig, so dass er sich ebenfalls gegen den Tisch lehnte, und erstmal keine Worte fand. Ben fuhr sich mit der Hand über den Mund, seine Augen drückten Entsetzen aus, als er merkte was er getan hatte... er hatte in einem Affekt Kevins komplettes Geheimnis aufgedeckt, was er und Semir in einer Kneipe vor einem halben Jahr geschworen hatten, gut zu behüten. "Und sie hat mich gefragt, was das Wunder gewesen wäre, das keins war.", meinte der junge Polizist noch... nicht um das Messer in Bens Brust noch einmal herum zu drehen, sondern um jetzt auch nichts aus zu lassen. Er stotterte: "Und... du hast... alles erzählt?" Ein stummes Nicken war die Antwort. "Aber warum?" Ben klang beinahe verzweifelt, als ihm die Tragweite seines Ausbruchs langsam bewusst wurde. "Ich habe keinen Bock mehr jedem etwas vorzulügen. Der weiß das von mir, der andere weiß nur das von mir und ich muss jedes Mal aufpassen, wie ich auf etwas reagiere, um mich nicht zu verraten." Und als wäre dieser Satz wichtig, wiederholte er ihn noch einmal mit Nachdruck seiner monoton klingenden Stimme, und mit festen Augenkontakt zu Ben: "Ich hatte keinen Bock mehr." Ben fuhr sich mit den Fingern durch die Augen, durch die Haare und blickte von Kevin weg, als er ein leises: "Oh Gott..." anführte. Er fühlte sich schrecklich schuldig, denn er wusste was auf Kevin jetzt zu kam.

    Für einen Moment herrschte Stille. Kevin fühlte sich in gewisser Weise erleichtert. Die Frage, wo er wohl hinging, nachdem Semir wieder zurück aus dem Urlaub kam, würde ihn wohl nicht mehr beschäftigen. Die Chefin wusste nun, wer dieser Kerl wirklich war, was er erlebt hatte und was ihn geprägt hatte. Vielleicht würde sie ihn in Zukunft, falls sie noch einmal aufeinander treffen würden, besser verstehen. Ben dagegen fand keine Worte über das, was er gerade gehört hatte. Er wusste, wie wichtig die Arbeit für Kevin war... er wusste, was es für ihn bedeutete, Polizist zu sein, Menschen zu helfen dass sie nicht das Gleiche erleiden mussten, wie er damals. Und nun schien diese Existenz gefährdet, weil Ben sich nicht unter Kontrolle hatte... weil Ben nicht der Partner war, der er sein musste. Der hinter Kevin stand, hinter der Entscheidung den Kerl zu provozieren. Er hatte sich von seinre Angst leiten lassen.
    Kevin unterbrach die Stille, als er sagte: "Mach dir keine Vorwürfe, Ben. Irgendwann wäre es wohl eh rausgekommen." Ben schüttelte den Kopf, er konnte das nicht glauben. Er hatte gehofft, dass Kevin seine Erinnerungen nicht vergessen würde, aber nach hinten schieben könne. Je länger etwas her ist, desto eher ist es vergilbt. Doch er hatte das Gegenteil bewirkt, Kevins Vergangenheit war präsenter als zuvor. "Ich soll dich nach mir zur Chefin schicken.", meinte der Mann mit den zackigen Haaren dann noch sachlicher, den Blickkontakt senkend.

    Wie in Trance ging Ben durch das Großraumbüro, und es kam ihm vor, als würden Bonrath und Hotte ihn vorwurfsvoll ansehen, was eine völlige Einbildung war. Als er sich auf den Stuhl vor den Schreibtisch der Chefin niederließ, fühlte er sich als Schüler, der von seinem Lehrer gleich die größte Standpauke seines Lebens erhalten würde. Die Chefin schloß die Tür und setzte sich an ihren Tisch, die Hände gefaltet und ihren Mitarbeiter durchdringend ansehend. Sie war einigermaßen beeindruckt, aber auch geschockt von Kevins Geständniss und seiner Lebensgeschichte. Um den heißen Brei reden wollte sie auch nicht. "Haben sie es gewusst?" Ben blickte sofort auf, wollte aber erst auf ahnungslos tun. "Gewusst... was?" Anna Engelhardt verdrehte die Augen. "Lassen sie das, Jäger.", sagte sie streng. "Ich kann mir gut vorstellen, dass sie alles über Kevin wussten. Sie brauchen es mir nicht zu bestätigen." Doch Ben tat es... er nickte und sagte leise: "Ja... ich habe es gewusst." Die Chefin fühlte sich selbst nicht gut, die ganze Sache war unangenehm für sie und die ganze Dienststelle. "Und sie haben es mir nicht gesagt, um ihn zu schützen?" Ein tonloses, klägliches Nicken ging von ihrem besten Mitarbeiter aus. "Weil sie genau wussten, was ich dann tun muss?" Der Mann blickte auf, und seine Augen waren traurig und hilflos. "Bitte Chefin, tun sie es nicht. Geben sie ihm eine Chance... wir haben doch auch schon Mist gebaut. Sie stehen hinter ihren Männern, das weiß ich." Selbst wenn die Chefin gewollte hätte... sie hätte nicht gekonnt. Sie schüttelte erst langsam den Kopf und beugte sich dann zu Ben nach vorne: "Es geht hier nicht um einen geschrotteten Dienstwagen, um einen verprügelten Zeugen oder um ein drohendes Disziplinarverfahren.", sagte sie mit durchdringender Stimme: "Hier geht es um Verbrechen. Es geht um Dealerei, es geht um schweren Einbruch, es geht um Körperverletzung und vermutlicher fahrlässiger Tötung... oder sogar Todschlag." Die Worte seiner Chefin durchdrangen Ben wie Kugeln. "Wenn er angezeigt werden würde, es noch Beweise gebe... Ihr Partner würde ins Gefängnis gehen.", sagte sie streng, und Bens Blick richtete sich auf den Boden.

