Dienststelle - 08:00 Uhr
"Mensch Dieter... was soll ich denn damit?" Hotte Herzberger sah seinen Streifenkollegen Bonrath vorwurfsvoll an, hob die Arme leicht nach oben und ließ sie dann wieder fallen. Er konnte sich winden und zwängen, wie er wollte, konnte die Luft anhalten... es nutzte nichts. "Wem soll denn diese blöde Weste passen? Du weißt doch, dass ich XXL brauche." Bonrath wiederrum rechtfertigte sich: "Ich hab dem Kollegen an der Kleiderkammer auch XXL gesagt." Der lange Polizist nahm den Karton, aus dem Hotte seine Weste herausgenommen hatte, und tippte mit dem Finger auf sein geklebtes Schild. "Siehst du. X-X-L!" Sein dicker Kollege zwängte sich umständlich aus der Weste wieder heraus. "Also das ist definitiv M.", sagte er vorwurfsvoll und hielt Bonrath das Schildchen der Weste unter die Nase. "Die passt vielleicht Jenny, aber nicht mir." Dabei lächelte und zwinkerte er zu der jungen Kollegin herrüber, die das Geplänkel zwischen den beiden Männern amüsiert beobachtete, aber mit ihrem Lächeln leicht verträumt wirkte. Bonrath hatte alle Hände voll zu tun, nach weiteren Schachteln zu suchen. "Vielleicht haben die was vertauscht, und in einer M-Packung ist die XXL. Ach Hotte, würdest du nicht immer soviel Schnitzel essen, würde dir auch M passen."
Mitten in der Diskussion kam Kevin in das Großraumbüro. "Guten Morgen.", sagte er lächelnd in Richtung Jenny, die ebenfalls mit einem Lächeln antwortete. An Bonraths Tisch, auf dem sich Schusssichere Westen und Kartons stapelten blieb er stehen. "Macht ihr ne Modenschau?", fragte er mit einem Blick auf das heillose Chaos vor sich. Während Herzberger schmunzelte, wirkte sein langer Kollege zusehends gestreßt. "Ja, was kann ich dafür wenn die in der Kleiderkammer die falschen Westen einpacken. Och Menschenskind, zieh halt nen dickeren Pulli an, dann passiert auch nix.", sagte der langjährige Streifenpolizist und ließ seine lange Gestalt resiginierend auf den Drehstuhl plumpsen. Kevin verschwand gerade ins Büro, als ein gähnender Ben zur Tür hereinkam, und ebenfalls in den Raum grüßte. "Oh cool. Modenschau?", fragte er interessiert bei Hotte und Bonrath nach. "Du willst uns doch veräppeln, oder?" fragte Zweitere, langsam die Geduld verlierend als Ben den exakten Scherz sagte, wie Kevin zuvor, unabhängig voneinander. "Na komm Dieter. Wir fahren zur Kleiderkammer und dann probieren wir die Westen dort an. Und so lange...", er nahm sich zwei Westen der Größe M und schob sich die eine vorne unters Hemd und vor seinen massigen Oberkörper, vollführte das auch mit der zweiten Weste von hinten und stopfte das Hemd wieder in die Hose "...muss das reichen."
Nachdem die beiden Kollegen aufstanden und die Dienststelle verließen trat auch Ben zu Kevin ins Büro. "Morgen.", sagte er mit einem weiteren Gähnen und Kevin konnte deutlich die dunklen Augenringe im Gesicht seines Partners erkennen. "Großer Gott...", war dessen Antwort, versehen mit einem Grinsen. "Kaffee?" "Bloß nicht.", winkte Ben sofort ab, sonst würde der Teufelskreis von vorne losgehen. "Wie war dein Essen?", fragte der Polizist mit dem Wuschelkopf und ließ sich auf den Drehstuhl fallen, wo er sich die Augen rieb. "Nicht so anstrengend wie deine Nacht scheinbar." Der junge Mann kramte drei DIN A4-Blätter aus seiner Hosentasche und warf sie, zusammengefaltet, herüber zu Kevin. Der nahm die Blätter, faltete sie auf, und fand darauf gekritzelte Noten und Gitarrengriffe. "Kannste mal spielen, wenn du Lust hast.", war die Antwort des Absenders. Der Kommissar ließ seine Augen über die Blätter streifen und konnte die Melodie in keinster Weise erkennen... von keinem der drei Stücke. "Was ist das?", fragte er dann verständnislos. "Hab ich heute Nacht geschrieben." Kevin ließ die Blätter sinken und schaute auf, auf seinen Partner gegenüber. "Hast du nachts nichts Besseres zu tun? Schlafen zum Beispiel?", fragte er verständnislos. "Pfff. Mach das mal, wenn du das Gefühl hast, dass dich irgendein Irrer beobachtet." Ben klang übellaunig, wer sollte es ihm verdenken nach einer, beinahe durchgemachten Nacht... sieht man von anderthalb Stunden Dämmerschlaf mal ab. "Der es natürlich nur auf dich alleine abgesehen hat.", meinte Kevin sarkastisch um zu erinnern, dass Ben nicht der Einzige war, der vermutlich in der Schusslinie stand. Mehr als einen kurzen, eher verachtenden Blick hatte Ben für seinen Partner in diesem Moment nicht übrig.
