Verhörzimmer - 4:30 Uhr
"Ben, es reicht!" Die laute und sehr bestimmte Stimme von Bens Partner Semir erfüllte in diesem Moment den Raum, kaum hatte der Polizist seinen damaligen Kollegen Kevin am Kragen gepackt und vom Stuhl gezogen. Semir war im Nebenzimmer allzeit bereit sofort einzugreifen, und als sein Partner sich von der Schweigsamkeit von Kevin soweit provozieren ließ, dass er handgreiflich wurde, sah der erfahrene Polizist den Moment gekommen. Ben blickte Kevin nochmal an und wieder nur dieser kalte feindseelige Blick. Für einen Moment schien er zu überlegen, Semirs Forderung Folge zu leisten oder zu zu schlagen, doch sein Kopf gewann wieder Oberhand über seine Gefühle, und der Griff um Kevins Jackenkragen löste sich so dass der junge Mann sich wieder hinsetzen konnte.
Semir schloß die Tür des Verhörzimmers und setzte sich nun seinerseits Kevin gegenüber, während Ben sich ein wenig in den Hintergrund gesellte. Er musste seinen Puls runterbekommen, musste versuchen mit dieser unwirklichen Situation, mit der er niemals gerechnet hatte, klar zu kommen. "Also Kevin...", begann Semir mit ruhiger Stimme, so wie er immer mit dem Mann gesprochen hatte, wenn er sich eine unsichtbare Mauer aus Schweigen und Arroganz um sich herum aufgebaut hatte. "Wir können das Spielchen jetzt weiterspielen und sofort die Kollegen von der Drogenfahndung anrufen, oder du sagst uns jetzt warum du bei diesem Kerl die Pillen gekauft hast." Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, Ben traute sich kaum zu atmen, so dicht war die Spannung in diesem Raum. Kevin schien dieses Spielchen überhaupt nichts auszumachen, er saß da, als wäre er taubstumm oder würde Semirs Sprache nicht verstehen, unter einer Käseglocke und abgeschieden von der Welt. "Bist du auf einem Undercover-Einsatz, von dem du nichts erzählen darfst? Glaubst du, wir plappern das weiter, oder was?", versuchte der erfahrene Polizist diese Möglichkeit auszuloten und hoffte so sehr, dass Kevin betreten nicken würde... doch nichts tat sich. Der Blick wanderte einige Male zu Boden, mal setzte er sich etwas anders hin, aber immer hielt er die Arme vor der Brust verschränkt - eine typische Ablehnungsgeste, eine Abwehrhaltung.
Semir seufzte auf... es war schon früher sehr schwierig zu diesem Menschen vor zu dringen, selbst wenn er dir freundlich gesinnt war. In diesem Moment war es unmöglich. Sollte Jenny es mal versuchen? Wollte Semir ihr das wirklich zumuten? Er entschied sich dagegen, und stattdessen für einen anderen Weg, als er von dem Stuhl aufstieg. "Gut, alles klar. Dann rufen wir die Jungs von der Drogenfahndung, die können euch abholen kommen. Ob die allerdings so freundlich fragen wie wir, das bezweifel ich." Nochmal blickte er den schweigenden jungen Mann an, von dem er dachte, er wäre auf dem richtigen Weg zurück zu einem halbwegs geregelten Leben in dem letzten Dreiviertel Jahr. Weg von den Drogen, raus aus dem Sumpf, wo er gewohnt hatte, zurück zu einem geregelten Polizeidienst, bei dem er sein Ziel, dass er sich damals gesetzt hatte, weiter verfolgen kann. Und nun schien er tiefer drin zu stecken als zu vor, die Innere ermittelte gegen ihn, er war suspendiert, und jetzt auch noch bei einem Drogenkauf erwischt worden. Die Möglichkeit, dass es sich um einen Undercover-Einsatz handeln würde, schätzte Semir fifty-fifty ein. Es war möglich, natürlich... aber genauso war es möglich dass Kevin jetzt einfach mal Pech hatte. Er musste ja vorher auch irgendwie an seine Mittelchen gekommen sein, und dass jemand einen anonymen Tipp geben würde, konnte er ja nicht wissen.