    Er hörte draussen das Starten eines Motorrads. Wie auf Knopfdruck erhob er sich, und sah aus dem großen Glasfenster, das zum Parkplatz hinausging... er konnte noch sehen, wie Kevin sich mit seinem Motorrad Richtung Autobahn entfernte. "Ich kenne Herr Peters nicht. Ich weiß nicht wie er tickt, Ben. Und ich muss mich... leider Gottes, an die Gesetze halten." Ben hörte die Stimme seiner Chefin im Hintergrund, während das Motorrad auf der Autobahn immer kleiner wurde, Ben aber unfähig war, ihm zu folgen. Er blickte sich um zur Chefin, die ebenfalls stand, und ihr Gesicht drückte keine Strenge aus, es schien ihr beinahe leid zu tun... ein bisschen jedenfalls. "Ich habe die Sache an das Dezernat für innere Angelegenheiten weitergeleitet. Die wird sich damit beschäftigen. Und was das in dieser Zeit für Kevin bedeutet, wissen sie." Der Polizist musste die Zähne zusammenbeißen... übersetzt hieß das, dass Kevin suspendiert war. Im besten Fall würde die Innere nichts gegen ihn unternehmen, im schlechtesten Fall würde er nie wieder Polizist sein. Der Gedanke ließ Ben die Tränen in die Augen steigen. "Sie haben recht...", sagte der Kommissar mit erstickender Stimme in Richtung seiner Chefin. "Sie kennen Kevin nicht. Sonst würden sie wissen, was das für ihn bedeutet... und sie würden anders handeln." Die Chefin konterte auf Bens Gefühle nicht mit ihrer Autorität, sondern mit einer unangenehmen Wahrheit: "Das...", sagte sie etwas zögernd, ohne gehässig zu wirken: "...hätten sie sich im Krankenhaus ebenfalls überlegen können."
    Ohne ein weiteres Wort verließ Ben das Büro seiner Chefin, ging mit schnellen Schritten in sein eigenes Büro und versuchte mit aller Macht, seine aufkommenden Gefühle zu unterdrücken. Noch schwerer wurde es, als er auf Semirs Schreibtisch Kevins Dienstwaffe und seinen Dienstausweis vorfand.

    Playa del Inglés - 03:00 Uhr

    Die beiden Männer waren nicht euphorisch, es war eine seltsame Stimmung als sie gemeinsam am Flughafen Palma de Mallorca auf den letzten Flieger zurück auf die Insel Gran Canaria warteten und später im Flugzeug saßen, wo sie ein spätes Abendessen einnahmen. Sie sprachen nicht viel miteinander, sie spürten aber in sich eine tiefe Erleichterung, und doch auch eine gewisse Weise der Ernüchterung. Sie hatten ihr Ziel erreicht... André war sich sicher, dass seine Zukunft aufgrund der manipulierten Bilder nicht mehr gefährdet war, allerdings kämpfte er nach wie vor mit seiner Vergangenheit. Diese konnte durch nichts ausgelöscht werden, er musste versuchen damit zu leben, diese 14 Jahre vergessen, verdrängen. Er war Frank einerseits dankbar für seine Hilfe, andererseits erkaufte er sich seine Fotos in Verbindung mit einem Mord von Frank an Charlie. Hin und wieder blickte der große Mann zu seinem Sitznachbarn im Flugzeug, als gerade die Schlafbeleuchtung eingeschaltet wurde, und auch wenn sich die beiden 14 Jahre lang nicht gesehen hatten... André konnte den Blick von Semir immer noch gut deuten. Vollends zufrieden war der kleine Polizist auch nicht, und André wusste auch genau warum.

    Semir war Polizist mit Leib und Seele. Hätte er gekonnt, hätte er versucht Charlie festzunehmen, oder nach Franks Mord zumindest ihn... auch wenn er ihnen geholfen hatte. Der Kommissar kam schwer damit klar, einen Mörder einfach laufen zu lassen, auch wenn er sich immer wieder ins Gedächtnis rief, dass er hier kein Polizist sei. Er hatte sich selbst dazu entschieden, seinem Freund zu vertrauen, seinem Freund zu helfen... und das hatten sie geschafft.
    Er war erleichtert, dass André ihm die Wahrheit gesagt hatte. Er wurde tatsächlich gezwungen, er wäre erschossen worden, wenn er selbst nicht abgedrückt hätte. So glaube er seinem Ex-Partner auch, dass das Opfer kein unschuldiger Mensch war, denn er schätzte André so ein, dass er dann zumindest sich nicht kampflos in dieses Schicksal gefügt hätte. Semir war selbst in dieser Situation, als seine Töchter und seine Frau Andrea gekidnappt wurden, und der Kidnapper verlangte, Ben zu erschiessen. Er konnte es damals nicht, in einer verzweifelten Situation richtete er die Waffe sogar gegen sich selbst. Aber der Polizist würde niemals überzeugend abstreiten, dass er in solch einer verzweifelten Situation, wenn es um seine, oder die Gesundheit von seiner Familie oder seiner Freunde ging, einen Vergewaltiger zu töten. Darüber dachte er nach, während das Flugzeug langsam in den Sinkflug, die Lichter verschiedener Ortschaften zu sehen waren, die am Meer lagen und auch die Landebahn bereits zu sehen, und einige Minuten später auch zu spüren war. "Du denkst über Frank nach, nicht wahr? Dass du ihn hast laufen lassen." André konnte die Gedanken seines Freundes mühelos erraten. Semir nickte, bevor das Flugzeug anhielt. "Ich bin Polizist, André. Ich bekomm die Gedanken nicht aus dem Kopf. Aber das wichtigste ist, dass du mir die Wahrheit gesagt hast, und du jetzt nichts mehr zu befürchten hast." André lächelte dankbar mit müden Augen.

