Krankenhaus - 9:15 Uhr
Ben ließ das Blaulicht am Auto an. Er hatte zwar keine dienstliche Veranlassung, sondern wollte lediglich so schnell wie möglich zu Jenny ins Krankenhaus, aber in so einem Falle legte er die Vorschriften gerne mal etwas großzügiger aus. Nur auf dem Krankenhausparkplatz zügelte er das Tempo ein wenig, jetzt noch einen Rollstuhlfahrer über den Haufen zu fahren wäre das Letzte, was er gebrauchen könnte.
Im Laufschritt erreichte er den Empfang, die freundliche Dame dort verwies ihn sofort an die OP-Sääle, und Ben wurde mulmig. Man musste Jenny operieren, und er hatte ein beklemmendes Gefühl im Magen... es war pure Angst. Angst vor schlechten Nachrichten, Angst vor einer schlimmen Mitteilung. Der Weg zum OP kam ihm quälend lang vor, er schritt absichtlich am offenen Aufzug vorbei ins Treppenhaus, stieg ein Stockwerk nach oben und folgte der Beschilderung. Er rannte nicht, sonst wäre er von den umherlaufenden Krankenschwestern wohl ermahnt worden, er ging mit schnellen Schritten und spürte wie seine Sorge proportional mit seinem Zorn auf Kevin wuchs.
Als er um die Ecke bog, sah er ihn bereits. Er lehnte an der Wand, hatte einen Fuß auf dem Boden, den anderen gegen die gleiche Wand gestellt, gegen die er lehnte. Die Arme hatte er verschränkt, er stand nur im Shirt da, weil er sein Hemd als Blutstiller missbraucht hatte... doch auch das Shirt hatte Spuren von dem schrecklichen Ereignis. Er blickte auf die Wand gegenüber von ihm, der Blick verloren, die Miene unbewegt ernst. Ben verlangsamte seinen Schritt, er versuchte aus Kevins Gesicht irgendetwas herauszulesen zu Jennys Zustand, doch es war unergründlich. Er schluckte den ersten provokanten Satz herunter, versuchte seinen Ärger erst mal zu unterdrücken und machte nur eine fragende Kopfbewegung in Richtung des jungen Polizisten. "Operieren noch." Jedes unnötige Wort vermied Kevin, und er antwortete ohne den Kopf auch nur geringfügig zu Ben zu drehen. War das jetzt noch resultierend aus dem Streit, den sie vor einigen Stunden hatten, oder war der Polizist einfach in eine Schockstarre verfallen. Ben wusste ja, oder er konnte es erahnen, dass sein Partner und die junge Kollegin sich näher gekommen waren. Ohne ersichtlichen Grund hatte Jenny sicherlich nicht darauf gedrängt, ihn zum Essen einzuladen. Und es machte Ben umso wütender, dass Kevin auch die junge Beamtin dieser Gefahr aussetzte, und nicht darüber nachdachte, was alles passieren kann, als sie sich zu dem Schritt entschlossen hatten, den Attentäter öffentlich zu provozieren. In seiner Wut übersah der Kommissar allerdings, dass er zwar nicht dafür gestimmt hat, aber auch eben nicht energischer dagegen. Er wollte einfach nicht den Chef, der er nicht war, raushängen lassen und auf seiner Meinung beharren. "Haben sie sonst noch was gesagt?", fragte er, und erntete nur ein abwesender, stummes Kopfschütteln.
Ben ließ sich auf einen einsamen Stuhl, der auf der gegenüberliegenden Wand stand, nieder und wippte nervös mit den Beinen. Hin und wieder lief eine Krankenschwester oder ein Arzt vorbei, und jedesmal hofften beide Polizisten, dass sie endlich gute Nachrichten hatten. Dabei beobachtete der Polizist mit dem Wuschelkopf seinen Partner, und er konnte seine Wut nicht mehr in Zaum halten. "Wenn wir nur einen Menschen vor diesem Killer retten können, weil er auf uns schießt, statt auf einen Unschuldigen, dann hat sich die Gefahr gelohnt.", sagte Ben in den Flur, als sie für einen Moment alleine waren. Beide Männer blickten sich erst nicht an, als hätten sie nichts miteinander zu tun und Ben würde Selbstgespräche halten. Doch Kevin hörte den Satz, er spürte ihn und er kannte ihn... er hatte ihn selbst vor einer Stunde gesagt. Jetzt stand er hier und bangte um das Leben einer Kollegin, die er sehr mochte. Es versuchte innerlich verzweifelt, sich nicht dafür die Schuld zu geben. Es hätte jeden treffen können... es hätte auch mich treffen können... wir waren uns einig, es so zu machen. Doch tatsächlich spürte er, hatte er das Gefühl, dass sich jeder gegen ihn wendete. Er hatte das Gefühl, als würde die Chefin im Büro über ihn wüten, als würde Bonrath und Hotte den Kopf schütteln über seine Entscheidung. "Hat es sich denn jetzt gelohnt?", fragte Ben ein wenig schärfer und richtete den Blick auf Kevin, der geradeaus blickte... ohne Ziel, ohne festen Halt.