Als auf diese Drohung immer noch keine Reaktion kam, blieb Semir an der Tür kurz stehen, und blickte den jungen Mann nochmal an... ein kurzes Nachdenken und einen Trumpf wollte er noch spielen, um auch Kevins Reaktion zu beobachten. "Weißt du eigentlich, wie weh du Jenny getan hast." Einen normalen Menschen wäre keine Reaktion aufgefallen, doch Polizisten wie Ben und Semir entging nichts. Sie mussten diese Auffassungsaufgabe besitzen um kleinste Gesichtsbewegungen bei Verhören regestrieren zu können, und so sahen sie jetzt auch das kurze Zucken in Kevins Mundwinkel, als der arrogante Gesichtsausdruck für einen Bruchteil wich, der Blick sich zur Seite richtete und die Arme sich noch enger überkreuzten. Eine Reaktion, der sich Kevin nicht entziehen konnte, als er den Namen "Jenny" hörte und an das geschockte Gesicht dachte, dass er sah als sie ihm ins Gesicht leuchtete. Semir schmunzelte beinahe spöttisch, bevor er den Raum verließ... "Na immerhin...", meinte er und nun war er es, der Kevin zumindest ansatzweise reizte, was dieser sich jedoch nicht anmerken ließ.
Draußen vor der Tür musste Semir erstmal durchatmen, während Ben sich mit beiden Händen durch die langen Haare fuhr. "Ich weiß gar nicht was ich sagen soll...", sagte er mit betretener Stimme und sein Partner nickte zustimmend. "Ja, das ist ganz schön heftig, wie er sich verhält. Wenn er einen Einsatz hat, warum sagt er es uns nicht?" "Und selbst wenn er wirklich erwischt wurde... warum sagt er es uns nicht? Er weiß doch, dass wir auf seiner Seite stehen." Ratlosigkeit befiel die beiden Beamten, die unter dem Eindruck von Kevins feindseeligem Verhalten standen. Beide fühlten sich keinesfalls wohl zu wissen, dass da drin ihr Freund saß, der die beiden allerdings als solche gerade überhaupt nicht sah. Es tat ihnen weh, nichts tun zu können, und die Gründe für dieses seltsame Verhalten nicht zu wissen.
Beide gingen langsam den Flur zurück in Richtung Großraumbüro. Jenny stand an der großen Gläserfront mit dem Rücken zu den beiden Kommissaren und betrachtet das schmale helle Band am Horizont, das den Morgen langsam ankündigte. Hotte war ebenfalls bereits zurückgekehrte und kochte Kaffee für die kleine Mannschaft. Sofort, als Jenny durch die Spiegelung sah, dass ihre beiden Kollegen zurückkehrten, drehte sie sich um und sagte aufgeregt: "Hat er was gesagt?" Ben schüttelte resigniert den Kopf und ließ sich auf einen freien Stuhl fallen. "Er schweigt wie ein Grab. Wir wissen nicht, ob er undercover unterwegs ist, oder..." Semirs Stimme stockte kurz, als er sich auf die Lehne des Stuhles stützte, auf den Ben sich fallen gelassen hat. "Oder ob er tatsächlich Drogen kaufen wollte." Jenny blickte unsicher zwischen den Männern hin und her. "Aber... warum... warum sollte er sowas tun?", fragte sie mit zittriger Stimme, obwohl sie eine Vorahnung hatte, die sie aber nicht aussprechen wollte. Ben blickte unsicher in Semirs Richtung, ob ihres Wissensvorsprung über den Mann, der im Verhörzimmer saß, und der Jenny offenbar wichtiger war, als angenommen. "Weil Kevin bis vor einem Dreivierteljahr diese Pillen noch genommen hatte.", sagte der erfahrene Polizist mit leiser, aber bestimmter Stimme zu Jenny. Sie fühlte sich, als würde man ihr den Boden unter den Füßen wegziehen, als würde sich eine Falltür unter ihr auftun, und sie in die Tiefe hinabstürzen lassen. Beinah unwirklich schüttelte sie den Kopf, und über ihre Lippen kam nur ein kurzes "Nein.". Sie wäre so gern selbst ins Verhörzimmer marschiert, um Kevin auszufragen, aber ihre Beine gehorchten ihr gerade nicht, und sie hatte Angst vor dem, was Kevin sagte... Angst vor seiner Art. "Jetzt warte erstmal ab.... es wird sich alles aufklären.", meinte Ben und stand auf, um Jenny tröstend den Arm um die Schulter zu legen.
"Okay...", meinte Semir und nahm das Heft des Handelns wieder in die Hand. "Hotte, du rufst bei der Bereitschaft der Drogenfahndung an und meldest die Festnahme bei einem Drogendeal, und sie sollen sich die beiden hier abholen. Ben, du schaust mal in der Polizeidatei für Undercover-Einsätze nach, ob Kevin da irgendwo drin steht. Und ich klingel den Leiter der Inneren Abteilung aus dem Bett, um mal nachzuhören, ob Kevin immer noch suspendiert ist." Semir hatte in dieser Nacht die Leitung über die Dienststelle, da Anna Engelhardt für Nachteinsätze nicht mehr alarmiert werden wollte, ausser bei besonderen Vorkommnissen.