    Auf leisen Sohlen schlich Semir zu seinem Hotelzimmer. Draussen konnte er das leise Rauschen des Gartenwasserfalls hören, als er die Schlüsselkarte in den Schlitz steckte, und die Tür knarrend öffnete. Sofort ging das Licht im Zimmer an, und er beruhigte seine Frau sofort, bevor sie erschrak. "Ich bins, Schatz.", sagte er schnell, zog die Tür zu und kam zu seiner Frau ans Bett, die mit verschlafenen Augen aufrecht im Bett saß. "Wie siehst du schon wieder aus?", sagte sie ein wenig vorwurfsvoll, als sie Semirs Schrammen im Gesicht sah, was sie allerdings wenig überraschte. Trotzdem schlang sie sofort die Arme um ihren Mann, gab ihm einen Kuss und freute sich, dass er wieder da war... gesund und munter. Und anhand seines Gesichtsausdrucks konnte sie erkennen, dass die Reise offenbar nicht unerfolgreich verlief. "Wie ist es gelaufen?", fragte sie, während Semir, müde wie er war, begann seine Klamotten auszuziehen. Er wog den Kopf hin und her... normalerweise hatte er keinerlei Geheimnisse vor seiner Frau, aber er erinnerte sich gerade an diesen Gänsehaut-Moment am Strand. "Unser Geheimnis" hatten sie beide gesagt und eingeschlagen, bevor sie die Fotos verbrannt hatten. "Es stimmte... André wurde bedroht.", sagte er ein wenig knapp. "Hast du die Originalbilder gesehen?" Semir nickte: "Ja. Und André hat nichts mehr zu befürchten." Der kleine Polizist lächelte seine Frau an, die dieses Lächeln erwiederte, als er nur im Shirt und Shorts unter die dünne Bettdecke schlüpfte und sich dicht an seine Frau kuschelte. Dabei strich sie über die Kratzer an seinen Händen... "Und was habt ihr so erlebt?" "Ach, Schatz...", seufzte er dabei und grinste: "Das, was ich immer erlebe, wenn ich mal wieder jemanden retten muss." Es klang lustig und gleichzeitig ironisch, es steckte die Wahrheit dahinter, die Andrea verstand, und war doch eine Lüge weil André ihn letztendlich retten musste. Es dauerte nicht lange, bis Semir in den Armen seiner Frau erschöpft einschlief.


    Ben's Wohnung - gleiche Zeit

    Ben hatte die Bettdecke auf den Boden geworfen. Er hatte das Gefühl, dass dünne Tuch sei bleischwer auf seinem Körper, es brachte ihn zum Schwitzen obwohl sich die Luft durch das Unwetter abgekühlt hatte. Zuviele Eindrücke lagen auf diesem Tag, zuviele Bilder schwirrten durch seinen Kopf. Er lag im Bett, die Augen weit geöffnet, er drehte sich, wälzte sich und konnte einfach kein Auge zu tun. Jedesmal kamen ihm Bilder von einem kaputten Auto in den Sinn, von Metall und Blech, das sich um seinen Körper legte und ihm die Luft zum Atmen nahm.
    Dann dachte er über Walter Trauscher nach... Über die beiden unglaublich ähnlichen Schicksalsschläge, die den Mann in solch eine Wahnsinnstat getrieben hatten. Sie hatten ihn noch weiter verhört, und beinahe unter Tränen hatte auch er erzählt, was sein Bruder bereits gesagt hatte. Später gestatteten sie Gregor Trauscher seinem älteren Bruder beizustehen, während dieser gestand. Der Unfall seines Sohnes hatte in seinem Kopf einen Schalter umgelegt, ein psychischen Druck zum Entladen gebracht, der sich über die Jahre aufgebaut hatte. Seine Eigenschaft als sehr guter Schütze und guter Autofahrer kamen ihm dabei entgegen. Er wollte als Rächer auftreten, als Rächer aller Autofahrer, die durch unvorsichtige Fußgänger psychischen oder physischen Schaden genommen hatten. Die Opfer waren zusammenhangslos, es hätte jeden an den Raststätten treffen können. Sein, scheinbar zufälliges, Treffen mit Kevin erklärte er mit der Provokation durch die Medien. Später würde ihn ein Psychologe sicherlich untersuchen, und entscheiden ob Trauscher ins Gefängnis muss, oder doch in eine Psychatrie. Jedenfalls hatte das ziellose Morden ein Motiv... und letztlich doch ein Rachemotiv, was die beiden Polizisten auf der Pressekonferenz noch ausgeschlossen hatten. Und Kevin konnte sich ein wenig in den Mann hinein versetzen.
    All diese Gedanken hielten Ben wach... das Erlebnis in seinem völlig zerstörten Mercedes war dabei prägend in seinem Kopf. Morgen würde ein schwerer Tag vor ihm liegen... er wollte sich unbedingt mit Kevin aussprechen, und einen, für ihn, wichtigen Anruf tätigen.