Ben stand von seinem Stuhl auf, tigerte ein wenig durch den Flur. Kevins Schweigen schien ihn zu provozieren, als er seitlich von seinem Kollegen stehenblieb. "Jetzt ist es zu spät zu schweigen, Kevin. Warum kannst du einen Fehler nicht einfach eingestehen?", sagte er lauter, und der nackte Flur gab seine Worte wie in einem Hall ein wenig wieder. Langsam, wie in Zeitlupe schaute Kevin zu dem Mann herüber, der dicht neben ihm stand, und aus seinen blauen Augen sprach eine Kälte, die Ben innerlich, nicht äusserlich, ein wenig erschreckte. Er sah ihn nur an, als würde er warten ob noch ein Satz von Ben kam, seine Arme waren immer noch verschränkt und nichts an seinem Körper rührte sich.
Ben dagegen konnte nicht lange still stehen, wieder wandte er sich ab und ging ein Stück im Flur entlang. Endlich fand Kevin die Stimme wieder, als er mit seiner monoton klingende Stimmlage sagte: "Wir haben vorher gewusst, dass es ein Risiko ist. Es hätte jeden treffen können." Nach dem Satz fuhr sein Kollege herum, kam wieder auf Kevin zu und rief: "Es HAT aber nicht 'jeden' getroffen, sondern Jenny. Die eigentlich, wie Bonrath und Hotte mit dem Fall direkt nichts zu tun haben." Ben kam nun in Rage, die Sorge um Jenny und die Angst um sein eigenes Leben ließ ihn nichts mehr objektiv betrachten. "Aber dass es auch Unbeteiligte treffen kann, war dir egal, als du dich bei anderen zu profilieren versucht hast.", warf er ihm vor, und jetzt löste Kevin die Verschränkung in seinen Armen, ging einen Schritt von der Mauer weg, und stellte sich Ben direkt gegenüber. Hätte man einen Gradmesser um eine Temperatur zu messen, was die Stimmung anging, so würde man den Minusrekord von -273 Grad weit übertreffen, und beide Männer waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie das "Klack-Klack" von Frauenschuhen auf dem Gang nicht hören konnten. "Meinst du das wirklich ernst?", fragte Kevin in ruhigem Ton, und Ben war sich nicht sicher ob es drohend oder verletzt klang. Auch er bemerkte nicht, dass sich Anna Engelhardt von hinten näherte, als er seinem Gegenüber laut an den Kopf warf: "Ich hoffe wirklich, dass du als Drogendealer besser warst als als Bulle." In dem Moment sah Kevin für einen Moment an Ben vorbei, konnte das erstaunte Gesicht der Chefin erkennen und war geschockt, was Ben ihm gerade an den Kopf geworfen hatte. Und er wusste in diesem Moment, dass die Chefin es hören konnte, und so war nun eh alles egal, als er seinen Blick auf Ben zurückrichtete. "Kein Wunder, dass du deine...", begann der nun, und stoppte gerade noch so... er war über seine Gedanken selbst geschockt. Das hatte er gerade nicht wirklich gedacht, geschweige denn ausgesprochen, dachte er für sich und spürte, dass er gerade völlig die Kontrolle verloren hatte.
Die verlor jetzt auch Kevin, der sich in Gedanken den Satz selbst beenden konnte, und mit beiden Händen Ben's Kragen griff, der sich für einen Moment nicht mal wehrte. "Dass ich was?", zischte er mit drohendem Unterton. Jetzt griff die Chefin dann doch ein, nachdem sie den ersten Schrecken erstmal verdauen musste, und kam dicht an die Männer heran: "ES REICHT!", sagte sie nicht besonders laut aber mit deutlichem Nachdruck und ihrer natürlichen Autorität. Sie musste nicht mal Hand anlegen, den Kevin öffnete seine Hände um Bens Hemd nach einiger Verzögerung, und Ben selbst hatte beinahe schon einen geschockten Gesichtsausdruck, als ihm klar war, was er Kevin gerade alles an den Kopf geworfen hatte. Der wiederum wandte sich von seinem Partner ab und versuchte sein schlagendes Herz zu beruhigen, sein Zittern in den Händen unter Kontrolle zu bekommen.
Die Chefin wollte gerade zur Standpauke ansetzen, als die Türen des OPs sich öffneten, und einige Ärzte das Bett herausschoben, auf dem Jenny lag. Sie war zugedeckt, hatte die Augen geschlossen und einen zweifachen Schlauch in der Nase. Ihre langen Haare lagen, wie frisch gekämmt um ihren Kopf, und sie war etwas bleich im die Nasenspitze. Alle drei Polizisten blickten stumm auf ihre Kollegin, die von Krankenschwestern geschoben wurde und die sofort abwiegelten, dass der Arzt sich gleich mit ihnen unterhalten würde. Kevins Gesichtsausdruck war leer, als er auf Jenny blickte, und sich an den gestrigen Abend zurückerinnerte, Ben fuhr sich beinahe verzweifelt durch die Haare. Beide Polizisten nahmen die Stimme ihrer Chefin war, ohne sie anzublicken. "Ihre einzige Chance, das Fadenkreuz von der gesamten Dienststelle zu bekommen, ist diesen Feigling endlich zu schnappen.", sagte sie mit strenger Stimme. "Und wenn sie es schon nicht für sich selbst tun... tun sie es für Jenny." Danach folgte sie den Krankenschwestern, während die beiden Polizisten stumm zurückblieben.