Semir drehte sich auf dem Stuhl zum Telefon, als Hotte ebenfalls sich zu seinem Telefon bewegte und Ben sich an den Computer von Andrea setzte. Jenny folgte ihm sofort.
Mit schnellen Klicken hatte Semir die Handynummer des Leiters der inneren Abteilung gefunden. Der würde nicht froh sein, wenn man ihn um 5 Uhr aus dem Bett klingeln wollte, aber es war nunmal nötig. Es dauerte auch bis zum 5ten Klingeln, als die verschlafene Stimme erklang. "Guten Morgen. Gerkhan, Autobahnpolizei, entschuldigen sie die frühe Störung.", meldete sich Semir höflich. "Ich hoffe für sie, dass ihr Anliegen wichtig ist.", knurrte die Stimme auf der Gegenseite. "Ich befürchte es zumindest.", meinte der erfahrene Polizist. "Ich müsste wissen, ob der Beamte Kevin Peters nach wie vor suspendiert ist von ihrer Seite, und ob sie immer noch in den Ermittlungen stecken, diesbezüglich." Semir konnte das Geraschel der Bettdecke und das Tapsen von nackten Füßen auf Fliesen vernehmen, scheinbar hielt der Leiter das Handy nicht am Ohr, sondern ließ es in der Hand baumeln, bis er zu seinem Schreibtisch fand und anscheinend seinen Dienstlaptop hochfuhr. "Und das hätte keine Zeit gehabt bis heute morgen um 8 Uhr... in drei Stunden?", fragte die ungehaltene Stimme aus dem Telefon. "Leider nein. Wir bräuchten die Information sofort." "Und warum, wenn ich fragen darf?" Semir fuhr sich mit dem Finger über die Stirn... für eine Ausrede bräuchte er zuviel Bedenkzeit, also sagte er die Wahrheit... auch ein wenig aus Wut über Kevins Verhalten. "Wir haben Herr Peters während einer Strafhandlung aufgegriffen und wollen wissen ob wir ihn wie einen Undercover-Polizisten oder einen Straftäter behandeln sollen." Schnelle Klickgeräusche ließen den Polizisten vermuten, dass der Leiter der inneren Abteilung bereits auf der Suche war. "Laut meinem Sachstand.", sagte er dann irgendwann... "Wird gegen Herrn Peters weiter ermittelt, allerdings stehen die Ermittlungen vor dem Abschluß. Trotzdem ist die Suspendierung nach wie vor. Und ein suspendierter Kollege darf NICHT zu Undercover-Einsätzen herangezogen werden.", zerstörte der Mann Semirs Hoffnung. Der Niederschlag stand dem Beamten ins Gesicht geschrieben. "Es sieht also so aus, als hätten wir demnächst im Falle Peters doch noch mehr zu ermitteln. Seinen damaligen Taten hätten wir nämlich wenig bis nichts nachweisen können. Das können sie ihm ausrichten, um ihm den Abend zu versüßen." Semir zog schnippisch die Mundwinkel hoch. "Vielen Dank.", meinte er halb ehrlich, halb ironisch und wünschte noch eine gute Restnacht.
Als der Hörer auf der Gabel landete, sagte Hotte sofort, dass die Drogenfahnder in einer halben Stunde hier sein würden, und sie die Verdächtigen nicht vernehmen sollten. "Warum denn das nicht?", fragte der kurzfristige Dienststellenleiter. "Ach, du kennst doch die Drogis. Die lassen sich nicht gern reinreden.", winkte Hotte nur ab. Semir schaute zu Ben und Jenny... Jenny gefiel ihm gar nicht. Sie war blass um die Nase, er konnte erkennen wie ihre Hände ein wenig zitterten. Ihr ging die Sache sehr nahe, und umso wütender wurde Semir auf seinen Freund Kevin, der dieses Spiel mit ihnen spielte, statt klaren Tisch zu machen. Und dass er tatsächlich eine Straftat begangen hatte wurde immer deutlicher als Ben niedergeschlagen sagte: "Momentan gibt es keinen Undercover-Einsatz bei den Drogenfahnder. Und Kevins Akte ist nach wie vor verschlossen, weil er suspendiert ist." Semir nickte und bestätigte dies, in dem er das Telefonat mit dem Leiter der inneren Abteilung wiedergab. "Dann steckt Kevin ziemlich in der Scheisse."