    Krankenhaus - 6:30 Uhr

    Als die Neonbeleuchtung in Jennys Krankenzimmer aufblitzte, als die erste Krankenschwester zur ersten Visite des Tages hineinkam, staunte diese nicht schlecht. Auch Jenny, die langsam schlaftrunken die Augen öffnete konnte sich zwischen einem kurzen Schrecken und leiser Freude nicht so recht entscheiden, als die beiden Frauen auf drei zusammengeschobenen Stühlen den schlafenden Körper eines Mannes vorfanden. Kevin hatte den Kopf angelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine ausgestreckt über zwei weitere Stühle und überkreuzt. Es sah nicht nach einem erholsamen Schlaf aus, denn der Mann gerade hatte, und dass er so schon seit 4 Stunden da lag. Er hatte um halb drei, nachdem sie das Büro verließen und er noch alleine drei Stunden in einer Bar verbrachte ohne wirklich viel zu trinken, sich ins Krankenhaus aufgemacht um Jenny sofort heute morgen davon zu erzählen, dass sie den Killer geschnappt hatten. Dabei hatte er die beiden Beamten, die vor Jennys Tür postiert waren, nach Hause geschickt.
    Jenny lächelte und war gerührt darüber, dass Kevin lieber die Nacht auf unbequemen Stühlen verbrachte als zu Hause in seinem Bett. Sie stand, noch etwas wackelig, auf und tapste barfuss zu den Stühlen, während die Krankenschwester sich, ebenfalls lächelnd, verzog. Sanft rüttelte das Mädchen an Kevins Schultern, der daraufhin ebenfalls erwachte, und Jenny anblickte. "Bist du schon wieder umgezogen?", fragte sie belustigt und behielt ihre Hand, rein zufällig, auf seiner Schulter, als sich der Mann langsam aufsetzte. "Ich hatte nach gestern einfach keine Lust, alleine zu schlafen.", meinte er mit einem recht müden Lächeln und machte Jenny Platz, damit sie sich auch setzen konnte. Sie wünschten sich einen guten Morgen, und dann erzählte der Polizist alles, was sich gestern nach seinem Besuch zugetragen hatte. Dabei ließ er den Streit zwischen Ben und ihm immer noch weg, genauso wie er es vermied seine Rolle bei Bens Betreuung heraus zu stellen.

    Jenny war erstaunt über das Motiv des Mannes, und dass er Jennys Verletzung einfach so in Kauf genommen hatte um auf die Provokationen zu antworten. "Er wollte mich nicht töten?", fragte sie ungläubig. "Und was, wenn ich mich gerade in dem Moment wieder hingesetzt hätte?" Kevin zuckte mit den Schultern. "Rache macht krank, Jenny. Ich glaube nicht, dass der Mann in seinen Gedanken noch sehr rational gehandelt hat, auch wenn es von aussen den Eindruck machte." Was sich wie eine perfekte Ausbildung in Psychologie anhörte war in Wirklichkeit eigene Erfahrung von Seiten Kevin... und Jenny spürte das, als sie die Stimmlage hörte, mit der Kevin sprach und dabei in seine hellblauen Augen blickte. "Ja...", sagte sie nachdenklich und lehnte ihren Kopf an seine Schulter, als wäre es das Normalste von der Welt. Sie fühlte sich geborgen, wo sie hier doch so oft und viel alleine war, und sie war froh, dass diese potentielle Gefahr nun hinter Gitter war. "Und jetzt?", fragte sie wieder etwas vergnügter, und hoffnungsvoll setzte sie hinzu: "Bleibst du bei uns?" Kevin lächelte, aber es war ein eher bitteres Lächeln, denn er wusste was ihm wohl heute noch bevorstand: "Ich weiß es nicht..."

    Dienststelle - 20:30 Uhr

    Der Regen hatte unterwegs zur Dienststelle immer mehr nachgelassen, auch die vereinzeilten Sturmböen ließen nach. Entlang der Autobahn hatte das Unwetter einiges angerichtet, die beiden Polizisten fuhren an zwei Unfällen vorbei, die von Kollegen bereits aufgenommen wurden und einige kleinere Äste lagen auf der, mit Aquaplaning überzogenen Autobahn. Ben sah aus dem Wagen in die Landschaft und war seltsam still. Er fühlte sich, als hätte er mehrere Stunden, sogar Tage in diesem Auto festgeklemmt, und nicht nur 20 Minuten. Diese 20 Minuten kamen ihm elendig lang vor, genauso lang wie die Stunden im Sarg unter der Erde. Die Erinnerung an das tropfende Wasser, das damals seinen Sarg langsam füllte, als es unaufhörlich auf das Autowrack prasselte, verstärkte seine Angstzustände noch mehr. Auch jetzt, auf dem Rücksitz des geräumigen Jeeps empfand er kurz Unbehagen, doch die Landschaft zog an ihm vorbei, die frische abgekühlte Luft zog vom offenen Fenster auf sein Gesicht und durch die Haare, und Kevin, der eisern neben ihm am Auto festgehalten hatte, saß auch jetzt im Auto bei ihm. Erst später würde Ben bewusst werden, dass Kevins Bleiben nicht ungefährlich war wenn er hörte, dass in dem betreffenden Wald mehrere Blitze während des Gewitters eingeschlagen waren, und sein Partner in keinster Weise geschützt war. Im Gegenteil, das Blech des Autos war sogar noch prädestiniert für einen Blitzschlag, und während der Polizist im Inneren im Farradyschen Käfig gesessen hätte, hatte sich Kevin daran aussen festgehalten.