Kevin griff die Zeitung, die er heute morgen gekauft hatte und warf sie zu seinem Kollegen herüber. "Seite 3." Der schlug die Zeitung auf Seite 3 auf und blickte auf ein großflächiges Foto der Pressekonferenz, mit ihm und Kevin im Mittelpunkt. Die Chefin war nur zur Hälfte zu sehen und blickte gerade nicht in die Kamera. Selbst die Namen waren abgedruckt. "Fehlt nur noch unsere Adresse und wo wir zu Mittagessen gehen.", murrte er und setzte hinzu: "Das war ne scheiss Idee." Kevin blickte auf und seine Miene fror ein. Er beharrte niemals darauf, dass seine Ideen ausnahmslos gut waren, aber er konnte es nicht leiden, wenn jemand seine Idee als "scheisse" bezeichnet, wo er tags davor noch nicht die Stimme dagegen erhoben hat. "Komisch dass du gestern vor der Chefin den Mund nicht aufgebekommen hast, um sie als "Scheisse" zu bezeichnen.", meinte er angriffslustig und verkniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Ben fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die heute zersauster wirkten als sonst. Er war müde, er war schlecht gelaunt und das war eine schlechte Kombination um nun hitzige Diskussionen zu führen. "Ich hab dir gesagt, dass ich es für zu riskant halte." Bens Stimme wurde schon etwas lauter und aufgebrachter. "Riskant ist es auch mit 200 über die Autobahn zu fahren. Und? Machst du auch jeden Tag. Also was willst du denn jetzt von mir?" "Mann, ich hab die ganze Nacht nicht gepennt, ich dreh mich bei jedem Auto, das länger als zwei Abzweigungen hinter mir fährt, um seit gestern. Es war einfach ne blöde Idee, uns einer solchen Gefahr auszusetzen." "Ich will dir mal was sagen, mein Freund.", sagte Kevin nun auch aufgebracht, beinahe drohend und dabei erhob er sich von seinem Schreibtisch. Mittlerweile war die Auseinandersetzung so laut, dass Jenny von draussen durch die Glasscheiben ins Büro sah, und eine etwas sorgenvolle Miene aufgesetzt hatte. "Ich bin Polizist geworden, damit so wenig Menschen wie möglich das Drama mitmachen müssen, wenn ein geliebter Mensch umgebracht wurde. Wenn wir nur einen Menschen, nur EINEN MENSCHEN vor diesem Killer retten können, weil er auf uns schießt, statt auf einen Unschuldigen, dann hat sich die Gefahr gelohnt." Ben wollte sich nicht unterlegen fühlen, und erhob sich ebenfalls von seinem Schreibtisch und trat seinem Partner entgegen... auch wenn von Partnerschaft plötzlich nichts mehr zu spüren war. "Ich weiß selbst, dass man in unserem Job Risiken eingehen muss. Aber wenn ich über die Autobahn fahre, kann ich das Risiko halbwegs kontrollieren. Und dieses Risiko kann ich eben überhaupt GAR NICHT kontrollieren!" Geräuschvoll zog Kevin die Luft ein, bevor er erneut antwortete. Es regte ihn unglaublich auf, dass Ben auf einmal, weil er eine schlechte Nacht hatte, das Risiko plötzlich größer redete, als es war, und vorher nichts dagegen gesagt hatte. "Weißt du was? Dann nimm dir Urlaub und sperr dich zu Hause ein. Dann hast du absolut kalkuliertes Risiko." Dann drehte er sich um, nahm eine seiner Zigaretten vom Schreibtisch und ging zwei Schritte zur Tür. "Und jetzt kannst du mich mal", warf er Ben noch vor die Füße. "Du haust jetzt nicht ab!", rief der in dem Moment als die Tür kurz offenstand, dass es das komplette Großraumbüro hören konnte, und die Köpfe zu Kevin drehte. Ben sah sich in einer Führungsposition, da Semir nicht da war, aber er fühlte sich gerade gar nicht in solcher. Kevin jedenfalls ignorierte das Gehörte und verschwand im Flur, während sein Partner keine Anstalten machte ihm hinterher zu gehen und stattdessen die Glastür mit Wucht zu feuerte.