Eine halbe Stunde später kamen vier Kollegen von der Drogenfahndung. Es wurden Hände geschüttelt und Semir erkannte Thomas Bienert, der ungefähr in seinem Alter war, und einen ähnlich erfolgreichen Werdegang vorzuweisen hatte, wie Semir. Er war Leiter der Dienststelle "Organisierte Kriminalität u. Drogenfahndung", war oftmals in der Zeitung aufgrund von Fahndungserfolgen, war Hauptverantwortlicher für das Ausheben eines ganzen Drogenschmuggelrings, in denen auch Frankreich, Luxembourg und Belgien drinhingen. Bienert war bei der gesamten Polizei hochgeschätzt, war auch äusserlich eine respektvolle Erscheinung, recht groß und für sein Alter durchtrainiert, hatte silber-melierte Haare und einen, eigentlich gar nicht mehr so modernen Schnauzbart. Er und Semir hatten öfters mal zusammengearbeitet, sie kannten und mochten sich, und Semir hatte ihn als wirklich angenehmen Kerl in Erinnerung. "Was habt ihr denn für uns?", fragte er zuerst und ließ sich einen Kaffee einschenken. "Wir hatten einen anonymen Hinweis bekommen. Zu knapp, um euch zu alarmieren.", nahm Semir gleich die nächste Frage vorweg. "Auf dem Rastplatz kam es zu einem Drogengeschäft. Die Menge ist nicht besonders, aber die Festgenommenen dafür eher." Bienert war völlig aufmerksam, als Semir fortfuhr: "Einmal haben wir da Christian Trechsel, nach unseren Erfahrungen nicht unbekannt im Drogenmilieu...", was Bienert sofort nickend bestätigte... "und dann Kevin Peters... ein Polizist." Ben war ein wenig erstaunt um die Offenheit von Semir gegenüber dem Beamten, aber er konnte es auch verstehen. Kevin zeigte keinerlei Vertrauen, warum sollten die beiden Polizisten ihren Kollegen noch mehr in Schutz nehmen. "Ein Polizist?", fragte Bienert erstaunt, und sein Gegenüber nickte. "Er hat mit uns gearbeitet, wurde aber suspenidert... aufgrund von... von Drogengeschichten aus seiner Jugend, die jetzt erst rausgekommen sind." Der erfahrene Drogenfahnder schaute kurz in die Runde. "Schuster, bleib bei deinen Leisten.", murmelte er und Jenny, die stumm und beinahe verschüchtert bei Hotte saß, sprang auf. "Was sagen sie da?", fuhr sie Bienert an, der überrascht aufblickte, doch Hotte hatte bereits den Arm um Jenny gelegt, und sie wieder auf den Stuhl gedrückt.
"Haben die Verdächtigen etwas gesagt?", fragte Bienert dann in Semirs Richtung. "Ihr habt doch gesagt, wir sollen sie nicht vernehmen." Der Drogenfahnder schmunzelte. "Ach Semir... ich kenne dich doch.", was auch Semir zum Schmunzeln brachte. "Okay, also Kevin hat nichts gesagt. Wir hatten erst gedacht, er wäre im Undercover-Einsatz... aber naja." "Soweit ich weiß dürfen suspendierte Kollegen in keinen Undercover-Einsatz", bestätigte nun auch der Mann neben Semir, der wiederrum nickte. "Den anderen haben wir nicht verhört." "Okay... dann packen wir die beiden mal ein und unterhalten uns mit ihnen auf dem Zentralrevier.", sagte er und deutete seinen drei Kollegen an, die beiden holen zu gehen.
Es war wie das Durchschreiten eines Spaliers zum Galgen, so kam es den Männern von Cobra 11 vor. Semir, Ben, Hotte, Jenny und die restlichen Kollegen, die bei dem Einsatz dabei waren, saßen im Großraumbüro und blickten raus auf den Flur, als zuerst Trechsel in Handschellen von zwei Männern abgeführt wurde, und dahinter folgte sofort Kevin... ebenfalls die Hände auf dem Rücken, Bienert und ein Kollege dicht hinter ihm. Der Drogenfahnder nickte Semir dankbar zu, doch die Gedanken des Autobahnpolizisten waren einzig bei diesem Mann, mit dem kalten Blick, der einfach geradeaus sah. Nur ein mal, einen kurzen Moment drehte sich der Kopf und ein Blick streifte Jenny, die dicht bei Hotte stand und aus deren Augen eine unendliche Traurigkeit ausging. Diese Traurigkeit traf Kevin wie ein Stich, denn der Wirkung dieses Blickes konnte er sich in diesem Moment, anders als denen von Ben und Semir, nicht entziehen.