    Dem wiederrum war die Gefahr in diesem Moment nicht bewusst. Ihm war gar nichts bewusst, vergessen war für eine halbe Stunde der Streit, die verletztenden Worte von Ben in dieser Ausnahmesituation im Krankenhaus. Sie würden sich vermutlich nochmal aussprechen, vielleicht war dies auch nicht mehr nötig. Manchmal braucht man eine solche Notsituation, um Scherben schneller zu kitten, als durch eine Aussprache. Es würde zwar den Graben, der dadurch zwischen den beiden Männern entstanden ist nicht sofort auffüllen, und Kevin würde seinem Kollegen wieder etwas distanzierter begegnen als vorher, so wie er es sonst mit anderen Menschen immer hielt... aber zumindest war die gespannte Stimmung zwischen den beiden nicht mehr spürbar.
    Auch nicht, als sie an der Dienststelle hielten. "Soll ich dich nach Hause fahren?" Ben schüttelte den Kopf. "Nein. Ich wäre gerne beim Verhör dabei... ich trink nen starken Kaffee und dann geh ich wieder aufrecht." Beide gingen nass bis auf die Knochen in die Dienststelle, beide hatten natürlich vom Unfall mehrere Kratzer im Gesicht. Kevin stand die ganze Zeit im Wolkenbruch, Ben lag mehrere Minuten im Regen, als er sich erholte bis der Krankenwagen kam. Die beiden Männer gingen zuerst einmal in die Umkleidekabine zum Duschen und zogen sich Ersatzkleider an, während draussen der Himmel langsam wieder aufriss und den dunkelblauen Sommernachtshimmel erscheinen ließ. Es war ein heftiges Unwetter, und die Polizei wie Feuerwehr würden an diesem Abend noch alle Hände voll zu tun haben.

    Als die beiden Männer frisch geduscht wieder in ihr Büro kamen in trockenen Kleidern, Ben seine längeren Wuschelhaare noch halb feucht während Kevin sein Haar mit Haargel wieder zu einer Explosion geformt hatte, kam Herzberger ins Büro. Er war froh, den Sekretärinnendienst heute abend zu machen, wo es nach dem Unwetter soviel draussen zu tun gab. "Wir haben den Bruder von Herr Trauscher angerufen. Er ist der einzig lebende Verwandte. Er ist in einer Viertelstunde hier." "Danke Hotte.", meinte Ben, der sich frisch geduscht nochmal eine Stufe wohler wieder fand. Der dampfende Kaffee, den er trotz der Hitze trug, tat sein Übriges.
    Zusammen gingen Ben und Kevin in den Verhörraum, in dem Walter Trauscher, bewacht von zwei Kollegen, saß. Die Hände hatte man ihm auf den Rücken mit Handschellen geschnallt... eine Vorsichtsmaßnahme bei Schwerverbrechern, doch das erste was Ben die beiden Beamten anwies, als sie hereinkamen war, die Handschellen zu lösen. Trauscher setzte sich nun nach vorne, legte die Hände übereinander auf den Tisch, während Kevin und sein Partner sich gegenüber saßen, und zweiterer die Akte aufschlug. "Sie wissen, warum wir sie versucht haben zu verfolgen?", fragte Ben eingangs, und viel Überredungskunst war bei Trauscher gar nicht von Nöten. Er hatte bereits in der Werkstatt gewusst, dass er entlarvt wurde, und er nickte. "Ja. Es geht um die Morde auf den beiden Raststätten, ein versuchter Mord und eine schwere Körperverletzung ihrer Kollegin.", sagte er beinahe pflichtbewusst. Die beiden Polizisten sahen sich kurz an. "Sie geben diese Taten also vollumfänglich zu?", versicherte sich Ben, während Kevin ihm heute das Protokollschreiben abnahm. "Ja.", versicherte der Mörder.

    Kevin blickte von seinem Stück Papier kurz auf: "Sie wissen, dass sie das Recht auf einen Anwalt haben?" "Junger Mann, ich brauche keinen Anwalt. Ich habe diese vier Morde begangen, es tut mir nicht leid und ich spüre keine Reue." Wieder unsichere Blicke zwischen den beiden Polizisten, denen der Auftritt des Mannes ein wenig Unbehagen auslöste. "Sie haben vorhin gesagt, die Fußgänger sind die Schlechten. Die müssen weg.", begann der junge Polizist mit der Stachelfrisur ruhig, während Trauscher nickte. "Was haben sie damit gemeint. Was hat das mit den Anschlägen zu tun." "Die Fußgänger sind die größte Gefahr für Autofahrer, denn sie reagieren unberechenbar. Nicht die LKW-Fahrer, nicht die Drängler, sondern Fußgänger, Schaulustige." Eine genaue Antwort gab der Mann, der stocksteif und ruhig am Tisch saß, nicht. "Wissen sie eigentlich wieviele Unfälle auf deutschen Straßen passieren, weil Fußgänger auf die Straße laufen? Und wie oft der Autofahrer verurteilt wird, obwohl er keinerlei Regeln verletzt hat." "Glauben sie mir, Herr Trauscher... wenn das jemand bei der Polizei weiß, dann sind wir das.", meinte Ben ein wenig ironisch, doch Kevins Gesichtsausdruck blieb ernst. Das war kein Irrer, der irgendwelche Verschwörungstheorien verfolgte. Er war ein Geschädigter, ein Opfer. Ben hatte von den Sätzen, die im Regen fielen nichts mitbekommen. "Sie haben erzählt von einem Unfall... dass sie eingeklemmt waren. Was ist damals geschehen?" Für einen kurzen Blick fiel der feste Blick des Mannes auf die Tischkante, und die beiden Männer warteten gespannt auf eine Antwort, die der Mann jedoch schuldig blieb. Seine Augen wirkten müde. "Ich hab ihnen deswegen geholfen.", sagte er dann, als die Augen sich wieder in denen der Polizisten verbeißten. "Ich habe sie nicht einfach zurückgelassen." "Das haben sie schon mal gesagt. Aber sagen sie mir doch, wer sie damals zurückgelassen hat..." Kevins Frage wurde von Hotte unterbrochen, der den Kopf ins Verhörzimmer streckte. "Kevin, Ben? Der Bruder wäre da..." "Wir kommen sofort.", gab Ben zurück und erhoffte sich von Trauschers Bruder mehr Informationen. Den beiden Beamten nickte er kurz zu, sie sollen wieder auf ihn aufpassen, solange sie weg waren.

    Walter Trauschers Bruder hieß Gregor, er war 7 Jahre jünger, seinem Bruder aber wie aus dem Gesicht geschnitten. Das Haar war noch etwas voller, etwas dunkler, aber die Gesichtszüge unverkennbar. Etwas sorgenvoll blickte er die beiden Polizisten an, die jetzt in ihr Büro kamen, wo der Mann wartete. Hände wurden geschüttelt. "Der Beamte sagte mir, es ginge um meinen Bruder." Kevin bat den Mann, sich zu setzen während Ben eine Tasse Kaffee für Trauschers Bruder einschenkte. Dann begann der Polizist zu reden. "Herr Trauscher... es tut mir leid das so zu sagen, aber ihr Bruder hat nach unseren Ermittlungen mehrere Anschläge auf Fußgänger verübt, bei denen 4 Menschen ums Leben kamen und zwei schwer verletzt wurden." Gregor wich die Farbe aus dem Gesicht, er klammerte sich mit zitternden Fingern an seine Tasse fest. "W...was?"
    In Kurzform erzählte Kevin, was sein Bruder getan hatte, was sie bisher rausgefunden hatten, und was er erzählt, bzw nicht erzählt hatte. In Gregors Kopf schien sich ein Puzzle zusammen zu setzen, in dem für ihn alles logisch erschien. Dann begann er endlich zu erzählen. "Mein Bruder war begeisterter Rallye-Fahrer. Er fuhr sogar bei Weltmeisterschaften mit, er war richtig gut. Das war sein Leben." Ben und Kevin hörten aufmerksam zu, Letzterer machte sich erneut Notizen. "Vor 20 Jahren dann... ist es passiert. Drei unvorsichtige Zuschauer hatten die Piste überquert. Er ist ausgewichen und verunfallt. Man hatte seinen Wagen, in dem er eingeklemmt war erst gefunden als man merkte, dass seine Zeit fehlte." "Wie kann sowas passieren?", fragte Kevin, der sich im Rallyesport nicht besonders auskannte. "Der Wagen hing zwischen den Bäumen. Er ist der festen Überzeugung, dass ihm niemand helfen wollte. Beim Rallyefahren ist es nicht wie in der Formel 1, dass den Richtern nach einer Runde auffällt, dass jemand fehlt. Man fährt eine Strecke von A nach B und merkt erst am Ende des Tages, wer ist da und wer ist nicht da." Ben atmete tief durch, und auch seinem Partner wurde klar, dass Trauscher hier ein Opfer wurde, was vermutlich psychisch einiges kaputt gemacht hat.

    Gregor fuhr fort: "Jedenfalls hat der Unfall seine Karriere beendet. Das Bein war total zertrümmert und hatte sich bei seinen eigenen Rettungsaktionen, weil niemand gekommen ist, weiter verschoben. So war nichts mehr zu machen, um ihm den Sport zu erhalten. Er hat danach die Rallye-Werkstatt, den Verein und die Teststrecke gegründet." "Also könnte der Unfall ein Motiv sein. Hass auf Zuschauer aller Art, die die Straße gefährden.", dachte Ben laut nach während sein Partner hinzufügte: "Das würde erklären, warum es keinerlei Bezug zu, oder unter den Opfern selbst gibt." "Aber wieso jetzt? Das ist vor 20 Jahren passiert, warum dreht ihr Bruder ausgerechnet jetzt durch." Gregor Trauscher blickte auf den Schreibtisch, seine Augen waren leicht feucht. Für ihn war diese Angelegenheit alles andere als angenehm, und das spürten die beiden Beamten auch. "Vor anderthalb Monaten... sein... es hört sich so unglaublich an, aufgrund seiner Vorgeschichte." Die Stimme stockte dem Mann, er saß anders als sein Bruder gebeugt auf dem Stuhl, die Arme nebeneinander auf den Beinen, die Hände gefaltet. "Vor anderthalb Monaten kam meine Schwägerin und mein Neffe... also seine Frau und sein Sohn... bei einem Verkehrsunfall ums Leben."
    Eine unheilvolle Stille kehrte ins Büro. Kevin, der am Fensterbrett hinter Ben stand, rieb sich kurz durch die Augen, während sein Freund sich nach hinten lehnte "Davon hab ich gehört... und ich will dir gar nicht sagen, warum es zu dem Unfall kam..." Er hatte eine Gänsehaut, aber Trauscher hörte es. "Fußgänger. Ein defektes Fahrzeug auf dem Seitenstreifen, und zwei junge Kerle scherten sich nicht um den Verkehr. Einer lief ums Auto, und trat auf die Autobahn. Meine Schwägerin wich aus..." Für einen Moment war wieder nur die Uhr zu hören. "Das war der Auslöser.", sagte Kevin mit seiner monoton wirkenden Stimme und atmete, wie sein Partner, hörbar aus...

    Mallorca - 19:50 Uhr

    In einem schnellen Lauf, allerdings jeden Schritt wohl überlegt, näherten sich die beiden Freunde wieder dem Haus, von dem sie eben gekommen waren. Sie hatten zwei Schüsse vernommen, gerade nachdem André seinen Freund Semir aus seiner lebensbedrohlichen Lage befreit hatte, und dafür den Verbrecher Charlie hat laufen lassen müssen. André hatte die Hoffnung nun endgültig aufgegeben an die Fotos, hinter denen sie her waren, zu gelangen, denn Charlie würde mit dem Auto flüchten und der ehemalige Polizist hatte keinerlei Anhaltspunkte mehr auf seinen Aufenthaltsort.
    Doch jetzt hatten sie Schüsse gehört und näherten sich von hinten dem Haus. Sie schlichen, leise an der Hauswand entlang, lugten um die Ecke, André vor Semir... und Ersterer blieb erstaunt stehen, als er sah, was passiert war. So erstaunt und plötzlich, dass Semir kurz gegen seinen Ex-Partner stieß und ihn erst verständnislos anblickte, bevor er noch weit mehr überraschter sah, wer auf wen geschossen hatte... und der Polizist konnte sich erst nicht zwischen Erleichterung und Befürchtung vor weiteren Schwierigkeiten entscheiden.

    Charlie lag tot auf dem Boden, aus zwei Schusswunden sickerte frisches rotes Blut. Die Fotos hatte er nicht mehr bei sich, die hatte sich der Mann gegriffen, der jetzt eine Waffe auf André und Semir richtete. Die beiden Männer hoben mehr aus Eigenschutz die Hände, Semir sah André misstrauisch an der selbst offenbar nicht ganz begriff, aus welchen Motiven genau der Mann handelte, der sie jetzt scheinbar bedrohte... der Mann, den sie vor wenigen Stunden in Son Banya in der Hütte getroffen hatten... Frank. "Was soll das, Frank?", fragte André mit einem leicht drohenden Unterton. Die Nervosität hatte der, recht klein geratene Mann noch nicht komplett abgelegt, aber er wirkte souveräner als noch vor einigen Stunden. "Ich wollte dir nichts schuldig bleiben.", sagte er in einer eigenartigen Stimmlage, lächelnd... überlegen kalt oder doch ehrlich? Diese Frage stellte sich Semir und sah, wie André die Hände runternahm, offensichtlich konnte er das Lächeln des ihm bekannten Mannes richtig deuten. Frank kam auf die beiden Männer zu und ließ den Revolver, den sie ihm eben in der Hütte nicht mitgenommen, langsam sinken und mit der Mündung nach unten zeigen. In der anderen Hand hielt er den Umschlag, und Semir konnte im ersten Moment nicht glauben, was er tat. "Dafür, dass du mir damals den Hals gerettet hast. Ich bin euch die ganze Zeit gefolgt." André war, wie sein Freund, sprachlos. Er nahm den Umschlag entgegen und eine unglaubliche Erleichterung befiel ihn. Vor wenigen Minuten hatte er alles verloren, hatte sich bereits in einem unsicheren Leben gesehen, in dem er jeden Moment damit rechnen musste, von der internationalen oder der spanischen Polizei verhaftet zu werden, und jetzt hatte er den letzten Beweis für seine Tat in der Hand.

    Ohne Misstrauen gegenüber Frank zog er die Fotos aus dem Umschlag. Es waren nur wenige, vielleicht vier verschiedene Aufnahmen. Auf allen vier war deutlich zu sehen, dass ein dunkelhaariger Mann André eine Waffe fest in den Nacken drückte, und ihn damit zwang selbst abzudrücken. Semir warf ebenfalls einen Blick drauf und nickte. "Der Mann war auf den manipulierten Fotos nicht da.", bestätigte er. Trotzdem war ihm unbehaglich... sie mussten Frank laufen lassen... aber das hätten sie nach Son Banya ja ebenfalls getan. André blickte auf Charlie, der wohl keine Skrupel gehabt hätte, beide Freunde umzubringen, wenn er gekonnt hätte. "Wie kamst du darauf uns zu folgen? Du hast so ausgesehen, keinen Schritt aus Son Banya rauszusetzen.", fragte André mit seiner kratzigen Stimme, dabei hielt er den Umschlag mit den Fotos fest umklammert. Die Sonne, die bereits sehr tief stand schien ihm dabei in die Augen. "Es ist mir auch nicht leicht gefallen.", gab Frank zu. "Aber ich wusste auch, dass Charlie das mit den Fotos verbockt hatte. Und bis Ralf aus dem Knast kommt, wird Gras über diese Sache gewachsen sein. Man wird hier Raoul bei ihm finden und jeder wird denken, dass die beiden überfallen worden sind." Dann blickte er zu Semir im Wissen, dass der kleine Mann Polizist war: "Es sei denn, dein Freund will versuchen mich festzunehmen." Der Kommissar blickte ein wenig missbilligend, mit einem typischen Gesichtsausdruck, ebenfalls gegen die Sonne... ein Auge ein wenig geschlossen, den Mund leicht geöffnet. Seine Polizistenehre verlangte es eigentlich tatsächlich, einen Mörder, einen Verbrecher nicht einfach laufen zu lassen. Aber es ging hier einzig um Andrés Fotos... und die hatten sie. Ausserdem hatten sie keinerlei Waffen und auf Mallorca keinerlei Handhabung. Deswegen schüttelte er nur leicht den Kopf: "Wie André sagte: Ich bin hier kein Polizist, sondern ein Freund von ihm." Dieser Freund nickte Semir nun dankbar zu.

    Auch in André meldete sich das gleiche mulmige Gefühl zu Wort... doch auch er verdrängte es. Er wusste, was Frank auf dem Kerbholz hatte, und jetzt hatte er ihm geholfen... auch wenn das "wie?" Zweifel aufwarf, die doch den Erhalt der Bilder wieder geschmälert wurde. Je schneller sie diesen Ohr verließen, desto weniger würden sie vielleicht drüber nachdenken. "Wir sind quitt, Frank.", sagte er dann, mit etwas verkniffenen Ausdruck. Ein "Danke" brachte der große Mann nicht über die Lippen, doch das nahm Frank ihm ab: "Du brauchst dich nicht zu bedanken. Ich habe es damals auch nicht getan. Am besten, du lässt dich längere Zeit hier nicht mehr blicken. Dort wo du jetzt bist wird keiner von uns auftauchen." "Hoffentlich...", sagte André noch kurz und fasste Semir an der Schulter, um ihn zum gehen zu bewegen.
    Die beiden Männer stiegen in ihr Mietauto und starteten den Motor. Sie pusteten beide tief durch, beide hatten ihre Spuren dieses Abenteuers, an den Händen, im Gesicht von den Kämpfen, in den Muskeln. "Wir schaffen den letzten Flug nach Gran Canaria noch.", meinte André, sie hatten sich über die Flugzeiten bei der Ankunft am Mittag erkundigt. Semir nickte seinem Freund zu, meinte aber dann noch. "Aber vorher haben wir noch was zu erledigen?" Dabei wurde er von seinem Nebenmann etwas verwirrend angeschaut, doch der wiegelte ab: "Fahr uns zu einem einsamen Stand, aber halt vorher noch an einer Tankstelle an..."

    André tat wie ihm befohlen. An einer kleinen Tankstelle an der Mallorcinischen Landstraße kaufte Semir Streichhölzer und die kleinste Flasche Brennspiritus, die ihm Regal stand. "Was wird denn das, wenn es fertig ist?", fragte André mit ratlosem Gesichtsausdruck, auch wenn ihm etwas dämmerte. Dann lenkte er das Mietauto zu einem nicht unbedingt schönen, aber garantiert einsamen und menschenleeren Strand. Mittlerweile war es recht dunkel über der Insel, die Sterne erschienen und dieser aufregende Tag neigte sich dem Ende zu. In ihren Schuhen stapften die beiden Freunde ein Stück durch den Sand, bis Semir stehenblieb. "André, ich bin Polizist. Das weißt du. Vor Gericht würdest du anhand der Fotos freigesprochen werden, weil du gezwungen wurdest." Der große Mann schaute ein wenig fassungslos zu seinem Freund. Wollte er ihn nun vor Gericht sehen? Das Risiko einer Verurteilung eingehen? "Und was, wenn er mir nicht glaubt? Was ist, wenn ich dafür doch hinter Gitter gehe? Was ist mit Felicita, soll ich ihr erzählen, was ich getan habe?" Andrés Stimme war aufgebracht, aufgewühlt, beinahe wütend. Doch er merkte, wie schwer Semir es fiel zwischen Freundschaft und Diensterfüllung zu entscheiden... er wusste, dass sein Freund Polizist mit Leib und Seele war, und sah André ein wenig hilflos an. Der Schritt, den er eigentlich tun wollte, fiel ihm plötzlich doch unglaublich schwer, obwohl er vorher gesagt hatte, dass es ihm nur wichtig ist, dass er die Wahrheit wüsste. "Semir... warum hätte ich sollen mein Leben geben für einen Vergewaltiger? Für einen Verbrecher? Es wäre etwas anderes, wenn der Typ irgendein Unschuldiger gewesen wäre." Dem Polizisten wurde mulmig. André hatte recht, aber trotzdem hatte er selbst zwischen Leben und Tod entschieden. Tod für den anderen, Leben für sich. Er seufzte.

    Dann zog der Polizist die manipulierten Fotos aus der Tasche und warf sie in den Sand. Er hatte sich entschieden. André sah ihn an, und tat es ihm gleich... die Fotos, die unmanipulierten fielen dazu. "Es wird für immer unser Geheimnis bleiben was mit den Fotos geschehen ist?" Es war mehr eine Aussage, als eine Frage und André nickte. Zwei Männer an einem dunklen einsamen Strand. 3 Jahre hatten sie zusammengearbeitet, waren Freunde, dann glaubte Semir 14 Jahre, André sei tot. Danach dieses Wiedersehen, das erste Abenteuer, der Schock, als er die Fotos seines Freundes sah. Die Aufarbeitung der Wahrheit, und nun Semirs Entscheidung, André, der quasi selbst den Henker spielte, nun eigenhändig freizusprechen. Freizusprechen von seinem Verbrechen... seinem Freund das sorgenfreie Leben zu ermöglichen. "Unser Geheimnis?", fragte er nochmal und hielt seinem Freund die Hand über den Fotos hin. "Unser Geheimnis.", wiederholte André wie in einem Ritual, und die beiden Männer schlugen einander ein und hielten sich beide für einen Moment instinktiv ganz stark aneinander fest, und beide spürten diese besondere, innige Freundschaft, die etwas vollkommen anderes war, als die ganz enge Freundschaft zwischen Ben und Semir. Der Polizist würde es seiner Frau oder anderen wohl nie wirklich erklären können, was dieses besondere Gefühl zu André ausmachte, aber er spürte es in diesem Moment, so wie André es wiederum spürte, dass eine Freundschaft auch über die 14 Jahre nie vergangen war. Zum ersten Mal hatte er dies erfahren, als er vor seinem eigenen Grab stand.
    Nachdem sie sich losließen, ließ Semir den Brennspiritus über die Bilder laufen, sah André dann an, als das brennende Streichholz auf das Fotopapier fiel, und der Bereich um die beiden Männer vom Feuer erleuchtet wurde. Es dauerte nicht lange, und von den Bildern war, bis auf feinste Asche nichts mehr übrig...